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Naht man der athenischen Akropolis von der Äolusstrasse, die so lebhaft an einen türkischen Bazar erinnert, so enthüllt sie noch nichts von ihrer einzigartigen Herrlichkeit. Ein steil emporsteigender, an wenigen Stellen seiner Abhänge mit spärlichem Grün bekleideter, rötlich-grauer Kalksteinfels mit dunklen Grotten und der zinnenartigen Bekrönung seiner Burgmauer. Balkengerüste verdecken gegenwärtig die nördliche Vorhalle des Erechtheion. So sieht ihr Bild aus, wie es das nördliche Ende jener hallenden, bunten und engen Gasse abschliesst, die vom Mittelpunkte Athens fast bis an den Fuss der Burg führt. Kaum aber ist man hier angelangt und um die Nordwestecke des Burgfelsens herum, am ungeheuren Felsblock des Areopags vorbei und das Wäldchen von Aleppokiefern und hochragenden Blütenstauden der Agaven hinangegangen, so leuchtet einem die Akropolis des Perikles und Phidias entgegen.

Golden schimmern die Marmorverkleidungen der Pinakothek links oben, ihr gegenüber ragt der schräggestellte Tempel der Athena Nike, dazwischen die schneeweiss glänzenden Säulen des Thorbaues des Mnesikles, dessen Thüröffnungen das herrlichste Himmelsblau füllt. Träge weisse Wolken stehen darüber. Wir durchschreiten das untere Thor aus römischer Zeit und sind sofort abgeschlossen, allein mit den unvergleichlichen Bauten. Nun entfalten sich majestätisch die dorischen Säulenstellungen des Thores und seiner Flügelbauten, majestätisch noch immer, trotzdem den meisten Säulen die oberen Trommeln und das Gebälk fehlen, nun schwebt das zierliche Nike-Tempelchen wie ein kecker Vogel am äussersten Rand der Bastion weissschimmernd im griechischen Aetherblau.

Wir steigen zur Höhe des Thores hinan, bald über späte Marmorstufen-Anlagen, bald über den gewachsenen Fels, und wenden uns oben nach rechts, zwischen den Säulen des rechten Flügelbaues hindurch zur Nike-Bastion.

Immer wieder von neuem steht man hier überwältigt. Links ragt von der höchsten Stelle des Burgplateaus, über der pelasgischen Mauer des nächsten Vordergrundes, der Parthenon auf, der von hier aus kaum eine Spur der Zerstörung zeigt, und rechtshin in der Tiefe, weithin über Land und Meer, entfaltet sich die berühmteste Aussicht. Unmittelbar zu unseren Füssen steigen die mächtigen fensterreichen Hinterwände des Odeion empor, dahinter der flache Musenhügel mit dem Philopappos-Denkmal, und dann, unbeschreiblich schön, vom Rande der roten attischen Ebene gesäumt, das üppig-blaue Meer mit seinen kleinen weissen Segeln und dem begrenzenden lichten Dunststreif, mit den duftigen, zarten Umrissen der Inseln und der peloponnesischen Küste am Horizont: Hydra und Poros, Methana und Trözen, weiter im Vordergrund Ägina mit seinem »Oros«, rechts Salamis und Akrokorinth.

Platte vom Cellafries des Parthenon ( Marmor). Athen, Akropolismuseum

Man sollte meinen, dass über diese Schönheit hinaus keine Steigerung mehr möglich sei; man braucht aber nur die Propyläen zu durchschreiten und zwischen den Säulen ihrer östlichen Vorhalle hervorzutreten, um eines besseren belehrt zu werden. Der Anblick, der sich hier an heiteren Sommertagen bietet, hat auf Erden wohl kaum seinesgleichen. Bewundernd haftet der Blick auf der weiten, nackten Felsoberfläche des Burgbergs, die herrlich erschimmert wie von frischgefallenem Reif, silbergrau mit zartvioletten und rosa Tönen; sie steigt langsam zur höchsten Terrasse empor, die auf gewaltigem Unterbau den Parthenon trägt.

Dieser selbst aber, in der tiefen Stille und dem südlich hellen Licht der ersten Nachmittagstunden, ist von einer völlig geisterhaften Schönheit. Immer von neuem, so oft ich zum Bau des Iktinos zurückkehrte, erschien er mir als etwas visionär Geschautes, wie ein Traum oder eine Fata Morgana. Ich hatte die erhabenen grauen Tempelruinen von Olympia im Schatten des Kronoshügels den Jahrtausenden trotzen gesehen, während der Sturm lange Reihen von Staubwolken das Alpheiosbett entlang jagte und die Föhren des Ruinenfelds beugte; ich hatte hoch oben in arkadischer Bergeinsamkeit den silberfarbenen Apollon-Tempel von silberfarbenem Fels in den bleichen, weissen Frühjahrshimmel ragen gesehen, von wallenden Nebeln umwandelt; ich hatte hoch von ihren Küstenfelsen die Tempel von Sunion und Ägina das Meer grüssen, andere in grüner Waldwildnis träumen gesehen: aber niemals auf meinen griechischen Wanderungen hatte mich das Heimweh nach der Akropolis und dem Parthenon verlassen.

Worte können die wunschlose, harmonische Stimmung nicht hervorrufen, mit der die Musik seiner edlen Verhältnisse die Seele füllt. Diese Musik – man weiss, auf welchen feinen und vielverzweigten Berechnungen sie beruht – kann man im Angesichte der westlichen Tempelfront noch heute voll geniessen; denn nicht nur ihre acht Säulen, auch das dazugehörige Gebälk und der Giebel stehen noch da. Freilich, die ehemalige Vielfarbigkeit hat die Zeit von dem Wunder griechischer Baukunst hinweggenommen; sie hat aber den Verlust selbst wieder ersetzt. Denn den herrlichen hymettischen Marmor, dessen Bruchstücke, ein glänzend weisses, zuckeriges Korn zeigend, hier überall umherliegen, hat sie mit einem wundervollen, warmen, goldigen Ton überzogen, der mit dem Himmelsblau und den weissen Wolken darin zu einem reichen Farbenklang zusammenspielt.

Wir steigen weiter hinan auf dem durch Rillen bezeichneten Weg der panathenäischen Prozession, der zur Rechten und zur Linken von den zahlreichen Eintiefungen für Weihgeschenke gesäumt ist. Er zog sich einst die Nordseite des Tempels entlang vor die Ostfront hin; wir verlassen ihn jedoch unmittelbar vor der westlichen Stirnseite des Parthenon. Die Terrasse des heiligen Bezirkes der Artemis Brauronia haben wir zur Rechten gelassen, und ein Blick links hinüber zum Erechtheion hat uns gezeigt, dass der grösste Teil des zierlichen jonischen Baues hinter Gerüsten versteckt ist, nur die schöne östliche Vorhalle mit ihren hohen schlanken Säulen und die Korenhalle, dieses Kleinod jonisch-attischer Baukunst, stehen frei.

Hier nun, auf der Höhe des Burgfelsens, entfaltet sich der Blick über attisches Land und Meer noch viel freier und grossartiger, freilich nicht so bildmässig geschlossen, als von der Terrasse des Nike-Tempels aus. Rechts vom Parthenon dehnt sich die nackte Bergwand des Hymettos, wie ein Edelstein in durchsichtigen Farben prangend, wie von innen heraus leuchtend, wechselnd mit den Stunden des Tages vom tiefsten Dunkelblau bis zu den hellsten Silbertönen. Im Hintergrunde links ragt der giebelförmige Pentelikon auf, weiss blinken seine aufgerissenen edlen Flanken: die antiken Marmorbrüche, die den prachtvollen Stein geliefert haben, der uns hier überall umglänzt. Davor Athens neuer Stadtberg, der Lykabettos, dessen reizvoll kühner Umriss in so viele athenische Strassen und Plätze hereingrüsst, mit der triumphierenden weissen Kapelle des hl. Georg hoch oben auf seiner schwindelnden Spitze. Weiter links baut sich der Parnes auf mit der halbmondförmigen Einsenkung des Dekeleia-Passes, und von ihm entsandt zieht sich das Agaleos-Gebirge, die attische Ebene nach Nordwesten begrenzend, bis ans Meer der Insel Salamis gegenüber. Und wie ein breiter grüner Strom, den Lauf des Kephisos bezeichnend, zieht sich zu seinen Füssen der alte Ölwald durch Attikas rötlich schimmernde Feldflur bis zur Piräus-Halbinsel hinüber. Blinkende Strassen durchziehen das Land, unter ihnen die vielgewundene »heilige« nach Eleusis.

Wieder der westlichen Tempelfront, vor der wir stehen, uns zuwendend, werden wir nun freilich auch hier der Zerstörung inne: der hellglänzenden Wunden, die griechische Kanonenkugeln den Säulen geschlagen haben, der zerstörten Metopenreliefs, des fast leeren Giebels. Er erzählte einst, wie Poseidon und Athena in ihrem Verlangen nach diesem köstlichen Fleck Erde auf der Akropolis mit ihren Viergespannen zusammentrafen, von Hermes und Nike geleitet, und wie Athena den heiligen Ölbaum, Poseidon den salzigen Quell aus dem felsigen Grunde entspringen liess zum Wahrzeichen der Besitzergreifung, alles vor den staunenden Augen der vorzeitlichen Insassen der Burg, der mythischen Gründer der attischen Nation, Kekrops und Erechtheus mit den Ihrigen. Von all der Herrlichkeit ist nur in der linken Giebelhälfte der Torso eines Mannes noch an Ort und Stelle, der nach links sitzt, den (fehlenden) Kopf augenscheinlich nach rechts zurückdreht, die nackte breite Heldenbrust aber dem Beschauer zuwendet. An ihn schmiegt sich in leichtem, fliessendem Gewande ein junges Mädchen, den erschreckten Blick wohl gleichfalls nach der Mitte zurückgeworfen, wo das Wunderbare vor sich geht.

In den Metopen darunter die wildbewegten Kampfszenen sind zum Teil stark fragmentiert, zum Teil völlig verschwunden.

Um so besser ist die westliche Seite des Frieses erhalten, der einst die Cella wie ein schmückender Stirnreif umzog. Um diesen Teil des Bildwerks mit den schamhaft-bescheidenen Gestalten der jugendlichen attischen Reiter, mantelumflattert auf ihren kleinen feurigen Pferden, recht geniessen zu können, muss man dicht unter die Säulen des äusseren Umgangs herantreten.

Klimmt man aber auf den riesigen, freilich nicht für die Schritte der Menschen angelegten Tempelstufen empor, so überrascht einen wieder ein wunderbarer Anblick: durch das westliche (nicht antike) Thor der Cella eröffnet sich ein grosser Blick auf die Säulen der östlichen Hauptfront, zwischen denen die mächtige dunkle Masse des Hymettos sich hinzieht, ein Bild von eigentümlichem Reiz. Eintretend aber ins Tempel-Innere, kann man zurückblickend wieder die herrlichste Sicht auf Meere und Inseln geniessen, höchst wirkungsvoll von den gigantischen Säulen eingerahmt. Die vielen reizvollen Durchblicke aus den Bauten und durch die Bauten sind einer der Vorteile des jetzigen trümmerhaften Bauzustandes, desgleichen das reiche Hereinsprechen des blauen Äthers. Ueberhaupt ist zu sagen, dass die Akropolis auch in ihrem heutigen Zustand noch immer so unbeschreiblich schön ist, dass sie ihren Besuchern gar nicht die Stimmung aufkommen lässt, um trüben Gedanken an vergangene Pracht nachzuhängen. Und wer weiss, ob sich die Schönheit der Perikleischen Bauten einst auf dem von heiligen Gebäuden und Weihgeschenken überfüllten Plateau so frei entwickeln konnte wie heute, wo sie, unmittelbar aus dem farbigen Fels in die funkelnde Luft aufsteigend, »gewachsen, nicht gemacht erscheinen?« Haben uns nicht Dörpfelds jüngste Akropolisforschungen gelehrt, dass der alte Polias-Tempel neben dem Erechtheion das ganze Altertum hindurch stehen geblieben ist, obwohl die Korenhalle von seiner Nordseite aufs grausamste verdeckt wurde?

Kopf der lemnischen Athena ( Marmorkopie eines Bronzeoriginals). Bologna, Museo civico. Aufnahme Alinari

An den Wänden der Tempelcella rechts und links vom Eingang erinnern erlöschende altchristliche Fresken, Madonnen und Heiligenmedaillons in hellroten und goldgelben Farben auch den Laien an die wechselnden Geschicke des Hauses, das nacheinander dem heidnischen, byzantinischen, katholischen und mohammedanischen Gottesdienste geweiht war; an den Islam gemahnte noch bis vor kurzem sehr nachdrücklich das Minaret, an die Zeit, wo der Parthenon eine Moschee und das Erechtheion gegenüber die Haremswohnung eines Pascha war. Nur jenes kleine Stück steht noch von der Cellawand, und von den 34 Säulen der Langseiten ragen im Süden noch elf, im Norden zehn in die Luft, alles andere hat die Pulverexplosion von 1687 zerrissen. Wie sie damals fielen, liegen die Säulentrommeln, deren Umfang vier Männer umspannen, noch da; der Gedanke einer Wiederherstellung, der seit den ersten Jahren des jungen griechischen Königreichs immer wieder aufgetaucht ist, drängt sich an Ort und Stelle unabweislich auf. Auf dem internationalen archäologischen Kongresse, der übers andere Jahr in Athen tagt, wird die Frage auf dem Programm stehen, ob man den Parthenon vollständig oder bloss so weit es das vorhandene antike Trümmermaterial gestattet, wieder aufbauen solle. Hoffen wir, dass man sich fürs zweite entscheiden werde.

Von den Skulpturen des Ostgiebels sind nur noch ein paar Pferdeköpfe an ihrem alten Ort; zwei mutig schnaubende, emporstrebende in der linken, ein niedertauchender in der rechten Ecke. Sie gehörten den Viergespannen von Helios und Selene an: die aufgehende Morgensonne und der erbleichende Mond, Tag und Nacht, umrahmten hier einst die Geburt der Athena aus dem Haupte des Zeus in der Gegenwart der Olympier, »und es jauchzte ringsum die Erde.« Das vierte Werk des Phidiasischen Ateliers aber, die riesige Goldelfenbeinstatue der Göttin, hat an Ort und Stelle nur eine Spur hinterlassen, eine Lage grauer Porosquadern, die den Marmorestrich der Cella unterbricht. Auf diesem Fundament erhob sich das Bildwerk, nicht gleissend trotz des gleissenden Materials, sondern geheimnisvoll erglänzend in dem dunklen Tempel-Innern, in seiner feierlichen Ruhe eins mit der ruhigen architektonischen Umrahmung; der Gesamteindruck wird dem byzantinischer Apsismosaiken, dieser unvergleichlichen Wunderwerke dekorativer Kunst, am verwandtesten gewesen sein.

Umherwandelnd unter den Säulen des äusseren Umgangs und ins Land hinausblickend, kann man nicht bloss von der gegenwärtigen Schönheit, sondern von der Fülle andringender Erinnerung trunken werden. Dort, in den schattigen Gängen der Akademie, wandelte und lehrte Platon, im Hain am Kolonos daneben dichtete Sophokles und hatte Ödipus, der gottverfolgte König, Rast und Ruhe gefunden. Jenen glänzenden Weg entlang zog einst der Drachenwagen Triptolemos, ausgesandt von der eleusischen Demeter, um den Menschen die blonde Ähre zu schenken. Dort vor Salamis und Psyttaleia, den abendverklärten Inseln, »blühte« einst das Meer »von Perserblut und bunten Schiffstrümmern« (Äschylos), und vom hohen Ufer dem Untergang Asias zusehend, zerriss sich der persische Sultan den reichgestickten Kaftan; drüben, wo die Küste Trözens in der Ferne blaut, brachte die Liebe Phädras und der meerentstiegene Stier Poseidons dem reinen Sohne des Theseus jammervollen Untergang, und vom Felsen, auf dem du selber stehst, stürzt sich verzweifelnd der greise König Ägeus hinab, als das schwarzbesegelte Schiff von Kreta heranschwamm – aber es giebt kein Ende der schönen und heiligen Geschichten, die kühle Meeresluft, die die Akropolis auch an den heissesten Sommertagen umweht, blüht davon, die Berge und die Ufer ringsum, die alten Grotten und die alten Bäume, die flüsternden Wellen des Kephisos und Ilissos erzählen sie einander in nachtigalldurchsungenen Mondnächten …

Nicht bloss ein archäologisches Problem ist die Akropolis, sondern ein Heiligtum gegenwärtiger Schönheit; und heute noch wie zu Plutarchs Zeiten erfüllt und umschwebt ihre Bauten »ein immerblühender Hauch und eine unalternde Seele.«


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