Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Es ist gefährlich im Bette zu liegen.

Auch ein Unfallversicherungsbillet?« fragte der Mann am Schalter.

»Nein,« entgegnete ich nach kurzem Überlegen, »nein, ich glaube nicht. Heute fahre ich den ganzen Tag mit der Eisenbahn. Aber – warten Sie einmal – morgen bin ich nicht auf Reisen. Geben Sie mir eins für morgen.«

Der Mann sah mich verblüfft an. Dann sagte er:

»Aber die Versicherung ist ja gerade gegen Unfälle. Und wenn Sie mit der Eisenbahn reisen –«

»Da habe ich keine Furcht. Man läuft nur Gefahr, wenn man zu Hause bleibt und im Bette liegt.«

Ich hatte mich über diese Angelegenheit gründlich unterrichtet. Im vergangenen Jahr war ich zwanzigtausend Meilen hauptsächlich mit der Eisenbahn gefahren, vor zwei Jahren hatte ich fünfundzwanzigtausend Meilen zurückgelegt, teils mit dem Dampfboot teils mit der Eisenbahn, vor drei Jahren nahe an zehntausend Meilen, ausschließlich mit der Eisenbahn. Wollte ich noch alle die verschiedenen kleinen Reisen in Anschlag bringen, die ich im Laufe der drei letzten Jahre bald hierhin bald dorthin unternommen habe, so würden zusammen wohl sechzigtausend Meilen herauskommen, – und das alles ohne einzigen Unfall.

Eine zeitlang dachte ich jeden Morgen bei mir: »Na, bis jetzt bin ich noch immer gut weggekommen, um so größer ist aber auch die Wahrscheinlichkeit, daß ich diesmal etwas abkriegen werde. Ich will schlau sein und mir ein Unfallbillet lösen.« Aber so oft ich das that – jedesmal zog ich eine Niete und legte mich am Abend mit heilen Knochen und ohne daß mir ein Glied ausgerenkt war zu Bette. Schließlich bekam ich diese tägliche Plackerei satt und kaufte mir nur noch Unfallbillete, die auf einen Monat gültig waren. Ich sagte mir: »Wenn man ein ganzes Bündel von dreißig Stück auf einmal kauft, können es doch unmöglich lauter Nieten sein.«

Aber ich irrte mich. In dem ganzen Haufen war nicht ein Gewinn. Täglich las ich von Eisenbahnunfällen – sie lagerten wie ein Nebel über der ganzen Zeitungsatmosphäre, aber niemals kam etwas davon auf mein Teil. Ich mußte mir eingestehen, daß ich in dem Unfallsgeschäft viel Geld verthan hatte und für mich nichts herausgekommen war. Mein Argwohn erwachte; ich begann mich nach jemand umzusehen, der bei dieser Lotterie einen Treffer gezogen hatte. Zwar fand ich viele Leute, die ihr Geld darin anlegten, aber keinen Menschen, der je einen Unfall gehabt oder einen Cent damit verdient hatte. Nun kaufte ich keine Unfallbillete mehr, sondern begab mich ans Rechnen und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die Gefahr lag nicht im Reisen sondern im Zuhausebleiben.

Ich verschaffte mir statistische Berichte und fand zu meiner Überraschung, daß nach all den fettgedruckten Zeitungsüberschriften, welche Eisenbahnunfälle ankündigten, doch nicht einmal dreihundert Menschen während der letzten zwölf Monate wirklich ihr Leben durch solche Unfälle verloren hatten. Die Eriebahn war die mörderischste auf der ganzen Liste. Sie hatte sechsundvierzig oder sechsundzwanzig Menschen umgebracht – ich erinnere mich nicht mehr genau an die Zahl, nur soviel weiß ich, daß sie doppelt so groß war, als auf jeder andern Bahn. Doch fiel mir dabei sofort ein, daß die Eriebahn eine ungeheure Länge hat und den größten Geschäftsbetrieb von allen Bahnen des Landes; da ist es leicht begreiflich, daß sie noch einmal soviele Tote aufweisen kann als die übrigen.

Als ich weiter rechnete, fand ich, daß zwischen Newyork und Rochester auf der Eriebahn täglich acht Personenzüge hin- und zurückfahren, also zusammen sechzehn, welche durchschnittlich sechstausend Reisende befördern. Das beträgt in sechs Monaten etwa eine Million – soviel als Newyork Einwohner hat. Nun denn: die Eriebahn tötet von ihrer Million zwischen dreizehn und dreiundzwanzig Personen in sechs Monaten und in der gleichen Zeit sterben von der in Newyork wohnenden Million dreizehntausend in ihren Betten! –

Mich überlief eine Gänsehaut, die Haare standen mir zu Berge. »Wie entsetzlich!« rief ich aus. »Nicht das Reisen auf der Eisenbahn bringt die Menschen in Gefahr, sondern daß sie sich den totbringenden Betten anvertrauen. Nie wieder will ich in einem Bette schlafen!«

Hiernach wird es der Leser nur natürlich finden, daß ich dem Billetverkäufer am Schalter die obenerwähnte Antwort gab. Mit den Betten, vor denen mir graut, will ich es nicht noch einmal versuchen; für mich sind die Eisenbahnen gut genug.

Auch ist mein Rat für jedermann: Bleibt so wenig zu Hause wie irgend möglich; aber wenn ihr einmal durchaus zu Hause bleiben müßt, dann kauft euch ein Paket Versicherungsbillete und legt euch nachts nicht schlafen. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.

Die Moral dieses Aufsatzes ist, daß Leute, die sich nicht die Mühe geben nachzudenken, ganz unbilligerweise über die Eisenbahnverwaltung der Vereinigten Staaten murren. Wenn wir uns überlegen, daß das ganze Jahr hindurch, Tag und Nacht, mehr als vierzehntausend Eisenbahnzüge der verschiedensten Art, mit Menschen beladen, deren Leben oder Tod in ihrer Gewalt ist, durch die Lande donnern und jagen, so werden wir uns nicht darüber wundern, daß sie dreihundert menschliche Wesen in einem Jahr umbringen, sondern vielmehr darüber, daß ihnen nicht dreihundert mal dreihundert zum Opfer fallen.

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