Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Über frühreife Kinder.

Alle kleinen Kinder scheinen heutzutage die lästige und naseweise Angewohnheit zu haben, bei jeder Gelegenheit »schlaue« Äußerungen zu thun, besonders in Zeiten, da sie ganz still schweigen sollten. Nach den Witzworten dieser Art zu urteilen, welche im Durchschnitt veröffentlicht werden, müssen die Kinder der jüngsten Generation förmlich blödsinnig sein. Und ihre Eltern stehen ihnen an Dummheit sicherlich nur wenig nach, denn durch sie werden meist jene kindischen Albernheiten – die Geistesblitze, wie sie uns aus den Zeitschriften entgegenleuchten – zur allgemeinen Kenntnis gebracht.

Man argwöhnt vielleicht, daß Neid oder Groll aus mir spricht, wenn ich mich hierüber so sehr ereifere; ich muß auch wirklich gestehen, daß es mir ärgerlich ist zu hören, wie viele gescheite Kinder es heute auf der Welt giebt, weil es mich daran erinnert, wie selten ich etwas Witziges gesagt habe, solange ich noch klein war. Zwei- oder dreimal habe ich es versucht, aber es fand keinen Anklang. Meine Angehörigen erwarteten nicht, geistreiche Bemerkungen von mir zu hören, überraschte ich sie damit, so wurde ich entweder vorlaut gescholten, oder ich bekam Schläge. Mich überläuft eine Gänsehaut und das Blut erstarrt mir in den Adern, wenn ich bedenke, was wohl aus mir geworden wäre, hätte ich mich unterstanden, in Gegenwart meines Vaters einige von den schlauen Äußerungen zu thun, welche man in unserer Zeit von vierjährigen Kindern erzählt. Mir einfach bei lebendigem Leibe die Haut über die Ohren zu ziehen, wäre ihm einem solchen Sünder gegenüber als verbrecherische Milde und Verletzung seiner Pflicht erschienen. Dem strengen ernsten Mann war alles vorlaute Wesen ein Greuel; hätte er von mir solche gescheite Dinge gehört, wie sie andere Kinder sagen, es wäre mein Tod gewesen. Ja, er würde mich sicherlich umgebracht haben, falls nämlich noch Zeit dazu gewesen wäre. Aber das ist zweifelhaft, denn ich hätte natürlich aus Vorsicht zuerst eine Dosis Strychnin genommen und dann meine witzige Äußerung gethan.

Über eine Bemerkung, die ich in meiner frühsten Kindheit machte – es war nicht einmal ein Witzwort – wäre es beinahe zu einem ernstlichen Zerwürfnis zwischen meinem Vater und mir gekommen. Das trug sich nämlich so zu: Eines Tages unterhielten sich meine Eltern mit Onkel, Tante und mehreren Freunden darüber, welchen Namen man mir geben solle. Ich lag da, beschäftigt verschiedene Gummiringe zu probieren, um die besten auszuwählen, weil ich es satt hatte, mir die kommenden Zähnchen an anderer Leute Fingern durchzubeißen, und nach einem Gegenstand trachtete, mit dessen Hilfe ich dies Geschäft rasch zu Ende führen und dann etwas neues beginnen könne. Man weiß ja, was für eine Quälerei es ist, sich die Zähne am Finger der Amme durchzubeißen, oder welche Mühe man hat und wie man sich den Rücken fast zerbricht, wenn man die eigene große Zehe dazu benützen will. Wer hat nicht dabei schon die Geduld verloren und seine Zähne ins Pfefferland gewünscht, noch ehe ihre ersten Spitzchen durchguckten? – Mir ist's als wäre das alles erst gestern geschehen.

Doch, ich will nicht weiter abschweifen. Also – ich lag da und wählte mir meine Gummiringe; als dabei mein Blick zufällig die Uhr traf, fiel mir ein, daß ich in einer Stunde und fünfundzwanzig Minuten gerade zwei Wochen alt sein würde. Ach, wie wenig hatte ich noch gethan, um die Wohlthaten zu verdienen, mit denen man mich so verschwenderisch überhäufte!

Jetzt hörte ich, wie der Vater sagte: »Abraham ist ein guter Name; mein Großvater hieß Abraham.«

»Ja wohl,« erwiderte die Mutter, »mir ist Abraham für einen seiner Zunamen ganz recht.«

Ich wollte auch meine Meinung abgeben: »Abraham gefällt dem Unterzeichneten,« sagte ich.

Da runzelte der Vater die Stirn, aber meine Mutter machte ein ganz vergnügtes Gesicht und die Tante rief: »Hört nur den lieben kleinen Schelm!«

»Isaak ist ein guter Name,« fuhr mein Vater fort, »auch Jakob könnten wir wählen.«

»Gewiß,« stimmte die Mutter bei, »bessere Namen giebt es gar nicht. Wir wollen ihn auch Isaak und Jakob nennen.«

»Einverstanden,« sagte ich, »mit Isaak und Jakob bin ich zufrieden und verbleibe ganz der Ihrige. Bitte, gebt mir doch einmal die Klapper her; ich kann nicht den ganzen Tag an Gummiringen kauen.«

Keine Seele machte sich Notizen von meinen Äußerungen zum Zweck der Veröffentlichung. Das sah ich und that es selber, sonst wären sie gänzlich verloren gegangen. Statt daß man mich liebevoll ermuntert hätte, wie es bei andern Kindern geschieht, die sich geistig aufgeweckt zeigen, strafte mich der Vater mit einem Zornesblick, die Mutter sah ängstlich und bekümmert aus und auch die Tante schien zu meinen, ich hätte mir zu viel herausgenommen. Voll Ingrimm biß ich meinen Gummiring entzwei und zerschlug verstohlen die Klapper auf dem Kopf des Kätzchens, doch sagte ich nichts.

»Der allerbeste Name ist Samuel,« begann mein Vater von neuem.

Da wußte ich, daß ein Sturm im Anzug sei, den nichts abwenden könne. Ich legte meine Klapper hin, ließ des Onkels silberne Uhr über den Rand der Wiege fallen, desgleichen die Kleiderbürste, das hölzerne Hündchen, meinen Zinnsoldaten, das Reibeisen und sonstige Gegenstände, mit welchen ich für gewöhnlich meine Untersuchungen und Beobachtungen anstellte oder ein angenehmes Geräusch hervorbrachte – gelegentlich zerschlug, zerbrach und zertrümmerte ich sie auch, wenn es galt, mir eine gesunde Bewegung zu machen. Dann zog ich mein Röckchen an, setzte mein Mützchen auf, nahm die kleinen Schuhe in eine Hand, das Stück Lakritze in die andere und kletterte auf den Fußboden hinunter.

»Mag daraus werden was will,« dachte ich bei mir, »ich bin bereit.«

Mit lauter, fester Stimme sagte ich nun: »Vater, das ist unmöglich – den Namen Samuel kann ich nicht tragen.«

»Wie, mein Sohn?«

»Wirklich, Vater, ich kann es nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe eine unbezwingliche Abneigung dagegen.«

»Das ist unverständig, mein Sohn. Viele große und gute Männer hießen Samuel.«

»Davon ist mir kein Beispiel bekannt.«

»Was? War nicht Samuel, der Prophet, groß und gut?«

»Hm! Nicht so besonders.«

»Aber, mein Sohn! Der Herr rief ihn doch mit seiner eigenen Stimme.«

»Ja wohl, aber er mußte ihn ein paarmal rufen, bis er endlich kam.«

Damit ergriff ich die Flucht, und der strenge alte Mann lief mir nach. Um die Mittagsstunde des nächsten Tages holte er mich ein und als unsere Zusammenkunft vorüber war, hatte ich richtig den Namen Samuel erhalten, dazu eine Tracht Schläge und manche nützliche Belehrung obendrein. Nachdem mein Vater die Sache auf diese Weise ausgeglichen hatte, war sein Zorn beschwichtigt. Gut, daß ich Vernunft annahm, sonst hätte unsere Uneinigkeit leicht zu einem unheilbaren Bruch führen können.

Was würde mir aber mein Vater – nach diesem Vorfall zu urteilen – wohl angethan haben, wenn jemals eine von den schwächlichen Albernheiten aus meinem Munde gekommen wäre, welche als Äußerungen gescheiter zweijähriger Kinder jetzt im Druck erscheinen? – Ich bin überzeugt, daraus wäre ein Fall des Kindsmordes in unserer Familie entstanden.

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