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Von dem dritten Goldelfenbeinbild des Phidias, einer für Elis gearbeiteten Aphrodite Urania, ist uns nichts Näheres bekannt. Dagegen können wir uns, dank einiger glücklichen Entdeckungen der jüngsten Zeit, von dem Stil seiner Erzwerke eine ziemlich genaue Vorstellung machen.

Es ist eins der grössten Verdienste Adolf Furtwänglers, dass er uns eine dieser Bronzen, und zwar jene, die Kenner der späten Zeit am höchsten geschätzt zu haben scheinen, in einer guten Marmorkopie wiedergeschenkt hat. Es handelt sich um die im Statuenwald der Akropolis aufgestellt gewesene sogenannte Athena Lemnia, die nach der Insel Lemnos auswandernde Athener der Heimatgöttin als Abschiedsgeschenk gestiftet hatten (um die Mitte des fünften Jahrhunderts herum). Die beste Wiederholung des Torsos, dem der grösste Teil der Arme fehlt, bewahrt das Dresdener Museum, die beste des Kopfes das von Bologna.

Die Statue erinnert auf den ersten Blick zunächst an die Athena Parthenos. Im ärmellosen dorischen Chiton mit gegürtetem Überschlag wie dort steht die Göttin auf rechtem Stand- und linkem Spielbein ruhig und aufrecht da wie dort, wie dort fallen vorn die senkrechten Steilfalten, an der rechten Seite die Gewandsäume in grossen Wellen.

Aber die Unterschiede sind nicht weniger charakteristisch, sowohl für das andre Material als für die andre Stimmung des Werks. Ruhig fiel dort der linke Arm der Göttin herab, hier lädt er weit aus, was die Bronzetechnik bequem gestattet, und hält, sie hoch greifend, die aufgestellte Lanze. Nicht panzergleich, sondern eher zu maidlichem Schmuck dient ihr hier die malerisch quer über Brust und rechte Hüfte gezogene Ägis, die wie dort schlagenschuppig, von Schlangen umringelt und mit dem Kopf der Meduse gebildet ist. Das Wichtigste aber ist, dass dem vom überschweren Helm fast erdrückten Haupte dort ein helmloses hier gegenübersteht, und dem entsprechend die vollen breiten Formen des Kopfes dort hier ins Hohe und Schmale gezogen sind; auch sieht der Kopf nicht gradaus vor sich hin, wie dort, sondern ist ein wenig geneigt und nach der rechten Schulter gewendet. In der Rechten trug die Göttin den Helm.

Man sieht, die Komposition der Bronze ist im Vergleiche zum Goldelfenbeinbild lebhafter, freier, die Charakteristik individueller. Den Hauptanteil daran trägt der Kopf mit seiner wie unwillkürlichen Bewegung und einem ganz persönlichen Reiz, der schon im späteren Altertum auffiel. Er erinnert in seiner Intimität an den (gleichfalls helmlosen) Kopf der Athena im Ostfries des Parthenon, die ja auch sozusagen eine mehr private als offizielle Auffassung der Göttin zur Schau trägt. Was sich der Erinnerung am tiefsten einprägt, ist die vielbewunderte Art, wie der Kopf und Hals auf dem Rumpfe aufsitzen und wie die breite Kopfbinde so tief in das gescheitelte und gewellte Haar einschneidet, dass es wie ein schattiger Blätterkranz in entzückendem Umriss die Stirn umrahmt.

Das Motiv der leisen Neigung und Wendung des Kopfes scheint mir das eines wehmütigen Nachsehens zu sein. In friedlichen Zeiten, darauf deutet das unbehelmte Haupt und andres, hat die Stadtgöttin von ihren ausziehenden Kindern Abschied genommen; fest und aufrecht steht die Burghüterin da, aber mit einer Wendung und innigen Neigung des Hauptes, die wie von einer leisen Wehmut umflort ist, sieht das schöne Mädchen den Entschwindenden nach …

Also auch hier wieder ein »Gelegenheitsgedicht« im höchsten Sinne des Wortes, ein grosser Moment im Leben jener attischen Kolonisten, die Stunde des Abschieds von der geliebten Vaterstadt, für ewig festgehalten im Denkmal.


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