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Es war am Morgen eines bitterkalten Wintertages. Die Stadt Eastport im Staate Maine lag unter tiefem, frisch gefallenem Schnee begraben. Das gewöhnliche geschäftige Treiben auf den Straßen fehlte; weit und breit auf denselben nichts als eine weiße Decke und entsprechende Stille. Die Trottoirs waren nur noch lange, tiefe Gräben mit steilen Schneehügeln zu beiden Seiten. Hie und da konnte man das schwache, ferne Kratzen einer hölzernen Schaufel vernehmen und ein flüchtiges Bild von einer entfernten, schwarzen Gestalt erhaschen, die sich bückte und in einem jener Gräben verschwand, um im nächsten Augenblick wieder aufzutauchen, mit einer Bewegung, die das Herausschaufeln von Schnee verriet. Aber man mußte rasch blicken, denn jene schwarze Gestalt verweilte nicht, sondern ließ bald die Schaufel fallen und lief auf das Haus zu, wobei sie mit den Armen um sich warf, um sich zu wärmen. Ja, es war zu bitter kalt, als daß ein Schneeschaufler oder sonst jemand lange draußen bleiben konnte.
Bald darauf verdüsterte sich der Himmel: der Wind hatte sich aufgemacht und wirbelte in heftigen ungleichen Stößen ganze Wolken pulverigen Schnees in die Höhe und nach allen Seiten. Unter der Wucht dieser Windstöße legten sich große weiße Schneehügel wie Gräber quer über die Straßen; einen Augenblick später bettete sie ein anderer Windstoß in anderer Richtung, wobei er einen feinen Sprühregen Schnees von ihren spitzen Kämmen fegte, wie eine frische Brise den Schaum von den Wogen spritzt; einem dritten Stoß gefiel es, den Platz so glatt zu fegen wie einen Tisch. Das war Tändelei, das war Spiel; aber daß es keiner von diesen Windstößen unterließ, einen Haufen Schnee in die Trottoirgräben zu werfen, das gehörte offenbar zum Geschäft.
Alonzo Fitz Clarence saß in seinem behaglichen und eleganten kleinen Empfangszimmer, in einem blauseidenen, mit Aufschlägen und Säumen von karmoisinrotem Sammet besetzten Schlafrock. Die Überreste seines Frühstücks standen vor ihm, und das zierliche und kostbare Tischzeug fügte der Anmut, Schönheit und dem Reichtum der Ausstaffierung des Zimmers noch einen weiteren harmonischen Reiz bei. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamin.
Ein wütender Windstoß ließ die Fenster erzittern, und eine große Schneewoge rollte gegen sie, wenn man so sagen darf. Der hübsche junge Mann murmelte:
»Das bedeutet – keinen Ausgang heute! Nun meinetwegen. Aber wie steht's mit der Unterhaltung? Mutter ist ja ganz recht, Tante Susanne ebenso; aber diese beiden kann ich immer haben. An einem so bösen Tag bedarf es eines neuen Interesses, eines frischen Elements, um die stumpfe Schneide der Gefangenschaft zu schärfen. Eine hübsche Phrase – hat aber keinen Sinn! Man will ja die Schneide der Gefangenschaft nicht geschärft haben, sondern gerade das Gegenteil.«
Er blickte auf seine hübsche französische Stutzuhr.
»Die Uhr geht wieder falsch; sie weiß kaum je, was die Zeit ist, und wenn sie es weiß, lügt sie mich an, was auf dasselbe hinausläuft. – Alfred!«
»Alfred! . . . Ein guter Diener, aber ebenso unzuverlässig wie die Uhr.«
Alonzo berührte den Knopf einer elektrischen Leitung in der Wand, wartete ein Weilchen und berührte ihn dann nochmals; hierauf wartete er wieder einige Augenblicke und sagte endlich:
»Ohne Zweifel ist die Batterie nicht in Ordnung; nun ich aber einmal darauf aus bin, will ich auch herauskriegen, wie viel Uhr es ist.« Er schritt zu einem Sprachrohr in der Ecke und rief »Mutter!« mit zweimaliger Wiederholung.
»Es hilft nichts. Auch der Mutter Batterie geht nicht. Kann niemand drunten auf die Beine bringen – das ist klar.«
Er setzte sich vor einem Pult aus Rosenholz nieder, lehnte sein Kinn gegen dessen linke Kante und sprach, gleichsam gegen den Fußboden gewendet: »Tante Susanne!«
Eine leise, angenehme Stimme antwortete: »Bist du's, Alonzo?«
»Ja. Ich bin zu faul und fühle mich zu behaglich, um die Stiege hinabzugehen; ich bin in größter Not und kann, scheint's, keine Hilfe herbeirufen.«
»Du lieber Himmel, was giebt's?«
»Genug, – das kann ich dir sagen!«
»O, lasse mich nicht in Ungewißheit, Lieber! Was ist's denn?«
»Ich möchte wissen, wie viel Uhr es ist.«
»Du unartiger Junge; du hast mich recht in Schrecken gejagt! Ist das alles?«
»Alles – auf Ehre. Beruhige dich; sage mir die Zeit und empfange meinen Segen.«
»Gerade fünf Minuten nach neun Uhr. Keine Ursache zum Danken – behalte deinen Segen.«
»Danke schön, Tantchen. Er würde mich nicht gerade ärmer gemacht haben, und dich nicht so reich, daß du ohne andere Mittel leben könntest.« Er stand auf und murmelte: »Gerade fünf Minuten nach neun Uhr,« und stellte sich seiner Uhr gegenüber. »Ah,« sagte er, »du machst deine Sache besser wie gewöhnlich. Du gehst nur um vierunddreißig Minuten falsch. Warte . . . Warte . . . Dreiunddreißig und einundzwanzig ist vierundfünfzig; viermal vierundfünfzig ist zweihundertsechsunddreißig; eins ab, bleibt zweihundertfünfunddreißig. So ist's recht.«Tante und Neffe, welche also per Telephon verkehren, sind weit auseinander: sie in San Francisco, er in einer Stadt des Ostens, daher die Zeitdifferenz. Der Übers.
Er drehte die Uhrzeiger vorwärts, bis sie fünfundzwanzig Minuten auf Eins zeigten und sagte: »Nun sieh, ob du nicht eine Zeit lang richtig gehen kannst . . . sonst werde ich dir kommen!«
Er setzte sich wieder vor das Pult und sagte: »Tante Susanne!«
»Ja, Lieber.«
»Gefrühstückt?«
»Gewiß, vor einer Stunde schon.«
»Sehr beschäftigt?«
»Nein – nähe bloß ein wenig. Warum?«
»Gesellschaft bei dir?«
»Nein, aber ich erwarte solche um halb zehn Uhr.«
»Wollte, ich auch. Ich fühle mich einsam und möchte mit jemand plaudern.«
»Nun gut, so plaudere mit mir.«
»Ja, aber, ich hab' was ganz privates!«
»Sei unbesorgt! – plaudre frisch drauf los; es ist außer mir niemand da.«
»Ich weiß fast nicht, ob ich es wagen soll, aber –«
»Aber was? Sprich nur! Du weißt, Alonzo, daß du mir vertrauen kannst – du weißt es.«
»Bin überzeugt, Tante; aber die Sache ist sehr ernst; sie berührt mich sehr nahe – mich und die ganze Familie – selbst die ganze Gemeinde.«
»O, Alonzo, sage mir's! Ich werde nie ein Wort davon laut werden lassen. Um was handelt es sich?«
»Soll ich's wagen . . .«
»O bitte, thu's! Ich habe dich so lieb und kann dir ganz nachfühlen. Sage mir alles – vertraue mir! was hast du auf dem Herzen?«
»Das Wetter!«
»Zum Kuckuck mit dem Wetter! Ich weiß nicht, wie du's über's Herz bringen kannst, mir so mitzuspielen, Lon.«
»Nun, nun, lieb Tantchen, es thut mir leid – wirklich, bei meiner Treu, ich will's nicht wieder thun. Vergiebst du mir?«
»Meinetwegen, ich sollte es freilich nicht thun; denn du hältst mich doch wieder zum Besten, sobald ich diesen Streich vergessen habe.«
»Nein, gewiß nicht – mein Wort darauf. Aber solch ein Wetter, o, solch ein Wetter! Man muß seine Lebensgeister künstlich aufrecht erhalten. Schneeig, windig, stürmisch und bitterkalt, alles auf einmal! Wie ist das Wetter bei euch?«
»Warm, regnerisch und trübselig. Es wimmelt auf den Straßen von Regenschirmen, und von dem Ende jedes Fischbeins ergießt sich ein Strom. Der Behaglichkeit wegen brennt ein Feuer in meinem Kamin, und damit es nicht so warm wird, sind die Fenster offen. Aber es ist umsonst: nichts kommt herein als der linde Hauch des Dezember, geschwängert von den Düften der Blumen, denen die Außenwelt gehört und die sich ihres wonnigen Lebens freuen, während der Geist des Menschen niedergeschlagen ist, – die ihm entgegenleuchten in bunter Pracht, während seine Seele in Sack und Asche gekleidet ist und sein Herz brechen möchte.«
Alonzo öffnete die Lippen, um zu sagen: »Du solltest das drucken und einrahmen lassen,« unterließ es aber, als er seine Tante mit einer andern Person sprechen hörte. Er trat ans Fenster und schaute hinaus auf das winterliche Straßenbild. Der Sturmwind trieb den Schnee wütender als je vor sich her; die Fensterläden wurden lärmend hin- und hergeworfen; ein verirrter Hund mit gesenktem Kopf und eingezogenem Schweif drängte seinen zitternden Körper gegen eine windgeschützte Mauer, Obdach und Schutz suchend; ein junges Mädchen watete knietief durch die Schneehaufen; sie hatte das Gesicht vom Winde abgewandt, und die Kapuze ihres Regenmantels flatterte von hinten über ihren Kopf. Alonzo schauderte und er sagte mit einem Seufzer: »Lieber Kotpfützen und schwüler Regen, und aufdringliche Blumen, als das!«
Er wandte sich vom Fenster ab, machte einen Schritt und blieb dann in lauschender Haltung stehen. Die schwachen, sanften Töne eines wohlbekannten Liedes schlugen an sein Ohr. Er blieb mit vorwärts gebeugtem Kopf stehen und sog die Melodie ein – weder Hand noch Fuß rührte sich, er atmete kaum. Dem Vortrag des Liedes fehlte etwas; unserem Alonzo aber schien das kein Fehler, sondern eher ein weiterer Reiz zu sein. Dieser Fehler bestand in einem auffallenden Sinken der Stimme bei der dritten bis siebenten Note des Refrains oder Chors des Liedes. Als der Gesang zu Ende war, holte Alonzo tief Atem und sagte: »Ah, nie zuvor habe ich › In the Sweet By-and-By‹ so schön singen hören!«
Er schritt rasch zum Pult, horchte einen Augenblick und sagte dann leise und vertraulich: »Tantchen, wer ist denn diese göttliche Sängerin?«
»Es ist der Besuch, den ich erwartete. Bleibt einen bis zwei Monate bei mir. Will dich ihr vorstellen, – Miß! – –«
»Um Gotteswillen, warte einen Augenblick, Tante Susanne! Du überlegst doch auch gar nicht.«
Er flog in sein Schlafzimmer und kehrte einen Augenblick später, merklich in seiner äußeren Erscheinung verändert, wieder, indem er schnippisch bemerkte: »Bei Gott, sie würde mich diesem Engel in meinem himmelblauen Schlafrock da, mit den feuerroten Aufschlägen, vorgestellt haben. Die Weiber denken doch nie, wenn sie einmal im Eifer sind.«
Er eilte zu dem Pult, blieb stehen und rief halblaut: »Nun, Tante, bin ich fertig,« worauf er sich mit all der einschmeichelnden Eleganz, die ihm zu Gebote stand, lächelnd verbeugte.
»Sogleich! – Miß Rosannah Ethelton, darf ich Ihnen meinen liebsten Neffen, Mr. Alonzo Fitz Clarence vorstellen? So! Ihr seid beide artige Kinder, und so will ich euch denn vertrauen und euch allein beisammen lassen, derweil ich einiges fürs Haus besorge. Setzen Sie sich, Rosannah; setze dich, Alonzo. Adieu; ich werde bald wieder da sein.«
Alonzo hatte sich währenddessen immerzu verbeugt und unsichtbaren jungen Damen unsichtbare Sitze angewiesen, jetzt aber setzte er sich selbst, indem er zu sich sagte: »Na, das nenn' ich Glück! Nun mögen die Winde sausen und der Schnee wehen und die Himmel finster drein blicken! Was ficht's mich an!«
Während die jungen Leute sich nun in die Bekanntschaft hineinplaudern, nehmen wir uns die Freiheit das Schönere und Holdere der beiden genauer zu betrachten. Sie saß allein, in anmutiger Ungezwungenheit, in einem reich möblierten Gemach, welches offenbar das Empfangszimmer einer feinen und reichen Dame war. Neben einem niederen, bequemen Sessel stand ein zierliches Arbeitstischchen, auf dem sich ein phantastisch gestickter flacher Korb erhob, aus dessen offenem Deckel sich Stickgarn von verschiedenen Farben, Litzen und Bänder hervordrängten und in nachlässiger Fülle herabhingen. Auf einem üppigen Sofa, das mit einem weichen indischen, aus schwarzen und goldenen Fäden gewebten, und von anderen Fäden in gedämpfteren Farben durchschossenen Stoffe überzogen war, lag eine noch unfertige Straminarbeit, einen in reichen Farben prangenden Blumenstrauß darstellend. Die Hauskatze schlief gerade auf diesem Kunstwerk. In einem Bogenfenster stand eine Staffelei mit einem unvollendeten Gemälde, Palette und Pinsel lagen auf einem Stuhle daneben. Bücher, wohin man sah: Robertsons Predigten, Tennyson, Moody und Sankey, Hawthorne, Longfellow, Kochbücher, Gebetbücher, Stickmusterbücher, nicht zu vergessen alle Arten von Büchern über Renaissancemöbel und Majolikas. Auch ein Piano war da mit einem Stoß Musikalien daneben. An den Wänden hing eine Menge Bilder, andere standen auf Kaminsims und Eckbrettern, und wo sich ein Plätzchen dazu fand, waren plastische Figuren, altmodischer Nippsachen-Krimskrams, und besonders viel seltenes und kostbares chinesisches Porzellan aufgestellt. Das Bogenfenster ging auf einen Garten, aus dem fremde und einheimische Blumen und blühende Sträucher hervorstrahlten.
Aber das holde junge Mädchen war das Reizendste, was dieser Wohnsitz drinnen oder draußen dem Auge bieten konnte: zartgeformte Züge von griechischem Schnitte, ihre Gesichtsfarbe der reine Schnee einer Lilie, auf die von einem scharlachfarbenen Gartennachbar ein schwacher Abglanz fällt; große, sanfte blaue Augen, mit langen, geschweiften Wimpern befranst; im Gesicht die Treuherzigkeit eines Kindes und die Sanftmut eines Rehes; der hübsche Kopf mit goldglänzendem Haar verschwenderisch reich gekrönt; eine geschmeidige und doch wohlgerundete Gestalt, die in jeder Haltung und Bewegung von natürlicher Anmut erfüllt war.
Ihr Anzug und Schmuck zeigte jene ausgesuchte Harmonie, die nur von einem feinen natürlichen, durch Kultur vervollkommneten Geschmack kommen kann. Ihr Kleid war von einfachem, magentafarbenen Tüll, der Quere nach geschnitten und gekreuzt von drei Reihen hellblauer Falbeln; der Überwurf von dunkelrotbraunem Tarlatan, mit Stickereien von scharlachfarbenem Atlas; kornfarbige Polonaise en panier, mit Perlmutterknöpfen und Silberschnüren besetzt, nach hinten aufgenommen und mit Litzen von lederfarbenem Sammet befestigt; Schöße von lavendelfarbenem Rips, mit Valenzienner Spitzen ausgeputzt; Kravatte von kastanienfarbenem Samt, mit zarter Rosaseide eingefaßt; Halstuch von einem einfachen dreifaltigen, in der Wolle gefärbten Gewebe von gedämpftem Safrangelb; Korallenarmbänder und Halskette mit Medaillon; Haarschmuck von Vergißmeinnicht und Maiblümchen, die sich massenweise um eine edle Calla drängten.
Das war alles; doch selbst in diesem schlichten Anzug war sie göttlich schön; was müßte sie erst gewesen sein, wenn geschmückt zum Fest oder Ball?
Ahnungslos, daß wir sie dieser Besichtigung unterzogen, hatte sie mittlerweile eifrig mit Alonzo geplaudert. Rasch enteilten die Minuten, und noch immer plauderten sie. Endlich aber blickte sie zufällig empor und sah auf die Uhr. Ein tiefes Erröten durchschoß ihre Wange und sie rief aus:
»Und nun Adieu, Mr. Fitz Clarence; ich muß jetzt gehen!«
Sie sprang mit solcher Hast von ihrem Stuhl empor, daß sie kaum des jungen Mannes Abschiedsgruß hörte. Strahlend von Anmut und Schönheit stand sie da und schaute verwundert auf die anklagende Uhr; dann öffneten sich ihre vollen Lippen und sie sagte zu sich:
»Fünf Minuten über elf! Fast zwei Stunden, und es schienen keine zwanzig Minuten zu sein. Du lieber Himmel, was wird er von mir denken!«
In demselben Augenblicke starrte Alonzo auf seine Uhr und sagte dann zu sich:
»Fünfunddreißig Minuten über zwei Uhr! Fast zwei Stunden, und ich glaubte, es wären keine zwei Minuten! Am Ende schwindelt die Uhr wieder? Miß Ethelton! Nur einen Augenblick, bitte. Sind Sie noch hier?«
»Ja, aber bitte schnell! muß sogleich gehen.«
»Möchten Sie so freundlich sein, mir zu sagen, wie viel Uhr es ist?«
Das Mädchen errötete wieder und sagte leise für sich: »Es ist geradezu grausam, mich zu fragen!« und gab dann laut und mit bewundernswert gespielter Gleichgültigkeit zur Antwort: »Fünf Minuten über elf.«
»So? ich danke Ihnen! Sie müssen also jetzt wirklich gehen?«
»Ja.«
»Das thut mir leid.«
Keine Antwort.
»Miß Ethelton!«
»Nun?«
»Sie – Sie sind noch da, nicht wahr?«
»Ja; aber bitte, beeilen Sie sich. Was wollten Sie sagen?«
»Nun, ich – nun, nichts besonderes. Es ist so einsam hier. Es ist viel verlangt, ich weiß es; aber möchten Sie wohl bald wieder mit mir plaudern – das heißt, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist?«
»Ich weiß nicht – aber ich will mich besinnen – ich denke, ja.«
»O, tausend Dank! Miß Ethelton? . . . O weh, sie ist fort, und da sind die schwarzen Wolken und der wirbelnde Schnee und die stürmischen Winde wieder! Aber sie sagte adieu! Sie sagte nicht guten Morgen, sie sagte adieu! . . . Die Uhr ging also doch recht. Wie blitzbeschwingt diese zwei Stunden waren!«
Er setzte sich nieder, blickte eine Weile träumerisch in das Feuer, seufzte dann tief auf und sagte:
»Wie wunderbar! Vor zwei Stündchen noch war ich ein freier Mann, und jetzt ist mein Herz in San Francisco!«
Um dieselbe Zeit saß Rosannah Ethelton, mit einem Buche in der Hand, in der Fensternische ihres Schlafzimmers und blickte zerstreut hinaus über die regnerischen Seen, die das »goldene Thor« (Hafen von San Francisco) wuschen, und flüsterte für sich: »Wie ganz anders er doch ist als der arme Burley mit seinem leeren Kopf und seinem einzigen komödiantenhaften Talent der Nachäffung.«
Vier Wochen später unterhielt M. Sidney Algernon Burley eine fröhliche Frühstücksgesellschaft in einem prächtigen Salon auf Telegraph Hill mit einigen köstlichen Nachahmungen der Stimmen und Gebärden gewisser beliebter Schauspieler, gewisser Literaten aus San Francisco und Bonanzaer GrandenBesitzer von großen Farmen; sogenannten »Bonanzafarmen«. Anm. des Übers.. Er war eine elegante Erscheinung, und – abgesehen von einem unbedeutenden Schielen – ein hübscher Mensch. Er schien sehr guter Stimmung zu sein, trotzdem blickte er von Zeit zu Zeit voll unruhiger Erwartung nach der Thüre. Endlich erschien ein Lakai, welcher der Frau vom Hause eine Botschaft brachte, worauf die Dame verständnisvoll mit dem Kopf nickte. Das schien Burleys Erwartung ein Ende zu machen; seine Lebhaftigkeit nahm nach und nach ab und sein Gesicht nahm einen niedergeschlagenen Ausdruck an.
Die Gesellschaft entfernte sich, als es an der Zeit war und er blieb allein mit der Hausfrau, zu der er sagte:
»Es kann kein Zweifel mehr sein: sie weicht mir aus, sie entschuldigt sich fortwährend. Wenn ich sie nur sehen, nur einen Augenblick mit ihr sprechen könnte – aber diese Ungewißheit –.«
»Vielleicht ist ihr scheinbares Ausweichen bloßer Zufall. Gehen Sie in das kleine Empfangszimmer droben und warten Sie einen Augenblick. Ich muß rasch einen häuslichen Auftrag geben, der mir eben einfällt, und will dann auf ihr Zimmer gehen. Sie wird sich gewiß bestimmen lassen, Sie zu empfangen.«
Mr. Burley ging die Stiege hinauf in der Absicht, das kleine Empfangszimmer aufzusuchen; als er aber an »Tante Susannes« Boudoir vorüberging, dessen Thüre ein wenig offen stand, hörte er ein ihm wohlbekanntes fröhliches Lachen; so ging er denn ohne anzuklopfen und unangemeldet hinein. Ehe er aber seine Nähe bemerklich machen konnte, hörte er Worte, die ihm schwer auf die Seele fielen und sein Blut erkalten machten. Er hörte vor dem Telephon eine Stimme sagen: »Liebste, es ist angekommen, es ist da.«
Dann hörte er Rosannah Ethelton, die mit dem Rücken gegen ihn stand, antworten: »Das deinige auch, Teuerster!«
Er sah ihre vorgebeugte Gestalt sich noch tiefer herabbeugen; er hörte sie etwas küssen – nicht bloß einmal, sondern wieder und wieder! Seine Galle kochte in ihm. Die herzbrechende Unterredung wurde fortgesetzt:
»Rosannah, ich wußte, daß du schön sein müßtest; aber dein Bild übertrifft meine Ahnung: ich bin völlig geblendet!«
»Alonzo, es macht mich überglücklich, daß du das sagst. Ich weiß zwar, daß es nicht wahr ist; aber ich bin trotzdem dankbar, daß du es glaubst! Ich wußte, daß du edle Züge haben müßtest, aber die Anmut und Majestät der Wirklichkeit machen die Schöpfung meiner Phantasie zu einem armseligen Schattenbild.«
Burley hörte wieder jenen prasselnden Schauer von Küssen.
»Ich danke dir, meine Rosannah! Die Photographie schmeichelt mir, aber daran mußt du nicht denken. – Mein Schätzchen?«
»Ja, Alonzo.«
»Ich bin so glücklich, Rosannah.«
»O, Alonzo. Jetzt weiß ich, was Liebe ist. Ich schwebe in einem prächtigen Wolkenland, in einem grenzenlosen Himmel zauberhaften und sinnberauschenden Entzückens.«
»O, meine Rosannah! – denn du bist ja mein, nicht wahr?«
»Ganz, o, ganz dein, Alonzo, jetzt und immerdar! Den ganzen Tag hindurch und in meinen nächtlichen Träumen höre ich immer ein Lied, dessen holder Refrain lautet: Alonzo Fitz Clarence, Alonzo Fitz Clarence zu Eastport im Staate Maine!«
»Verwünscht sei er! – ich habe jetzt wenigstens seine Adresse!« brüllte Burley innerlich und eilte fort.
Hinter dem ahnungslosen Alonzo aber stand plötzlich seine Mutter, ein Bild des Staunens. Sie war vom Kopf bis zu den Füßen in Pelze gehüllt, so daß außer Augen und Nase nichts von ihr zu sehen war. Sie stand da, wie eine gute Allegorie des Winters, über und über mit feinen Schneeflocken bestreut.
Hinter der ahnungslosen Rosannah stand Tante Susanna, ein zweites Bild des Staunens. Sie war eine gute Allegorie des Sommers, denn sie war leicht gekleidet und kühlte sich mit einem Fächer das heiße Gesicht.
Beiden Frauen standen Freudenthränen in den Augen.
»Haha!« rief Frau Fitz Clarence aus, »das erklärt, weshalb dich seit sechs Wochen niemand aus deinem Zimmer zu bringen vermochte, Alonzo!«
»Aha!« rief Tante Susanne aus, »jetzt weiß ich, weshalb Sie in den letzten sechs Wochen eine Einsiedlerin waren, Rosannah!«
Die jungen Leute waren im Nu auf den Füßen; und standen betreten da, wie Schmuggler von Gold und Juwelen, die man beim Handwerk ertappt hat.
»Sei gesegnet, mein Sohn! Ich bin glücklich in eurem Glück. Komm in deiner Mutter Arme, Alonzo!«
»Sei gesegnet, Rosannah, um meines lieben Neffens willen. Komm in meine Arme!«
Die Herzen schwammen in Wonne auf Telegraph Hill und in Eastport Square.
An beiden Orten wurden Diener gerufen. Dem einen wurde der Befehl gegeben: »Wirf noch mehr Walnußbaumholz ins Feuer und bringe mir ein siedheißes Glas Glühwein.« Dem andern wurde der Auftrag erteilt: »Lösche das Feuer und bringe mir zwei Palmblattfächer und eine Flasche Eiswasser.«
Dann wurden die jungen Leute weggeschickt, und die beiden älteren setzten sich nieder, um die angenehme Überraschung zu besprechen und Hochzeitspläne zu entwerfen.
Einige Minuten vorher stürzte Mr. Burley aus dem Hause auf Telegraph Hill, ohne jemandem zu begegnen oder von jemand förmlichen Abschied zu nehmen. In unbewußter Nachahmung einer bekannten Stelle in einem Melodrama zischte er zwischen den Zähnen hervor: »Sein soll sie niemals werden! Ich hab's geschworen! Ehe die Natur ihren Winterhermelin abgelegt haben wird, um den Smaragdschmuck des Frühlings anzulegen, soll sie mein sein!«
Ein paar Wochen später. – Drei oder vier Tage lang empfing Alonzo alle paar Stunden den Besuch eines sehr schmuck und gottesfürchtig aussehenden Geistlichen, der auf einem Auge schielte; nach seiner Visitenkarte war er der hochwürdige Melton Hargrave aus Cincinnati. Er sagte, er habe sich ›seiner Gesundheit wegen‹ von der Seelsorge zurückgezogen; wenn er gesagt hätte: ›wegen seiner Kränklichkeit‹, würde ihn sein gesundes Aussehen und sein kräftiger Körperbau stark Lügen gestraft haben. Er stellte sich als Erfinder einer Verbesserung an Telephonen vor, der durch Verkauf des bezüglichen Patents sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen hoffte. »Heutzutage,« sagte er, »kann jeder, der Lust hat, einen Telegraphendraht anzapfen, welcher ein Lied oder ein Konzert aus einem Staate in einen andern leitet, sein eigenes Telephon daranhängen und diebisch jene Musik anhören, während sie vorübergleitet. Meine Erfindung wird dem ein Ende machen.«
»Nun,« antwortete Alonzo, »was kann dem Eigentümer der Musik daran liegen, wenn ihm der Diebstahl nichts schadet?«
»Nichts,« sagte der Hochwürdige.
»Nun, also?« sagte Alonzo fragend.
»Angenommen aber,« antwortete der Hochwürdige, – »angenommen, daß statt der Musik, die im Vorübergleiten gestohlen werden kann, der Draht Liebeszärtlichkeiten geheimster und heiligster Natur aussendet?«
Alonzo schauderte vom Scheitel bis zur Zehe. »Mein Herr, ich verstehe, ihre Erfindung ist unbezahlbar; ich muß sie haben – um jeden Preis.«
Aber die Erfindung, welche aus Cincinnati bestellt war, wollte nicht eintreffen. Alonzo verging vor Ungeduld: der Gedanke, daß Rosannahs liebe Worte von irgend einem elenden Neugierigen geteilt würden, war ihm eine Folter. Der Hochwürdige kam häufig und beklagte den Verzug und sprach von Maßregeln, die er getroffen, um die Ankunft zu beschleunigen. Das war ein kleiner Trost für Alonzo.
Eines Vormittags stieg der Hochwürdige die Treppe hinan und klopfte an Alonzos Thür: es erfolgte keine Antwort. Er trat ein, blickte forschend umher und eilte dann zum Telephon. Die ausnehmend sanften fernen Töne des »Sweet By-and-By« fluteten durch das Instrument. Die Sängerin nahm wie gewöhnlich die fünf Noten, die den beiden ersten im Chor folgten, um einen halben Ton zu tief, als der Hochwürdige sie – in einer Stimme, welche diejenige Alonzos täuschend, nur mit einem entfernten Anflug von Ungeduld, nachahmte, plötzlich unterbrach: –
»Mein Schatz?«
»Ja, Alonzo?«
»Bitte, singe das in dieser Woche nicht mehr, – probiere etwas Modernes.«
Ein leichter Schritt, wie er zu einem glücklichen Herzen paßt, wurde jetzt auf der Treppe hörbar, worauf der Hochwürdige teuflisch lächelnd rasch Zuflucht hinter den schweren Falten der samtenen Fenstervorhänge suchte. Alonzo trat ein, flog zum Telephon und sagte:
»Liebste Rosannah, wollen wir zusammen singen?«
»Etwas Modernes?« gab sie mit sarkastischer Bitterkeit zurück.
»Ja, wenn dir's recht ist!«
»Singen Sie's selbst, wenn es Ihnen beliebt!«
Dieses schnippische Wesen verblüffte und verletzte den jungen Mann. Er sagte: –
»Rosannah, das sah dir nicht ähnlich.«
»Ich denke, es steht mir ebenso wohl an, als Ihre höfliche Rede Ihnen anstand, Mr. Fitz Clarence.«
»Mister Fitz Clarence! Rosannah, es lag nichts Unhöfliches in meinen Worten.«
»O, wirklich! Dann habe ich Sie natürlich falsch verstanden und muß Sie demütig um Verzeihung bitten, ha – ha – ha! Ohne Zweifel sagten Sie: ›Singe es heute nicht mehr.‹«
»Singe heute – was nicht mehr?«
»Natürlich das Lied, das Sie erwähnten. Wie begriffsstutzig wir plötzlich sind!«
»Ich erwähnte gar kein Lied.«
»O, wirklich nicht?«
»Nein, wirklich nicht!«
»Ich sehe mich zu der Bemerkung gezwungen, daß Sie es thaten!«
»Und ich sehe mich nochmals zu der Erklärung gezwungen, daß ich's nicht that.«
»Eine zweite Grobheit! Das genügt, mein Herr. Ich werde Ihnen nie vergeben: alles ist aus zwischen uns.«
Dann hörte man ein verhaltenes Schluchzen. Alonzo sagte hastig:
»O, Rosannah, nimm diese Worte zurück! Dahinter steckt ein schreckliches Geheimnis, irgend ein entsetzliches Mißverständnis. Im vollen Ernst und ganz aufrichtig gesagt, ich habe nichts von einem Lied erwähnt. Ich möchte dich um alles in der Welt nicht verletzen . . . Rosannah, Liebste? . . . O, sprich mit mir, ich bitte dich!«
Es folgte eine Pause; dann hörte Alonzo des Mädchens Schluchzen wie aus weiter Ferne: sie hatte sich vom Telephon zurückgezogen. Er erhob sich mit einem schweren Seufzer und eilte aus dem Zimmer, vor sich hinmurmelnd: »Ich muß meine Mutter aufsuchen. Sie wird ihr hoffentlich die Überzeugung beibringen, daß ich sie nicht verletzen wollte.«
Eine Minute später krümmte sich der Ehrwürdige über das Telephon, wie eine Katze, welche die Wege ihrer Beute kennt. Er brauchte nicht lange zu warten; nach einigen Minuten hörte man eine sanfte, bereuende, von Thränen zitternde Stimme sagen:
»Lieber Alonzo, ich hatte Unrecht; du kannst etwas so Grausames nicht gesagt haben. Es muß jemand gewesen sein, der deine Stimme im Scherz oder aus Bosheit nachahmte.«
Der Hochwürdige antwortete kalt in Alonzo's Stimme:
»Sie haben gesagt, daß alles zwischen uns vorüber ist; und so sei es. Ich verschmähe Ihre angebotene Reue und verachte sie!«
Dann entfernte er sich, strahlend vor Triumph, um nie mehr mit seiner vorgeblichen Telephonverbesserung zurückzukehren.
Vier Stunden später kam Alonzo, der seine Mutter bei Bekannten hatte suchen müssen, zurück. Sie riefen ihre Angehörigen in San Francisco an, aber es erfolgte keine Antwort. Sie warteten und warteten am sprachlosen Telephon.
Endlich, als in San Francisco die Sonne unterging, drei und eine halbe Stunde nach der Dämmerung in Eastport, erfolgte eine Antwort auf den oft wiederholten Ruf: »Rosannah!«
Aber ach! es war Tante Susannes Stimme, die sprach:
»War den ganzen Tag nicht zu Hause; bin eben heimgekehrt. Will sie sogleich aufsuchen.«
Die Harrenden warteten zwei – fünf – zehn Minuten; dann kamen in erschrockenem Ton folgende verhängnisvolle Worte: –
»Sie ist fort, und ihr Gepäck mit ihr – um eine andere Freundin zu besuchen, wie sie den Dienstboten sagte. Auf dem Tisch in ihrem Zimmer aber fand ich eine Notiz mit den Worten: ›Ich bin gegangen; forscht mir nicht nach; mein Herz ist gebrochen; ihr werdet mich nimmer wiedersehen. Sagt ihm, ich werde immer an ihn denken, wenn ich mein armes ’Sweet By-and-By‘ singe, nie aber an die unfreundlichen Worte, die er darüber gesprochen.‹ So lautet ihre Mitteilung. Alonzo, Alonzo, was hat das zu bedeuten? Was ist geschehen?«
Alonzo aber saß blaß und starr da wie eine Leiche. Seine Mutter zog die samtenen Vorhänge zurück und öffnete ein Fenster. Die kalte Luft erfrischte den Leidenden, und er erzählte seiner Tante seine trübselige Geschichte. Mittlerweile besichtigte seine Mutter eine Visitenkarte, die auf dem Fußboden zum Vorschein gekommen war, als sie die Vorhänge zurückzog. Auf der Karte stand: »Mr. Sidney Algernon Burley, San Francisco.«
»Der Schurke!« rief Alonzo und stürzte hinaus, um den falschen Hochwürdigen zu suchen und zu vernichten. Die Karte erklärte alles, denn die Liebenden hatten im Verlaufe ihrer gegenseitigen Bekenntnisse einander alles erzählt von den Liebsten, die sie je gehabt, und all ihre Mängel und Schwächen unbarmherzig verdammt – das ist bei Liebenden so Brauch: es hat einen eigenen Reiz für sie, und er kommt gleich nach dem des Girrens und Schnäbelns.
Während der nächsten zwei Monate ereignete sich viel. Es war bald kund geworden, daß Rosannah (die arme duldende Waise!) weder zu ihrer Großmutter zu Portland in Oregon zurückgekehrt war, noch ihr irgendwelche Nachricht gesandt hatte, außer einer Abschrift der leidvollen Notiz, die sie in dem Hause auf Telegraph Hill zurückgelassen hatte. Wer ihr auch ein Obdach gewährte, – wenn sie noch lebte, – war ohne Zweifel von ihr beredet worden, ihren Aufenthalt nicht zu verraten, denn alle Versuche, sie aufzufinden, waren mißlungen.
Gab Alonzo sie auf? Keineswegs. Er sagte bei sich: »Sie wird jenes holde Lied singen, wenn sie schwermütig ist; ich werde sie finden.« Und so nahm er seinen Reisesack und ein tragbares Telephon und schüttelte den Schnee seiner Vaterstadt von seinen Füßen und ging hinaus in die Welt. Er wanderte weit und breit hin und her und durch viele Staaten; wieder und wieder blickten Fremde erstaunt auf einen abgezehrten, blassen, melancholischen Mann, der mühevoll an winterlichen und einsamen Orten eine Telegraphenstange erklomm, dort traurig eine Stunde saß mit dem Ohr an einem kleinen Kästchen, dann seufzend herabkam und müde weiterwanderte. Manchmal wurde auf ihn geschossen, weil man ihn für verrückt und gefährlich hielt. Seine Kleider wurden von Kugeln zerfetzt und er selber am Ende schwer verletzt; aber er ertrug alles geduldig.
So verflossen langsam sieben Wochen, und endlich ergriffen ihn einige Menschenfreunde und brachten ihn in eine Privatirrenanstalt zu Newyork. Er wehklagte nicht, denn alle seine Kraft war dahin, und mit ihr aller Mut und alle Hoffnung. Der Oberaufseher trat ihm mitleidig seine eigenen behaglichen Gemächer, Wohn- und Schlafzimmer ab und pflegte ihn mit liebender Hingebung.
Nach Verlauf einer Woche war der Patient imstande, zum erstenmale das Bett zu verlassen. Er lag, auf Kissen gestützt, bequem auf dem Sofa und lauschte den Klagelauten der frostigen Märzwinde und dem dumpfen Ton der Fußtritte auf der Straße drunten, – denn es war etwa sechs Uhr abends, und Newyork ging von der Arbeit heim. Er hatte ein helles Feuer und zur Erhöhung der Behaglichkeit zwei Studierlampen, und so war es warm und behaglich drinnen, wenn auch draußen frostig und rauh.
Ein schwaches Lächeln glitt über Alsonsos Antlitz bei dem Gedanken, daß seine Streifereien aus Liebe ihn in den Augen der Welt zu einem Verrückten gemacht hatten, und er wollte eben seinen Gedankengang weiter verfolgen, als eine schwache, holde Melodie – sozusagen ein Tonschatten, so fern und dünn schien sie – an sein Ohr schlug. Seine Pulse hörten auf zu schlagen; er lauschte mit offenen Lippen und verhaltenem Atem. Das Lied tönte weiter – er harrte, lauschte, erhob sich langsam und unbewußt aus seiner Rückenlage und rief endlich frohlockend aus:
»Sie ist's! sie ist's! O, die göttlichen, um einen halben Ton zu tiefen Noten!«
Er schleppte sich begierig zu der Ecke, aus der die Töne kamen, riß einen Vorhang auf die Seite und entdeckte ein Telephon. Er beugte sich darüber, und als die letzte Note erstarb, brach er in den lauten Ausruf aus: –
»O, dem Himmel sei Dank, endlich gefunden! Sprich mit mir, teuerste Rosannah! Das qualvolle Geheimnis ist enthüllt; es war der schurkische Burley, der meine Stimme nachahmte und dich mit unverschämter Rede beleidigte!«
Es folgte eine atemlose Pause, für den wartenden Alonzo ein Menschenalter; dann kam ein schwacher Laut, der sich zur Rede formte: –
»O, sage diese köstlichen Worte nochmals, Alonzo!«
»Sie sind die Wahrheit, die reinste Wahrheit, meine Rosannah, und du sollst den Beweis haben, glänzenden und vollen Beweis!«
»O, Alonzo, bleibe bei mir! Verlasse mich keinen Augenblick! Laß mich fühlen, daß du mir nahe bist! Sage mir, daß wir nie wieder getrennt sein sollen! O, diese glückliche Stunde, diese gesegnete, denkwürdige Stunde!«
»Wir wollen sie uns ins Gedächtnis einprägen, meine Rosannah; jedes Jahr, wenn die Uhr diese Stunde schlägt, werden wir sie mit Dankgebeten feiern, unser ganzes Leben lang.«
»Das wollen wir, Alonzo, – ja, das wollen wir!«
»Vier Minuten nach sechs Uhr abends, meine Rosannah, soll hinfort – –«
»Zwölf Uhr dreiundzwanzig Minuten nachmittags – –«
»Ei, Rosannah, mein Schatz, wo bist du denn?«
»In Honolulu auf den Sandwichsinseln. Und wo bist du? Bleibe bei mir; verlasse mich keinen Augenblick! Ich könnt' es nicht ertragen. Bist du daheim?«
»Nein, Teure, ich bin in Newyork – ein Patient in ärztlicher Behandlung.«
Ein qualvoller Schrei drang in Alonzos Ohr, es klang wie das scharfe Summen einer verletzten Fliege: die Reise von ein paar tausend Meilen hatte die Kraft des Lautes abgeschwächt. Alonzo sagte rasch: –
»Beruhige dich, mein Kind. Es ist nichts; ich werde bereits wieder gesund durch die holde Heilkraft deiner Nähe. – Meine Rosannah!«
»Ja, Alonzo? O, wie du mich erschreckt hast! Fahre fort.«
»Bestimme den Hochzeitstag, Rosannah!«
Es folgte eine kleine Pause; dann antwortete eine schüchterne, leise Stimme: »Ich erröte – aber vor Freude, vor Glück. Möchtest du es gerne bald haben?«
»Noch in dieser Nacht, Rosannah! nur nicht das Wagnis eines weiteren Verzugs! Warum nicht gleich? – noch in dieser Nacht, in diesem Augenblick!«
»O du ungeduldiger Mann! Ich habe niemand hier als meinen guten alten Onkel, einen früheren Missionär – niemand als ihn und seine Frau. Es würde mir so von Herzen lieb sein, wenn deine Mutter und deine Tante Susanne – –«
»Unsere Mutter und unsere Tante Susanne, meine Rosannah!«
»Ja, unsere Mutter und unsere Tante Susanne – ich will gerne so sagen, wenn es dir recht ist; es wäre mir so lieb, wenn sie bei der Trauung zugegen wären.«
»Ich möchte es auch. Wie wär's, wenn du an Tante Susanne telegraphiertest? Wie lange würde es dauern, bis sie käme?«
»Der Dampfer geht übermorgen von San Francisco ab und ist acht Tage unterwegs; sie würde also am 31. März hier sein.«
»Dann bestimme den 1. April teuerste Rosannah!«
»Ums Himmelswillen, Alonzo, da würden wir ja zu Aprilnarren!«
»Wir würden dann jedenfalls die glücklichsten, welche die Sonne jenes Tages auf dem ganzen weiten Erdenrund bescheint; was ficht's uns also an? Sage am 1. April, Teure.«
»Nun denn, von Herzen gern, der 1. April soll es sein.«
»Wie herrlich! Bestimme auch die Stunde, Rosannah.«
»Ich liebe den Morgen mit seiner Frische und Heiterkeit. Paßt es dir um acht Uhr morgens, Alonzo?«
»Die schönste Stunde des Tages – da sie dich zu der meinigen macht.«
Es folgte eine Pause, während welcher ein Ton hörbar war, als ob körperlose Geister Küsse austauschten; dann sagte Rosannah: »Entschuldige mich nur für einen Augenblick, Lieber; ich muß einen Besuch erwarten, drüben im andern Zimmer.«
Das junge Mädchen eilte in das Besuchszimmer und nahm an einem Fenster Platz, das die Aussicht auf eine schöne Landschaft gewährte. Zur Linken konnte man das hübsche Nuuanathal, eingesäumt von einer üppigen Fülle tropischer Blumen und graziöser Kokospalmen, überschauen; die anstoßenden niederen Hügel waren in das leuchtende Grün von Zitronen- und Orangenbäumen gekleidet; die geschichtlich berühmte Schlucht drüben, in welcher der erste Kamehameha seine dem Untergange geweihten Feinde hineintrieb, hatte wahrscheinlich ihre grausige Geschichte vergessen, denn wie gewöhnlich am Mittag wölbte sich eine Anzahl von Regenbogen über ihr. Gerade vor dem Fenster sah man die wunderlich gebaute Stadt und hie und da eine Gruppe von dunkelfarbigen Eingeborenen, die sich des fast unerträglich heißen Wetters freuten; und weitab zur Rechten lag der ruhelose Ozean, der seine weiße Mähne im Sonnenscheine schüttelte.
Rosannah saß wartend da, in ihrem leichten weißen Gewand und fächelte ihr erregtes und erhitztes Gesicht; endlich steckte ein halbnackter, mit einem Cylinderhut bedeckter Kanakenknabe den Kopf zur Thüre herein und meldete: »Herr aus 'Friesko!«Abkürzung für San Francisco.
»Weise ihn herein,« sagte das Mädchen, indem sie sich aufrichtete und eine entschiedene Haltung annahm. Mr. Sidney Algernon Burley trat ein, von Kopf zu Fuß in blendendes Weiß, d. h. in die leichteste und Weißeste irische Leinwand gekleidet. Er trat rasch heran, aber das Mädchen machte eine Bewegung mit der Hand und warf ihm einen Blick zu, der ihn plötzlich stehen bleiben ließ. Sie sagte kalt: »Ich bin hier, wie ich versprach. Ich glaubte Ihren Versicherungen, gab ihrem ungestümen Drängen nach und sagte, ich würde den Tag bestimmen. Ich bestimme den 1. April – um acht Uhr des morgens. Und nun gehen Sie.«
»O meine Teuerste, wenn die Dankbarkeit einer Lebenszeit – –«
»Kein Wort mehr. Erlassen Sie mir Ihren Anblick und jeden Verkehr mit Ihnen bis zu jener Stunde. Nein – keine Bitten; ich will es so haben.«
Als er fort war, sank sie erschöpft in einen Stuhl, denn die lange Belagerung des Kummers, die sie ausgehalten, hatte ihre Kraft geschwächt. Gleich darauf sagte sie: »Mit knapper Not entkommen! Wenn er eine Stunde früher gekommen wäre, – – es schaudert mich, wenn ich daran denke! Denken zu müssen, daß es mit mir dahin gekommen wäre, daß ich mir einbildete, dieses betrügerische, dieses falsche, dieses verräterische Ungeheuer zu lieben! O, er soll seine Schurkerei bereuen!«
Wir wollen diese Geschichte jetzt rasch zu Ende führen, denn es ist nur weniges noch zu sagen. Am 2. April enthielt der Honoluluer »Anzeiger« folgende Notiz: –
»Verheiratet. – Dahier, per Telephon, gestern früh um acht Uhr, durch den hochwürdigen Herrn Nathan Hays, unter Assistenz des hochwürdigen Herrn Nathaniel Davis zu Newyork, Mr. Alonzo Fitz Clarence von Eastport in Maine, mit Miß Ethelton von Portland in Oregon. Zugegen war Mrs. Susanne Howland von San Francisco, eine Freundin der Braut, gegenwärtig zu Gast bei Mr. und Mrs. Hays, dem Onkel und der Tante der Braut. Auch Mr. Sidney Algernon Burley von San Francisco war zugegen, blieb aber nicht bis zum Schluß der Trauungsfeierlichkeit. Kapitän Hawthornes hübsche und geschmackvoll dekorierte Jacht wartete im Hafen, und die glückliche Braut und ihre Freunde brachen gleich darauf zu einem Ausflug nach Lahaina und Haleakala auf.«
Die Newyorker Zeitungen vom selben Datum enthielten folgende Notiz: –
»Verheiratet. – Dahier, gestern, per Telephon, um halb drei Uhr in der Frühe, durch den hochw. Herrn Nathaniel Davis, unter Assistenz des hochw. Herrn Nathan Hays zu Honolulu, Mr. Alonzo Fitz Clarence von Eastport in Maine und Miß Rosannah Ethelton von Portland in Oregon. Die Eltern und mehrere Freunde des Bräutigams waren zugegen. Nachdem die Gesellschaft ein festliches Frühstück genossen und sich bis gegen Sonnenaufgang vergnügt unterhalten, brach sie zu einem Ausflug nach dem Aquarium auf, da des Bräutigams Gesundheitszustand keine ausgedehntere Reise zuläßt.«
Gegen das Ende jenes denkwürdigen Tages waren Mr. und Mrs. Alonzo Fitz Clarence in ein zärtliches Gespräch über die Vergnügungen ihrer beiderseitigen Hochzeitsausflüge vertieft, als plötzlich die junge Frau ausrief: »O Lonny, ich vergaß ganz! Ich that, was ich mir vorgenommen.«
»Was, Geliebte?«
»Ich machte ihn zum Aprilnarren! Und ich sagte es ihm auch! O, es war eine reizende Überraschung! Da stand er, schmorend in einem schwarzen Anzug, während das Thermometer oben zur Röhre hinauswollte, in Erwartung der Trauung. Du hättest die Miene sehen sollen, die er machte, als ich es ihm ins Ohr flüsterte! Ach, seine Verruchtheit hatte mir viel Herzeleid gebracht und manche Thräne erpreßt; aber in jenem Augenblick war alles quitt. Das Gefühl der Rache wich gänzlich aus meinem Herzen und ich lud ihn ein zu bleiben und sagte, ich habe ihm alles vergeben; aber er wollte nicht. Er schwur, sich grimmig zu rächen und unser Leben zu einem Fluch für uns zu machen. Aber das kann er nicht, mein Teuerster, nicht wahr?«
»Niemals in dieser Welt, meine Rosannah,« antwortete Alonzo innig. –
Tante Susanne, die Großmutter in Oregon, das junge Paar und ihre Mutter zu Eastport sind alle glücklich, während ich dies schreibe, und werden es wohl auch bleiben. Tante Susanne holte die Braut von den Sandwichsinseln ab, begleitete sie über den amerikanischen Kontinent und hatte das Glück, die entzückte Begegnung zweier sich anbetender Ehegatten mitanzusehen, die bis dahin einander nie gesehen hatten.
Ein Wort über den nichtswürdigen Burley, dessen verruchte Ränke beinahe die Herzen unseres lieben jungen Paares gebrochen und ihr Leben elend gemacht hätten, wird genügen. Bei einem Anfall auf einen verkrüppelten und hilflosen Arbeiter, der ihm, wie er sich einbildete, eine geringfügige Beleidigung angethan hatte, zersprang sein Revolver und tötete ihn auf der Stelle.