Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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II. William J. Hypperbone

Daraus, daß sich die Herren James T. Davidson, Gordon S. Allen, Harry B. Andrews, John J. Dickinson, Georges B. Higginbotham und Thomas R. Carlisle unter den ehrsamen Gruppen befanden, die dem Leichenwagen unmittelbar folgten, darf man nicht etwa schließen, daß sie grade die hervorragendsten Mitglieder des Excentric Club gewesen wären.

Die Wahrheit zu sagen, bestand das Excentrische in ihrem Leben auf dieser Erde einzig darin, daß sie dem genannten Club in der Mohawkstraße angehörten. Vielleicht beabsichtigten anfänglich diese schwerwiegenden Söhne Bruder Jonathans, die durch wiederholte glückliche Bodenspeculationen, durch Pökelanstalten, Petroleum, Eisenbahnen, Erzbergwerke, Elevatorenbetriebe oder durch Großschlächtereien sehr reich geworden waren, ihren Landsleuten von den einundfünfzig Staaten der Union und der Neuen und Alten Welt durch ultraamerikanische Absonderlichkeiten ein erregendes Schauspiel zu bieten; ihr öffentliches und privates Leben aber zeichnete sich unbedingt durch nichts aus, was ihnen die Aufmerksamkeit der Erdbewohner hätte zulenken können. Sie bildeten nur einen Verein von fünfzig Mitgliedern, die recht hohe Beiträge bezahlten, mit der Chicagoer Gesellschaft keine näheren Verbindungen unterhielten, die ihre Spiel- und Lesezimmer fleißig besuchten, daselbst eine Menge Journale und Revüen durchflogen, wie in allen derartigen Kreisen mehr oder weniger hoch spielten und sich gelegentlich bei Erwähnung dessen, was sie bisher gethan hatten und jetzt vielleicht thaten, ehrlich zugestanden:

»Entschieden sind wir keineswegs – nein, nicht im mindesten excentrisch!«

Einer der Herren schien aber doch mehr als seine Collegen Veranlagung zur Originalität zu verrathen. Hatte er sich bisher auch noch nicht durch eine Reihe Aufsehen erregender Wunderlichkeiten hervorgethan, so glaubte man doch, darauf rechnen zu dürfen, daß er in Zukunft den dem berühmten Vereine etwas vorschnell gegebenen Namen rechtfertigen werde.

Leider sollte William J. Hypperbone unerwartet das Zeitliche segnen. Freilich mußte man anerkennen, daß er, was er bei Lebzeiten nicht gethan, in eigner Weise nach seinem Tode ausgeführt hatte, denn nur seinem ausdrücklichen Wunsche gemäß ging das Begräbniß des Sonderlings inmitten allgemeinen Jubels vor sich.

Der selige William J. Hypperbone hatte zur Zeit, als er sein Dasein plötzlich endete, kaum das fünfzigste Lebensjahr überschritten. In diesem Alter war er noch ein hübscher, hochgewachsener, breitschulteriger Mann mit mächtigem Brustkasten, straffer Haltung und nicht ohne eine gewisse Eleganz, ohne eine gewisse Vornehmheit. Er hatte »meliertes«, stets kurz gehaltenes Haar, einen fächerartig abstehenden goldblonden Bart, der bereits mit einzelnen Silberfäden vermischt war, tiefblaue Augen mit glänzender, unter dichten Lidern hervorleuchtender Pupille und einen Mund mit noch lückenloser Zahnreihe und eng geschlossenen Lippen, dessen Linie seitwärts leicht aufstieg – das Zeichen eines zu spöttischem Scherz, selbst zu etwas Hochmuth geneigten Temperaments.

Dieses prächtige Musterbild eines Nordamerikaners erfreute sich einer eisernen Gesundheit. Nie hatte ein Arzt ihm nach dem Puls gefühlt, nie einer seine Zunge geprüft, ihm in den Hals gesehen, die Brust beklopft oder das Herz behorcht, niemals war seine Körpertemperatur mittelst Thermometers gemessen worden. Und an Aerzten fehlt es in Chicago grade nicht – auch nicht an Zahnärzten, die alle im Rufe besonderer Geschicklichkeit stehen, von denen aber keiner je Gelegenheit gehabt hatte, seine Kunst an ihm zu beweisen.

Man hätte also sagen können, daß eigentlich keine Maschine – und wäre es eine von hundert Aerztekraft – im Stande gewesen wäre, ihn aus dieser Welt zu reißen und in eine andre zu befördern; dennoch war er jetzt gestorben, ohne Hilfe der medicinischen Facultät – und infolge dieser überraschenden Leistung stand eben sein Leichenwagen jetzt vor dem Thore der Oakswoods Cemetry.

Um dieses Bild der physischen Persönlichkeit des Mannes nach der seelischen Seite hin zu ergänzen, müssen wir hinzufügen, daß William J. Hypperbone von Natur kühl und bestimmt war und unter allen Umständen Herr seiner selbst zu bleiben wußte. Wenn er am Leben etwas Schätzenswerthes fand, so fand er das als Philosoph, und mit der Philosophie wird man sich ja leicht befreunden, wenn ein großes Vermögen, das Freisein von jeder Sorge für die Gesundheit und für eine Familie es gestatten, das Wohlwollen mit der Freigebigkeit zu verbinden.

Da drängt sich freilich die Frage auf, ob es logisch sei, von einer so praktischen, so gleichmäßig abgewogenen Persönlichkeit überhaupt eine excentrische That zu erwarten. Fand sich in der Vergangenheit dieses Amerikaners wohl eine Thatsache, die so etwas glauben ließ?

Ja, eine einzige.

Im Alter von vierzig Jahren stehend, hatte William J. Hypperbone den Gedanken gehabt, mit der am unzweifelhaftesten nachgewiesenen Hundertjährigen der Neuen Welt eine gesetzmäßige Ehe einzugehen. Die betreffende Dame war 1781 grade an dem Tage geboren, wo die Capitulation des Lord Cornwallis im Befreiungskriege England zwang, die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anzuerkennen. In der Stunde aber, wo er um die Hand der ehrbaren Miß Anthonia Burgoyne anhalten wollte, wurde die Erkorne durch einen Anfall kindlichen Keuchhustens dahingerafft. William J. Hypperbone konnte nicht einmal ein Jawort zu hören bekommen. Treu dem Andenken der ehrwürdigen Miß blieb er aber Junggesell, und das kann man doch für einen recht leidlich excentrischen Streich halten.

Später vermochte nichts mehr sein ruhiges Leben zu stören, denn er gehörte nicht zur Schule jenes Dichters, der in prächtigen Versen sagt:

O Tod, Du düstrer Gott, der alles an sich rafft,
Nimm Deine Kinder auf an sternbesätem Herde.
Befreie sie von Zeit, von Zahl, von Raum und Kraft,
Gieb wieder all'n die Ruh, die einst ihr Leben störte.

Ja, warum hätte William J. Hypperbone auch je daran denken sollen, den »düstern Gott« anzurufen? Zeit, Zahl, Raum hatten ihn hienieden ja niemals belästigt, Kraft hatte ihm niemals gefehlt und auf dieser Erde war ihm so gut wie alles nach Wunsch gegangen. Er durfte sich wirklich für den bevorzugten Günstling des Glücks ansehen, das sich ihm immer und überall hold erwiesen hatte. Schon mit fünfundzwanzig Jahren im Besitz eines ansehnlichen Vermögens, hatte er dieses durch glückliche Speculationen und ohne jedweden Mißerfolg zu verzehnfachen, zu verhundert-, zu vertausendfachen verstanden. Aus Chicago selbst gebürtig, hatte er nur der wunderbaren Entwickelung dieser Stadt zu folgen gehabt, deren sechsundvierzigtausend Hektare – wie ein Reisender versichert – 1823 zweitausendfünfhundert Dollars Werth waren, heute aber im Preise von achttausend Millionen stehen. William J. Hypperbone konnte also, indem er Grund und Boden billig kaufte und davon vieles an Kauflustige, das Quadratyard zu zwei- bis dreitausend Dollars, zur Erbauung achtundzwanzig Stockwerke hoher Häuser wieder abtrat, und indem er sich daneben an Eisenbahngründungen, Petroleumbohrgeschäften und Goldbergwerken betheiligte, leicht so reich werden, daß er bei seinem Ableben ein ungeheures Vermögen hinterließ. Miß Anthonia Burgoyne hatte in der That unrecht daran gethan, sich eine so schöne Heirat entgehen zu lassen.

Wenn es indeß nicht wundernehmen konnte, daß der unerbittliche Tod die Hundertjährige in einem solchen Alter dahingerafft hatte, konnte man doch darüber erstaunt sein, daß William J. Hypperbone als kaum Halbhundertjähriger, der noch in der Vollkraft des Lebens stand, sich mit ihr in jener Welt, die er für eine bessere zu halten gar keine Ursache hatte, so bald wieder vereinigen sollte.

Jetzt, wo er nicht mehr war, tauchte nun die Frage auf, wem die Millionen des ehrenwerthen Mitglieds des Excentric Club zufallen würden.

Anfänglich kam man auf den Gedanken, daß der Club wohl zum Universalerben des ersten seiner Mitglieder, das seit der Gründung desselben dieser Welt Ade gesagt hatte, eingesetzt sein könnte – was die übrigen Mitglieder vielleicht veranlaßte, diesem Beispiele zu folgen.

William J. Hypperbone hatte nämlich schon lange Zeit weit mehr in den Clubräumen der Mohawk Street als in seinem Hause in der La Salle Street gelebt. Er speiste dort, ruhte dort aus und ging ebenda seinen Vergnügungen nach, von denen die beliebteste – darauf ist hier Gewicht zu legen – das Spiel war, doch nicht etwa das Schach- oder Puffspiel, nicht Trictrac oder ein Kartenspiel, nicht Baccarat noch Trente et Quarante, nicht Landsknecht oder Poker, auch nicht Écarté oder Whist, sondern ein Spiel, das er selbst erst im Club eingeführt hatte und dem er mit Vorliebe huldigte.

Es war das das Gänsespiel, das vornehme, nur mehr oder weniger modernisierte Spiel der Griechen des Alterthums. So leidenschaftlich war er diesem ergeben, daß er schließlich seine Clubgenossen dafür zu begeistern vermochte. Er konnte es gar nicht erwarten, nach den Launen des Würfelfalls von Feld zu Feld zu springen, von einer Gans zur andern zu kommen, um die letzte dieser Bewohnerinnen des Geflügelhofs zu erreichen; es trieb ihn, auf der »Brücke« zu lustwandeln, im »Gasthofe« zu verweilen, sich im »Labyrinth« zu verirren, in den »Schacht« zu fallen, sich im »Gefängniß« einzumauern und an den »Todtenkopf« zu stoßen, sowie die Felder des »Seemanns, Fischers, des Hasens und des Hirsches, der Mühle, der Schlange, der Sonne, des Helms, des Löwen und Kaninchens, des Blumentopfes« u. s. w. u. s. w. zu überschreiten.

Unter den so geldbeutelschweren Leuten des Excentric Club waren die nach den Spielregeln zu zahlenden Strafen natürlich nicht gering; sie gingen bis in die Tausende von Dollars und der Gewinner steckte, so reich er auch sein mochte, die sehr ansehnliche Summe derselben stets mit Vergnügen in die Tasche.

Seit zehn Jahren schon verbrachte William J. Hypperbone also seine Tage meist in den Clubräumen, höchstens machte er dann und wann einen Spaziergang am Ufer des Michigansees. Ohne die Liebhaberei der Amerikaner, die Welt zu durchstreifen, hatte er seine Reisen auf das Gebiet der Vereinigten Staaten beschränkt. Warum sollten ihn seine Collegen, mit denen er stets auf dem besten Fuße gestanden hatte, also nicht beerben? Sie waren ja die einzigen lebenden Wesen, mit denen er durch die Bande geistiger Uebereinstimmung und bewährter Freundschaft verknüpft gewesen war. Sie hatten ja mit ihm die nie zu zügelnde Leidenschaft für das edle Gänsespiel getheilt, mit ihm gekämpft auf dem Felde, wo der Zufall so viele Ueberraschungen bereitet. Mindestens mußte William J. Hypperbone doch der Gedanke gekommen sein, einen jährlich zu vertheilenden Preis für den seiner treuen Partner zu stiften, der zwischen dem 1. Januar und dem 31. December die meisten Partien gewonnen hätte . . .

Wir müssen hier einschalten, daß der Verstorbene weder Familie noch einen directen oder einen Seitenerben hatte und daß auch keine erbberechtigten entfernten Verwandten vorhanden waren. Hatte er nicht letztwillig über sein Vermögen verfügt, so fiel dieses natürlich der Bundesrepublik zu, die es gewiß, wie jeder beliebige monarchische Staat, annahm, ohne sich erst darum bitten zu lassen.

Um zu erfahren, wie es mit einem etwaigen Testamente des Dahingeschiedenen stände, brauchte man sich übrigens nur in der Sheldon Street Nr. 17 an den Notar Tornbrock zu wenden und diesen zu fragen, erstens, ob ein Testament William J. Hypperbone's überhaupt vorhanden sei, und zweitens, welche Klauseln und Bestimmungen es enthalte.

»Meine Herren,« erklärte Meister Tornbrock den Herren Georges B. Higginbotham, dem Vorsitzenden, und Thomas R. Carlisle, die vom Excentric Club beauftragt waren, bei dem sehr ernsthaften Gerichtsschreiber Erkundigungen in der vorliegenden Angelegenheit einzuziehen – »ich erwartete schon, durch Ihren Besuch beehrt zu werden . . .«

»Ganz auf unsrer Seite!« antworteten die beiden Clubmitglieder mit einer leichten Verbeugung.

»Doch, ehe wir uns mit dem Testamente selbst beschäftigen können,« fuhr der Notar fort, »wird erst das Begräbniß des Verstorbenen zu ordnen sein.«

»Nun, soll das nicht,« fiel Georges B. Higginbotham ein, »mit all dem Glanze vor sich gehen, der unseres seligen Collegen würdig ist?«

»Ich habe mich nur an die Vorschriften meines Clienten zu halten, die in diesen Schriftstücken niedergelegt sind,« erwiderte Tornbrock, indem er einen großen Briefumschlag, dessen Siegel er schon erbrochen hatte, vorwies.

»Und dieses Begräbniß wird . . .?« fragte Thomas R. Carlisle.

»Gleichzeitig prunkhafter und freudiger Art sein, meine Herren; es wird unter Begleitung von Musikern und Sängern vor sich gehen und jedenfalls unter dem Zulauf einer gewaltigen Volksmenge, die es nicht unterlassen wird, dem Andenken William J. Hypperbone's freudige Hurrahs darzubringen.«

»Ich erwartete nichts anderes von einem Mitgliede unseres Clubs,« äußerte der Präsident, zustimmend mit dem Kopfe nickend.

»Er konnte sich unmöglich wie ein gewöhnlicher Sterblicher begraben lassen,« setzte Thomas R. Carlisle hinzu.

»Ferner hat,« nahm Tornbrock wieder das Wort, »William J. Hypperbone seinen Willen dahin kund gethan, daß die gesammte Bevölkerung Chicagos bei seiner Bestattung durch eine Abordnung von sechs Personen vertreten sei, die unter gewissen Bedingungen durch Auslosung erwählt worden sind. In Hinblick hierauf hatte er schon seit mehreren Monaten die Namen seiner Chicagoer Mitbürger beiderlei Geschlechts – aller, die zwischen zwanzig und sechzig Jahre zählten – in einer Urne gesammelt. Gestern – seine genauen Vorschriften verpflichteten mich dazu – hab' ich diese Auslosung im Beisein des Bürgermeisters und einiger Rathsherren vorgenommen. Den sechs ersten Personen, deren Namen gezogen worden waren, hab ich mittelst eingeschriebenen Briefs Mittheilung von den Bestimmungen des Entseelten zugehen lassen und sie eingeladen, beim Leichenzuge mit an der Spitze zu gehen, habe sie auch dringend ersucht, sich der Pflicht, dem Verstorbenen die letzten Ehren zu erweisen, nicht zu entziehen . . .«

»Sie werden sich wohl hüten, auszubleiben,« rief Thomas R. Carlisle, »denn aller Vermuthung nach dürften sie von dem Testator sehr reichlich bedacht sein, wenn er sie nicht gar als alleinige Erben eingesetzt hat?«

»Das wäre ja möglich,« meinte Tornbrock, »erstaunen würde ich darüber wenigstens nicht.«

»Und welchen Bedingungen müssen die durch das Los bestimmten Personen entsprechen?« erkundigte sich Georges B. Higginbotham.

»Nur einer einzigen,« erklärte der Notar, »sie müssen in Chicago geboren und hier wohnhaft sein.«

»Wie . . . keiner andern?«

»Keiner!«

»Gut, das ist abgemacht,« sagte Thomas R. Carlisle; »doch wann werden Sie, Herr Tornbrock, das eigentliche Testament eröffnen?«

»Vierzehn Tage nach dem Begräbniß.«

»Erst in vierzehn Tagen? . . .«

»Erst dann . . . wie es eine hier folgende Anmerkung vorschreibt . . . also am fünfzehnten April.«

»Und warum diese Verzögerung?«

»Weil mein Client, ehe er seinen letzten Willen öffentlich bekannt werden ließe, wünschte, die zweifellose Gewißheit erlangt zu sehen, daß er unwiderruflich aus dieser Welt geschieden sei.«

»Ein praktischer Mann, unser Freund Hypperbone!« meinte Georges B. Higginbotham.

»Man könnte es unter so ernsten Umständen gar nicht noch mehr sein,« setzte Thomas R. Carlisle hinzu, »und wenn man sich nicht gerade verbrennen ließe . . .«

»Da liefe man,« beeilte sich der Notar einzuwenden, »auch noch Gefahr, lebendig verbrannt zu werden . . .«

»Gewiß,« stimmte der Clubvorsitzende ihm zu, »doch wenn das einmal geschehen ist, weiß einer wenigstens, daß er sicherlich todt ist!«

Von einer Einäscherung der Leiche William J. Hypperbone's war indeß keine Rede – diese lag schlecht und recht in einem Prunksarge unter dem Behange des Wagens.

Selbstverständlich hatte sich die Nachricht von dem Heimgange William J. Hypperbone's in der Stadt schnell verbreitet und eine wahrhaft wunderbare Wirkung hervorgebracht.

Von der ersten Stunde an wußte man darüber folgendes:

Am Nachmittage des 30. März hatte das ehrenwerthe Mitglied des Excentric Club mit zwei seiner Collegen vor der Tafel des edeln Gänsespiels gesessen. Eben hatte er den ersten Wurf gethan und dabei neun (6+3) erzielt – ein sehr glücklicher Anfang, der ihn gleich nach dem sechsundfünfzigsten Felde brachte.

Da steigt ihm das Blut zu Gesicht, seine Glieder strecken sich aus. Er will sich erheben, taumelt bei dem Versuche, streckt die Hände vor und wäre unfehlbar auf dem Parquet zusammengebrochen, wenn John T. Dickinson und Harry B. Andrews ihn nicht in den Armen aufgefangen und auf ein Sopha niedergelegt hätten.

Jetzt galt es, schleunigst einen Arzt herbeizuschaffen. Es kamen ihrer gleich zwei. Ihre Aussage ging dahin, daß William J. Hypperbone einer Gehirncongestion erlegen, daß es mit ihm vorbei sei, und, das weiß der Himmel, der Doctor H. Burnham aus der Cleveland Avenue und der Doctor S. Buchanan aus der Franklin-Street verstanden sich auf Todesfälle.

Eine Stunde später war der Verblichene schon nach dem Wohnzimmer in seinem großen Hause geschafft und der sofort benachrichtigte Notar Tornbrock ohne einen Augenblick zu verlieren dahin geeilt.

Die erste Sorge des Notars bestand darin, den Umschlag zu erbrechen, der bezüglich der Bestattung die Anordnungen des Entschlafenen enthielt. Durch diese wurde er beauftragt, ohne Zögern die sechs Personen auslosen zu lassen, die sich dem Gefolge beim Begräbniß anschließen sollten und deren Namen mit mehreren hunderttausend andern in einer großen, in der Mitte der Hausflur stehenden Urne enthalten waren.

Als diese wunderliche Vorschrift bekannt wurde, überfiel den Notar Tornbrock, wie man sich leicht denken kann, eine ganze Wolke von Journalisten, die Berichterstatter der »Chicago Tribune», des »Chicago Inter-Ocean« und des »Chicago Evening Journal« (das sind lauter republikanische, also conservative Blätter), ebenso wie die des »Chicago Globe«, »Chicago Herald«, der »Chicago Times«, »Chicago Mail« und »Chicago Evening Post« (lauter demokratische, also liberale Blätter), ihnen schlossen sich aber auch die der »Chicago Daily News«, des »Daily News Record«, der »Freien Presse« und der »Staatszeitung« (politisch unabhängige Blätter) an. Das vornehme Haus in der La Salle Street wurde den ganzen halben Tag gar nicht leer. Die Ausstöberer von Neuigkeiten, Lieferanten für die Rubrik »Verschiedenes« und die Redacteure für Aufsehen erregende Stadtchronik strömten aber nicht etwa hierher, um einer vor dem andern Einzelheiten über den Tod William J. Hypperbone's einzuheimsen, über die Ursachen, die bei dem berühmten Würfelfall von 6+3 ihn so unerwartet hinweggerafft hatten . . . nein, alle waren auf die sechs Namen, die aus der Urne hervorgehen sollten, gespannt.

Von der Menge arg bedrängt, wußte sich Meister Tornbrock als hervorragend praktischer Mann – was übrigens seine allermeisten Landsleute in seltenem Grade sind – aus der Verlegenheit zu helfen. Er erklärte, die Namen zur Versteigerung bringen zu wollen, sie nur dem Journale zu liefern, das den höchsten Preis dafür zahlen würde, unter dem Vorbehalt, daß die erreichte Summe zwischen zweien der einundzwanzig Krankenhäuser der Stadt vertheilt würde.

Den Sieg über ihre Mitbewerber trug die »Tribune« davon – mit zehntausend Dollars, ja, bis so weit trieb sie in hartem Kampfe mit dem »Chicago Inter-Ocean« den Preis hinauf.

An diesem Tage rieben sie sich schmunzelnd die Hände, die Verwalter der Charitable Eye and Ear Infirmary, 237, W. Adams Street, und die des Chicago Hospital for Women and Children, W. Adams Street, Corner Paulina!

Welcher Erfolg aber am nächsten Tage auch für das einflußreiche Blatt, und welch hübsche Einnahme erzielte es aus einer besondern zweiten Ausgabe von zwei Millionen fünfmalhunderttausend Exemplaren! Hunderttausendweise mußten diese nach den damals bestehenden einundfünfzig Staaten der Union versendet werden.

»Die Namen,« riefen seine Austräger, »die Namen jener sechs Glücklichen von uns, die die Verlosung aus der Einwohnerschaft Chicagos bestimmt hatte!«

Es waren die sechs »Chançards« (Glückskinder), wie man sie unter Entlehnung dieses Ausdruckes aus dem Wörterbuche nannte, das die französische Akademie unlängst mit diesem neuen Worte bereichert hatte – oder auch abgekürzt die »Sechs« zu nennen beliebte.

Solche Lärm machende Wagnisse lagen übrigens in der Gepflogenheit der »Tribune«; doch was könnte sich auch das wohlunterrichtete Blatt aus der Dearborn und Madison Street nicht leisten, das mit dem Budget von einer Million Dollars rechnet und für dessen, mit tausend Dollars aufgelegte Actien heute fünfundzwanzigtausend bezahlt werden.

Abgesehen von der regelrechten Nummer des 1. April veröffentlichte die »Tribune« die sechs Namen auch mittelst besonderer Liste, die ihre Vertreter bis in die entferntesten Ortschaften der Republik der Vereinigten Staaten massenhaft verbreiteten.

Wir geben hier in der durch das Los bestimmten Reihenfolge diese Namen wieder, die lange Monate hindurch wegen ganz außergewöhnlicher Umstände, welche auch der findigste europäische Romandichter nicht hätte ersinnen können, in der halben Welt wiederhallen sollten:

Max Real.
Tom Crabbe.
Hermann Titbury.
Harris T. Kymbale.
Lissy Wag.
Hodge Urrican.

Wie man sieht, gehören von diesen sechs Auserwählten fünf dem stärkeren und nur eine Person dem schwächeren Geschlechte an – wenn diese Bezeichnung noch passend ist, wo es sich um amerikanische Frauen handelt.

Die öffentliche Neugierde sollte in der ersten Stunde jedoch nicht vollkommen befriedigt werden – man fragte sich nun, wer die Träger dieser sechs Namen seien, wo sie wohnten, welcher Gesellschaftsklasse sie angehörten u. dgl. Darüber konnte die »Tribune« ihren unzähligen Lesern freilich vorläufig nichts mittheilen.

Ja, lebten sie denn zur Zeit auch noch, die Auserwählten der posthumen Verlosung? Diese Frage erschien doch nicht unwichtig.

Die Einlegung der Namen in die Urne war schon vor einiger Zeit, vor mehreren Monaten erfolgt, und angenommen, daß inzwischen keiner von denen, die das Los bestimmt hatte, gestorben war, so konnte doch der oder jener Amerika verlassen haben.

Waren sie aber in der Lage, den Bestattungszug zu begleiten, so nahmen sie, wenn auch darum vorher nicht befragt, ohne Zweifel ihre Plätze um den Wagen ein. Es erschien ja ausgeschlossen, daß sie abschläglich antworteten, daß sie der besonderlichen, doch ernsthaft gemeinten Aufforderung William J. Hypperbone's – der sich wenigstens nach seinem Hintritt als excentrisch erwies – nicht nachkommen und damit auf die Vortheile verzichten sollten, die das im Bureau des Notar Tornbrock niedergelegte Testament ihnen ohne Zweifel zuwandte.

Nein, sie waren jedenfalls zur Stelle, denn sie konnten sich mit Recht als Erben des großen Vermögens des Hingeschiedenen betrachten, und die Erbschaft entging diesmal gewiß der beutegierigen Hand des Staates.

Davon konnte man sich drei Tage später überzeugen, als die »Sechs«, ohne einander bisher zu kennen, auf dem Austritt des großen Hauses in der La Salle Street erschienen und der Notar ihnen, nach gewissenhafter Feststellung ihrer Persönlichkeit, die Guirlanden des Leichenwagens zum Halten überreichte.

Wie neugierig wurden sie aber von allen betrachtet und gleichzeitig wegen ihres Glücks beneidet! Auf Anordnung William J. Hypperbone's, der jedes Zeichen von Trauer bei seinem großartigen Begräbnisse bestimmt ausgeschlossen wissen wollte, hatten sie sich der in den Tagesblättern veröffentlichten Klausel gefügt und Festtagskleider angelegt – Kleidungsstücke, die durch ihre Qualität und ihren Schnitt schon verriethen, daß deren Träger sehr verschiedenen Gesellschaftsclassen angehörten.

Aufgestellt wurden sie in folgender Ordnung:

In erster Reihe: Lissy Wag zur Rechten, Max Real zur Linken.

In zweiter: Hermann Titbury zur Rechten, Hodge Urrican zur Linken.

In dritter Reihe: Harris T. Kymbale zur Rechten, Tom Crabbe zur Linken.

Tausend Hurrahs begrüßten sie, als die Aufstellung vollendet war – Hurrahs, denen sie mit einer freundlichen Verneigung antworteten, welche freilich von der andern Seite keine Erwiderung fand.

In dieser Weise setzten sie sich also in Bewegung, als der polizeiliche Aufsichtsbeamte das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, und ebenso folgten sie acht volle Stunden lang den Straßen, Alleen und Boulevards der großen Stadt.

Wie erwähnt, kannten die sechs zum Begräbniß William J. Hypperbone's Eingeladenen einander bisher nicht, sie zögerten aber nicht, gegenseitig Bekanntschaft zu machen. Und wer weiß – die menschliche Habgier ist ja unersättlich – ob die Anwärter auf die zukünftige Erbschaft sich nicht schon als Rivalen betrachteten und vielleicht fürchteten, daß diese nur einem einzigen von ihnen zufallen und nicht unter den Sechsen vertheilt werden möchte.

Der Leser weiß schon, wie dieses Begräbniß vor sich ging, unter welchem ungeheuern Zulauf von Schaulustigen es seinen Prunk von der La Salle Street bis zum Oakswoodsfriedhofe entfaltete, von welchen Orchester- und Gesangsvorträgen, die nichts von düsterer Trauer an sich hatten, es begleitet wurde und welch freudige Ausrufe beim Vorüberkommen des Zugs zur Ehre des Verstorbenen überall erschollen.

Jetzt handelte es sich nur noch darum, in das stille Reich der Todten einzutreten und den, der einst William J. Hypperbone vom Club der Excentrischen war, in seinem Grabe zur ewigen Ruhe zu betten.

 


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