Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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X. Ein Berichterstatter auf der Reise

»Ja, meine Herren, auf Wort! – ich betrachte diesen Match Hypperbone als eines der wunderbarsten nationalen Ereignisse, womit sich die Geschichte unsers ruhmreichen Landes bereichern wird! Nach dem Unabhängigkeitskampfe, dem großen Bürgerkriege, der Verkündigung der Monroe-Doctrin und dem Inkrafttreten der Mac Kinley Bill ist dieser Match die hervorragendste Thatsache, der die Phantasie eines Mitgliedes des Excentric Club die Aufmerksamkeit der ganzen Welt zugelenkt hat!«

So äußerte sich Harris T. Kymbale gegen die Reisenden des Bahnzugs, mit dem er am 7. Mai die Stadt Chicago verließ. Voller freudigen Zuversicht bewegte sich der Berichterstatter der »Tribune« durch den Mittelgang des Waggons declamierend von vorn nach hinten, dann über den je zwei Wagen verbindenden Steig von einem zum andern, von der Spitze bis zum Ende des Zuges, der unter Volldampf am Südufer des Michigansees dahinjagte.

Harris T. Kymbale war allein abgereist. Wohl hatten sich mehrere seiner Collegen erboten, ihn zu begleiten, er hatte das aber mit verbindlichem Danke abgelehnt. Nicht einmal einen Diener wollte er um sich haben – er wollte ganz allein sein. Ihm kam es auch gar nicht in den Sinn, auf der Reise, gleich Max Real und Hermann Titbury, unerkannt zu bleiben. Er würdigte jedermann seines Vertrauens und hätte an seinem Hute am liebsten ein Schild mit der Aufschrift »Vierter Partner im Match Hypperbone« befestigt. Unter zahlreicher Begleitung auf dem Bahnhofe eingetroffen, wurde er mit lauten Hurrahs geehrt und mit Glückwünschen zur bevorstehenden Kreuzfahrt überhäuft. Er war auch so wohl vorbereitet, so zuversichtlich, so zielbewußt und gleichzeitig als so kühn und entschlossen bekannt, daß auf seinen Kopf schon jetzt mehrfach Wetten abgeschlossen wurden. Man setzte auf ihn zu eins gegen zwei, ja gegen drei; das schmeichelte dem jungen Manne und erschien ihm als eine gute Vorbedeutung.

Hatte sich Harris T. Kymbale aber auch jede Begleitung auf seinen vom Zufalle abhängigen Kreuz- und Querzügen durch das Gebiet der Union verbeten, so fiel es ihm doch, wie der Leser schon gesehen hat, gar nicht ein, in seiner Ecke den Einsiedler zu spielen, sich stummem Hinbrüten zu überlassen und nur lautlosen Selbstgesprächen hinzugeben. Im Gegentheil, alle Reisenden, mit denen er zusammenträfe, sollten sich für sein Vorhaben interessieren lernen. Er gehörte ein wenig zu dem Schlage von Menschen, die nur denken, wenn sie reden, und mit Worten sollte er sich unterwegs ebensowenig wie mit dem Geldbeutel als geizig erweisen. Die Casse der steinreichen »Tribune« stand ihm ja offen und er wollte sie schon genügend anzapfen zur Deckung der Kosten von Interviews, für beschreibende Aufsätze, für Neuigkeiten und Artikel jeder Art, wozu ihm der Verlauf des Matches gewiß reichlichen und interessanten Stoff liefern würde.

»Schreiben Sie aber,« fragte ein Herr – ein Yankee vom Scheitel bis zu den Zehen – »dieser von William J. Hypperbone ausgeklügelten Partie nicht eine zu große Wichtigkeit zu?«

»Nein, mein Herr,« antwortete der Reporter, »ich meine vielmehr, eine so durchweg originelle Idee konnte nur einem ultraamerikanischen Hirn entspringen.«

»Sie haben recht,« bemerkte ein behäbiger Kaufmann aus Chicago. »Die ganzen Vereinigten Staaten sind außer Rand und Band; am Tage seines Begräbnisses war es ja zu sehen, welcher Volksthümlichkeit der Entschlafene sich so kurz nach seinem Ableben schon erfreute.«

»Hatten Sie, mein Herr,« fragte da eine Dame mit Brotbeutel und mit Brille, die, von Decken verhüllt, in einer Ecke saß, »sich etwa dem Leichenzuge angeschlossen?«

»Als wenn ich einer der Erben unsers großen Mitbürgers gewesen wäre,« versicherte der Chicagoer, den der Stolz noch etwas mehr aufblähte, »und ich fühle mich ganz besonders geehrt, hier auf dem Wege nach Detroit mit einem seiner spätern Erben zusammengetroffen zu sein.«

»Sie gehen nach Detroit?« erkundigte sich Harris T. Kymbale, die Hand ausstreckend.

»Nach Detroit in Michigan.«

»Ah, geehrter Herr, dann werd' ich das Vergnügen haben, Sie bis zu dieser Stadt mit so aussichtsreicher Zukunft zu begleiten . . . einer Stadt, die ich noch nicht kenne, aber kennen zu lernen wünschte.«

»Dazu wird es Ihnen an Zeit fehlen, Herr Kymbale,« erwiderte der Yankee so lebhaft, daß man hätte meinen können, er sei an einer Wette auf seinen Reisegenossen betheiligt. »Sie würden dadurch ihre Fahrt verlängern, und ich wiederhole Ihnen, dazu haben Sie keine Zeit . . .«

»Man hat immer und zu allem Zeit!« antwortete Harris T. Kymbale in bestimmtem Ton, der ihm recht gut anstand.

Stolz, einen so temperamentvollen Reisenden zu bergen, erdröhnte der Wagen von jubelnden Hipps, die sich bis zum Zugsende fortpflanzten.

»Erlauben Sie eine Frage, mein Herr,« begann jetzt ein in den reiferen Jahren stehender Geistlicher, der, den Klemmer auf der Nase, den Journalisten mit den Blicken fast verzehrte, »sind Sie befriedigt von dem ersten Fallen der Würfel für Sie?«

»Ja und nein, Hochehrwürden,« antwortete Kymbale respectvoll. »Ja . . . denn die vor mir abgereisten Partner haben das zweite, das achte und das elfte Feld noch nicht überschritten, während ich durch zwei und vier nach dem sechsten und damit gleichzeitig nach dem zwölften gewiesen bin. Nein . . . weil es der Staat New York ist, der als das sechste Feld gilt, ›wo es eine Brücke giebt‹, wird allgemein berichtet, und diese Brücke ist der Fußsteig des Niagara. Ach, und der ist ja schon mehr als zu viel bekannt; ich hab' ihn mindestens schon zwanzigmal besucht! Der ist abgenutzt, sag' ich Ihnen, ebenso wie der amerikanische und der kanadische Fall, wie die Grotte der Winde und die Ziegeninsel! Außerdem ist es mir auch nicht weit genug von Chicago. Ich will vor allem das Land sehen, nach allen vier Ecken der Union verschlagen werden, will Tausende von Meilen durchmessen . . .«

»Immer unter der Rücksicht darauf,« fiel der Geistliche ein, »daß Sie zur rechten Stunde am rechten Platze sind . . .«

»Wie es sich gebührt, Hochehrwürden; glauben Sie mir getrost, daß ich überall auf die Minute pünktlich eintreffen werde.«

»Indeß scheint es mir, Herr Kymbale,« nahm ein Conservenhändler das Wort, ein Mann, dessen frisches Aussehen für die Güte seiner Waaren zeugte, »daß Sie sich beglückwünschen dürfen, den Fuß auf den Boden des Staates New York zu setzen, da Sie sich von da aus ja sofort nach dem von Neumexiko zu begeben haben und diese beiden Staaten grenzen doch nicht grade aneinander . . .«

»Pah,« rief der Reporter, »ein paar hundert Meilen . . . mehr trennen sie doch nicht . . .«

»Und wenn man,« fügte der Yankee hinzu, »nicht grade nach dem Südende von Florida oder dem letzten Dorfe von Washington zu gehen hat . . .«

»Das wäre grade mein Fall,« erklärte Harris T. Kymbale, »so das Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordwesten nach Südwesten zu durchfliegen . . .«

»Verpflichtet Sie aber,« fragte der Geistliche weiter, »Ihre Sendung nach diesem sechsten Felde, wo sich die Brücke befindet, nicht zur Erlegung eines Einsatzes?«

»Was ist dabei? Tausend Dollars . . . die werden die ›Tribune‹ nicht zu Grunde richten! Von der Station der Niagarafälle werde ich der Zeitung ein Check-Telegramm zugehen lassen und sie wird sich beeilen, es zu begleichen.«

»Ja,« ließ sich der Yankee vernehmen, »und um so lieber, als dieses Match Hypperbone für sie ein Geschäft ist . . .«

»Sogar ein ganz ausgezeichnetes,« erklärte Harris T. Kymbale zuversichtlich.

»Das ist so gewiß,« rief der Chicagoer Kaufmann, »daß ich, wenn ich's überhaupt thäte, nur auf Sie wetten würde . . .«

»Und daran würden Sie gut thun!« versicherte der Reporter.

Aus allen Antworten erkennt man leicht, daß sein gutes Selbstvertrauen dem, das Jovita Foley zu ihrer Freundin Lissy Wag hegte, mindestens gleichkam.

»Haben Sie indeß,« bemerkte der Geistliche, »nicht noch einen Mitbewerber, der meiner Ansicht nach der gefährlichste sein dürfte?«

»Welchen meinen Sie, Herr Pfarrer?«

»Den siebenten, Herr Kymbale, den, der nur mit den Buchstaben X. K. Z. bezeichnet ist.«

»Ah ihn, der als letzter auf die Reise gehen wird!« rief der Journalist. »O, warum denn? Man überschätzt ihn doch nur wegen des Geheimnisses, das ihn umgiebt. Er ist der Mann mit der Maske, in den alle, die ihn sehen, vernarrt sind . . . Sein Incognito wird schon noch aufgeklärt werden, und wäre es der Präsident der Vereinigten Staaten in eigener Person, so wär' er deshalb doch keinen Pfifferling mehr zu fürchten als jeder andre von den Sieben!«

Uebrigens lag ja die Wahrscheinlichkeit nicht nahe, daß der Testator den Präsidenten der Vereinigten Staaten als siebenten Partner erkoren hätte, obwohl es in Amerika keinem Menschen aufgefallen wäre, wenn der erste Mann der Union sich mit andern Bewerbern in den Wettstreit um sechzig Millionen Dollars eingelassen hätte.

Ungefähr siebenhundert Meilen (1120 Kilometer) trennen Chicago von New York, und Harris T. Kymbale brauchte hiervon nur zwei Drittel zurückzulegen, um nach dem Niagara zu kommen, ohne daß er die große amerikanische Metropole berührte. Er hatte auch keine Lust, diese zu besuchen, einfach aus dem Grunde, weil er sie mindestens ebensogut kannte, wie die berühmten Fälle, nach denen er sich zu begeben hatte.

Von Chicago aus führte ihn der Bahnzug um den untern Busen des Michigansees zunächst in dem an Illinois grenzenden Indiana nach der Station Ainsworth und von da nach Michigan City. Trotz ihres Namens gehört die Stadt aber nicht zu diesem Staate, sie bildet vielmehr einen der Häfen von Indiana.

Wenn der vertrauensselige Reporter unter dem Bahnnetze der Gegend grade diesen Weg gewählt hatte, wobei er über New Buffalo kam und sich dann in Jackson, einem wichtigen Industriecentrum mit über zwanzigtausend Seelen, einige Stunden aufhielt, wenn er dann in nordöstlicher Richtung weiter fuhr, so geschah das, weil er Detroit besuchen wollte, wo er in der Nacht vom 7. zum 8. Mai ankam.

Am nächsten Morgen wurde er nach kurzem Schlummer in dem schön ausgestatteten Zimmer eines Hôtels, von dem aus sein Name sich schnellstens in der ganzen Stadt verbreitet hatte, schon frühzeitig von Hunderten neugieriger Leute begrüßt – doch nein, weniger von neugierigen als von teilnahmsvollen Personen, die sich vorgenommen zu haben schienen, ihm den ganzen Tag nicht von den Fersen zu weichen. Vielleicht bedauerte er, sich jetzt nicht hinter dem Schleier eines Incognitos verbergen zu können, da es ihm ja nur darauf ankam, die Stadt flüchtig zu durchstreifen. Versuch' es aber nur einer, sich der Berühmtheit und ihren Unbequemlichkeiten zu entziehen, wenn er Hauptberichterstatter der »Tribune« und einer der »Sieben« vom Match Hypperbone ist!

Unter zahlreicher und lärmender Begleitung besuchte er also die wichtigste Stadt am Michigan, deren Regierungssitz das bescheidene Lansing ist. Diese blühende Stadt, die aus einer 1670 von Franzosen angelegten und befestigten Handelsniederlassung entstanden ist, leitet ihren Namen von dem Worte détroit (Meerenge) her, da hier der Strom, durch den der Huronsee seine Fluthen in den Eriesee ergießt, nur vierhundert Toisen (780 Meter) breit ist. Ihr gegenüber erhebt sich, gleichsam als Vorort, die canadische Stadt Windsor, in die den Fuß zu setzen der vierte Partner sich weislich hütete. Er hatte übrigens grade nur Zeit zu einem Besuche der Hauptstadt mit ihren zweihunderttausend Einwohnern, die ihn mit Begeisterung empfingen und ihm die besten Wünsche für Erfolg entgegenbrachten, was sie jedem andern Partner gegenüber wohl ganz ebenso gethan hätten.

Harris T. Kymbale reiste schon am Abend weiter. Wäre es ihm gestattet gewesen, die canadischen Eisenbahnen zu benutzen und durch den südlichen Theil der Provinz Ontario zu fahren, so hätte er, durch den langen Tunnel unter dem Saint-Claireflusse, nahe bei dessen Ausmündung in den Huronsee, auf graderem Wege nach Buffalo und den Niagarafällen gelangen können. Das Gebiet der Dominion zu berühren, war ihm aber verboten. Er mußte sich nach dem Staate Ohio wenden und hier bis Toledo hinuntergehen, jener rasch zunehmenden Stadt, die am Südende des Eriesees erbaut ist. Von hier aus verlief sein Weg schräg nach Sandusky zu, durch die reichsten Weingelände von Amerika, und weiter, längs des östlichen Seeufers, nach Cleveland. Das ist eine prächtige Stadt mit zweihundertzweiundsechzigtausend Seelen; ihre Straßen sind von Ahornbäumen beschattet, ihre Avenue des Euklid bildet die Elysäischen Felder Amerikas, und ihre Vorstädte ziehen sich an herrlichen Hügeln hinan. Dazu führen die Petroleumquellen der Umgebung der Stadt die reichsten Schätze zu, über die selbst Cincinnati neidisch sein könnte. Weiter berührte Kymbale Erie City in Pennsylvanien und verließ diesen Staat wieder an der Station Northville, von wo aus er in den Staat New York kam; dann eilte er an Dunkirk vorbei, das mit Gas aus natürlichen Quellen beleuchtet ist, und erreichte am Abend des 10. Mai Buffalo, die zweite Stadt des Staates, wo er hundert Jahre früher Tausende von Bisons, statt jetzt Hunderttausende von Einwohnern gefunden hätte.

Entschieden that Harris T. Kymbale wohl daran, sich in der schönen Stadt nicht aufzuhalten, auf eine Besichtigung ihrer Alleestraßen, ihrer Baumgänge im Niagara-Parke zu verzichten, und auch die Niederlagen und mächtigen Elevatoren am Ufer des Sees, durch den die Gewässer des Niagara strömen, unbesucht zu lassen. Binnen zehn Tagen, als letztem Termin, mußte er in Santa-Fé, der Hauptstadt von Neumexiko eingetroffen sein, und bis dahin war eine Strecke von vierzehnhundert Meilen (2253 Kilometer) zurückzulegen, die nicht einmal überall Eisenbahnverbindung hatte.

Am nächsten Tage landete er, nach einer kurzen Fahrt von fünfundzwanzig Meilen, beim Dorfe Niagara Falls.

Was der Reporter auch sagen mochte über diese berühmten, jetzt vielfach bekannten Fälle, die industriell schon sehr stark ausgenutzt werden und es in Zukunft noch weit mehr sein werden, wenn man ihre sechzehn Millionen Pferdekräfte gebändigt haben wird, so dürften doch weder das Thor der Airondaks, diese herrliche Vereinigung von Engpässen, Thalkesseln und Waldmassen, die von der Union zum Nationaleigenthum erklärt werden sollen, noch die Palissaden des Hudson, weder der Centralpark der Metropole, noch der Broadway oder die Brücke von Brooklyn, die so kühn über den östlichen Stromarm geworfen ist, bei Vergnügungsreisenden mit den Wundern des Hufeisenfalls einen Vergleich aushalten.

Nein, diesem donnernden Abstürzen der Gewässer des Eriesees in den Ontariosee durch den Niagaracanal ist gar nichts an die Seite zu stellen. Der Lorenzostrom ist es, der hier vorüberfluthet, sich an der Spitze der Ziegeninsel bricht und auf der einen Seite den amerikanischen, auf der andern den canadischen Fall in Form eines Hufeisens bildet. Und dazu der wüthende Wogenschwall am Fuße der beiden Fälle, nebst den meergrünen Abgründen in der Mitte des zweiten, wonach der besänftigte Strom sein ruhiges Wasser drei Meilen weit bis zur Suspension-Bridge (Hängebrücke) hingleiten läßt, von der aus es nochmals in strudelnden Stromschnellen dahinschießt.

Früher erhob sich der Terrapinethurm auf den äußersten Felsen der Ziegeninsel, umschäumt von Wasserwirbeln, deren feuchter Staub ihn bis zur Spitze umhüllte und am Tage einen Sonnen-, in der Nacht einen Mondregenbogen entstehen ließ. Jetzt hat man den Thurm abtragen müssen, denn seit anderthalb Jahrhunderten ist der Fall, durch Abnagung der Felsen, etwa um hundert Fuß zurückgewichen, so daß das Bauwerk bald in den Abgrund zu stürzen drohte. Heute führt nur ein schwanker Fußsteig von einem Ufer des brausenden Stromes zum andern und gestattet den zweifachen Wasserschwall zu bewundern.

Geleitet von vielen canadischen und amerikanischen Besuchern, die ihn erwartet hatten, beschritt Harris T. Kymbale den Fußsteig bis zur Mitte, hütete sich aber streng, dessen zur Dominion gehörenden Theil zu betreten. Nach einem Hurrah aus tausend Kehlen, das begeistert ausgebracht den Höllenlärm des Wassers übertönte, kehrte er zum Dorfe Niagara Falls zurück, dessen Umgebung jetzt durch zahlreiche Maschinengebäude und gewerbliche Anlagen verunstaltet wird. Man bedenke aber nur, was es bedeutet, einen stündlichen Abfluß von hundert Millionen Tonnen industriell auszunutzen!

Der Reporter drang also nicht in die grünen Gehege der Ziegeninsel ein, er stieg nicht nach der unter der Insel ausgehöhlten Grotte hinunter und begab sich auch nicht bis unter den dicken Wasserschwall des Hufeisenfalls, wozu man die canadische Grenze überschreiten muß; dagegen vergaß er nicht, das Postamt des Dorfes aufzusuchen, von wo aus er einen Check über tausend Dollars an die Ordre des Notars Tornbrock absandte – ein Papier, daß der Kassierer der »Tribune« sich gewiß beeilen würde einzulösen, sobald es präsentiert wurde.

Am Nachmittage und nach einem ihm zu Ehren veranstalteten ausgezeichneten Lunch traf Harris T. Kymbale wieder in Buffalo ein und verließ diese Stadt an demselben Abend, um nun in der vorgeschriebenen Frist den zweiten Theil seiner Reise auszuführen.

Als er eben den Bahnwagen besteigen wollte, trat der Bürgermeister der Stadt, der ehrenwerthe H. B. Exulton, auf ihn zu.

»Sie thäten recht daran, mein Herr,« begann er sehr ernsten Tones, »sich nicht noch weiter mit zwecklosen Abstechern aufzuhalten . . .«

»Und wenn mir das nun paßte!« erwiderte Harris T. Kymbale, der sich eine derartige Bemerkung, selbst wenn sie von so hoher Stelle ausging, nicht gefallen lassen wollte. »Mir scheint, ich habe das volle Recht . . .«

»Nein, mein Herr, das haben Sie ebensowenig, wie der Bauer auf dem Schachbrett das, einen grade vor ihm stehenden Springer zu nehmen . . .«

»Oho, ich bin doch mein eigner Herr!«

»Weit gefehlt, Verehrtester! . . . Sie gehören im Grunde denen, die auf Sie gewettet haben, und da bin ich auch mit fünftausend Dollars betheiligt!«

Der ehrenwerthe H. B. Exulton hatte ja eigentlich recht, und auch im eignen Interesse konnte der Berichterstatter der »Tribune«, selbst auf die Gefahr hin, daß seine Berichte darunter litten, doch nur das eine Ziel verfolgen, seinen ihm zunächst vorgeschriebenen Platz auf kürzestem und schnellstem Wege zu erreichen.

Außerdem hatte Harris T. Kymbale in dem von ihm schon häufig besuchten Staate New York nichts mehr zu lernen. Zwischen seiner Hauptstadt und Chicago bestehen ebenso zahlreiche wie bequeme Verbindungen. Dahin zu gehen, ist die Sache eines einzigen Tages für die Amerikaner, deren Schnellzüge den Vierundzwanzigstundenrecord für tausend Meilen (1609 Kilometer) halten.

Alles in allem hatte Harris T. Kymbale sich über den Anfang seiner bevorstehenden Fahrten nicht zu beklagen; vom Staate New York mußte er sich ja nach Neumexiko begeben, wo er seine Wißbegier als Tourist reichlich befriedigen konnte. Es war wohl auch zu vermuthen, daß der Zufall beim Würfeln dahin noch mehrere am Match betheiligte Spieler verschlagen würde, die, wie Hermann Titbury, Lissy Wag und deren von ihr unzertrennliche Jovita Foley, diesen Staat noch nicht kannten.

Der Staat New York ist der erste der Conföderation seiner Bevölkerung nach, die nicht weniger als sechs Millionen Köpfe beträgt, doch nur der neunundzwanzigste seiner Ausdehnung nach, da er nur eine Fläche von neunundvierzigtausend Quadratmeilen (127.350 Quadratkilometer) bedeckt. Es ist der »Empire State«, wie man ihn zuweilen nennt, ein dreieckiges Stück Land, dessen gradlinig verlaufende Seiten wegen Mangels natürlicher Grenzen willkürlich gezogen sind.

Freilich hatten die seiner Partner, die noch hierher kamen, ebensowenig wie Harris T. Kymbale, die Möglichkeit, daselbst während der zwei Wochen von einer »Lotterieziehung« zur andern zu verweilen. Gleichwie er mußten sie, nachdem sie sich auf dem Brückensteig am Niagara gezeigt hatten, nach Santa-Fé, der Hauptstadt von Neumexiko, weiterreisen. Begaben sie sich dabei doch nach New York, so war damit jeder Besuch andrer Städte ausgeschlossen, obgleich viele davon recht sehenswerth sind, wie z. B. Albany, der Sitz der Regierung, mit hundertzehntausend Einwohnern und schönen Museen, vortrefflichen Schulen, herrlichen Parken und dem Regierungspalaste, der nicht weniger als zwanzig Millionen Dollars gekostet hat; Rochester, die »Stadt des Mehls« und gleichzeitig ein Hauptplatz von Fabriken, deren Betrieb durch die mächtigen Wasserfälle des Genesees sehr erleichtert wird; ferner Syracuse, die reiche Stadt des Salzes, das ihr die unerschöpflichen Salinen von Onondaga liefern, und noch verschiedene andre, eine ganze Familie von Städten, die der Staat mit gerechtem Stolze aufweisen kann.

Seine größte Stadt besucht zu haben, wäre – wie man zu sagen pflegt – schon allein die Reise werth. Man muß es gesehen haben, dieses New York zwischen dem Hudson und dem East River, weit ausgedehnt auf der Halbinsel Manhattan, auf der es hundertsechs Quadratkilometer oder zehntausendsechshundert Hektar bedeckt, und das zusammen dreihundertsechzig Quadratkilometer – mehr als Paris und als London – einnehmen wird, wenn Brooklyn und Long Island mit ihm zu einem einzigen Gemeinwesen verbunden sein werden! Man muß seine Alleestraßen, seine monumentalen Bauwerke bewundert haben, seine tausend Kirchen – was für siebzehnhunderttausend Einwohner gar nicht zu viel erscheint – seinen Broadway, seine sieben Meilen (11.260 Meter) lange Fünfte Avenue, und die in weißem Marmor aufgeführte Saint-Patrice-Domkirche, den Centralpark von dreihundertfünfundvierzig Hektaren mit seinen Rasenflächen, Gehölzen, Wasserläufen, in die der große Aquäduct von Croton ausmündet, seine Hängebrücke über den East River nach Brooklyn, der sich später noch eine über den Hudson zugesellen wird, seinen Hafen, dessen Waarenverkehr man auf achthundert Millionen Dollars veranschlagt, seine weite Bai, die mit Inseln und Holmen übersät ist, darunter Bedloe's Island, wo sich die riesenhafte Statue Bartholdi's erhebt, die Figur der Freiheit, die die Welt erleuchtet!

Alles das hätte jedoch, wie schon erwähnt, für den Hauptberichterstatter der »Tribune« nicht mehr den Reiz der Neuheit gehabt. Nach dem Besuche des Niagara wollte er sich, ohne im geringsten abzuweichen, streng an seine Reiseroute halten.

Es war ja schon der 11. Mai, und spätestens am Vormittage des 21. mußte er in Santa-Fé eingetroffen sein. Zwei durch fünfzehn- bis sechzehnhundert Meilen (2500 bis 2700 Kilometer) von einander getrennte Staaten konnte man doch nicht wohl als benachbarte ansehen.

Auf der Rückfahrt von Buffalo hatte Harris T. Kymbale sich vorgenommen, noch einmal Chicago zu berühren, um von hier aus den Grand Trunk nach Westen zu benutzen. Da von diesem aber keine Seitenlinie abgeht, die eine unmittelbare Verbindung mit Santa-Fé böte, wäre das ein Fehler gewesen, denn in diesem Falle hätte er eine große Strecke zu Wagen zurücklegen müssen, und das in einem Lande, wo es mit allen Verkehrsverhältnissen noch recht schlecht bestellt war. Zum Glück hatten seine Collegen von der »Tribune« nach eingehendem Studium des betreffenden Theiles des Fernen Westens für ihn einen Reiseplan aufgestellt, der ihm durch ein in Buffalo eingegangenes Telegramm mitgetheilt wurde.

Die Depesche war in folgenden Worten abgefaßt:

»Von den Niagara Falls zurückkehren nach Buffalo und von da bis Cleveland hinunterfahren. Quer durch Ohio reisen (über Columbus und Cincinnati), durch Indiana über Laurencebourg, Madison, Versailles und Vincennes, durch Missouri über Salem, Belley und Saint-Louis. Hier die Jeffersonlinie nehmen nach Kansas City. Kansas auf der südlichsten Bahn durchreisen, und zwar über Laurence, Emporia, Toleda, Newton, Hutchinson, Plum Buttes, Fort Zarah, Larned, Petersburg, Dodge City, Fort Atkinson und Sherbrock, weiter durch den Osten von Colorado über Granada und Las Arimas. Von hier Zweigbahn nach Pueblo, und über Trinidad nach Clifton an der Grenze von Neumexiko. Endlich über Cimarron, Las Vegas und Galateo übergehen auf die Kleinbahn nach Santa-Fé. Nicht vergessen, daß der Absender dieser Depesche auf Sie hundert Dollars verwettet hat, und daß er diese rettungslos verlieren müßte, wenn Sie einen andern Weg einschlügen.

Bruman S. Bickhorn,
Redactionssecretär.«

Hatte nicht der von den »Sieben«, den seine Collegen so eifrig unterstützten, dem sie die Erfüllung seiner Aufgabe so sorgsam zu erleichtern suchten, die beste Aussicht, als »guter Erster« durchs Ziel zu gehen? . . . Gewiß; doch unter der Bedingung, daß er dem Rathe des ehrenwerthen Herrn H. B. Exulton folgte und sich durch nichts, was etwa seine Aufmerksamkeit erregte, unterwegs aufhalten ließ.

»Einverstanden, mein wackrer Bickhorn, diesen Weg werd' ich nehmen,« sagte Harris T. Kymbale für sich, »und werde mir auch nicht die kleinste Abweichung davon gestatten. Bezüglich der Eisenbahn braucht man sich ja nicht zu beunruhigen. Getrost, liebenswürdiger Redactionssecretär! Wenn damit Verzögerungen vorkommen, werden sie nicht durch meinen Leichtsinn, meine Nachlässigkeit verschuldet sein, und deine hundert Dollars werden ebenso zähe vertheidigt werden, wie die fünftausend seiner Hoheit des ersten Magistratsbeamten von Buffalo! Ich vergess' es nicht, daß ich die Farben der ›Tribune‹ trage!«

Ein Jockey hätte sich nicht besser ausdrücken können. Der Jockey hier war freilich mehr ein Centaur, der für eigne Rechnung lief.

So durchmaß also, auf Grund eines fein erklügelten Stundenplans und des Studiums des Cursbuchs, Harris T. Kymbale, ohne sich grade zu übereilen und in der Nacht in den besten Hôtels ausruhend, binnen sechzig Stunden die sechs Staaten Ohio, Indiana, Illinois, Missouri, Kansas und Colorado, und traf am 19. gegen Abend in Clifton, an der Grenze von Neumexiko ein.

Wenn der Reporter hier nur fünfhundertsechsundvierzig Händedrücke wechselte, kam das daher, daß das tief hinten in den grenzenlosen Prairien des Fernen Westens verlorene Dorf nicht mehr als zweihundertdreiundsiebzig Zweihänder zählte.

In Clifton gedachte er sich nur eine Stunde aufzuhalten. Wie groß war aber, als er aus dem Waggon stieg, seine Enttäuschung, zu hören, daß die weitere Bahnverbindung wegen umfänglicher Ausbesserungen an der Strecke für mehrere Tage unterbrochen sei. Er befand sich aber noch hundertfünfundzwanzig Meilen (200 Kilometer) entfernt von Santa-Fé und hatte nur noch sechsunddreißig Stunden übrig, diese zurückzulegen. Der kluge Bruman S. Bickhorn hatte das nicht vorausgesehen!

Zum Glück sah sich Harris T. Kymbale gleich beim Heraustreten aus dem Bahnhofe einem Manne von halb amerikanischem, halb spanischem Aussehen gegenüber, der ihn fast zu erwarten schien. Sobald er den Reporter bemerkte, knallte er dreimal mit der Peitsche – ein dreifacher Knalleffect, mit dem er die Leute immer zu begrüßen pflegte. Dann wandte er sich plötzlich an den Fremdling.

»Harris T. Kymbale . . .?« fragte er in einer Sprache, die mehr an die von Cervantes als an die Cooper's erinnerte.

»Der bin ich.«

»Wollen Sie, daß ich Sie nach Santa-Fé befördere?«

»Ob ich das will!«

»Gut . . . abgemacht!«

»Dein Name? . . .«

»Isidorio.«

»Isidorio gefällt mir nicht übel.«

»Mein Wagen ist zur Abfahrt bereit.«

»So fahren wir ab, und vergiß nicht, guter Freund, daß der Wagen zwar durch sein Gespann bewegt wird, daß es aber vom Kutscher abhängt, mit diesem rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein!«

Verstand der Hispano-Amerikaner wohl ganz die Bedeutung dieser Mahnung? . . . Vielleicht.

Es war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren mit stark sonnengebräunter Haut, lebhaften Augen und etwas spöttischem Gesichtsausdruck – einer jener Burschen, die sich nicht so leicht zum besten haben lassen. Der Reporter wollte nicht daran zweifeln, daß Isidorio stolz darauf sei, eine Persönlichkeit zu befördern, die im Verhältniß von eins zu sieben die Aussicht hatte, sechzig Millionen Dollars einzuheimsen – obwohl das bei dem Kutscher doch kaum vorauszusetzen war.

Harris T. Kymbale saß allein in dem Wagen. Das war übrigens keine Postkutsche mit sechs Pferden, sondern ein einfaches Gefährt, das an den Pueblos des Weges die Pferde wechseln sollte. Der Wagen rollte nun über die holprige Straße von Aubey's Trail dahin, die von zahlreichen kleinen Wasserläufen unterbrochen war, welche ohne Anstand durchfahren wurden. An den Haltestellen wurde bezogen, was man bedurfte, und in der Nacht gönnte man sich einige Stunden Ruhe.

Am frühen Morgen des nächsten Tages hatte das Gefährt über Cimarron und längs des Fußes der Weißen Berge vierzig Meilen ohne störenden Zwischenfall zurückgelegt. Uebrigens ist hier weder von den Apachen und Comanchen noch von andern Sippen von Rothhäuten etwas zu fürchten, von den Stämmen, die früher in dieser Gegend hausten und von denen die Bundesregierung einigen ihre Unabhängigkeit gewährleistet hat.

Am Nachmittage war der Wagen über das Fort Union und Las Vegas hinausgekommen und lenkte nun nach den Engpässen der Moro Peaks ein. Hier finden sich sehr bergige, schwierige, ja sogar gefährliche Wegstrecken, die ein schnelles Fortkommen sehr beeinträchtigen. Von den Tiefebenen aus steigt das Land um sieben- bis achthundert Toisen, letzteres die Höhe, in der Santa-Fé über dem Meere liegt.

Jenseit dieses ungeheuern Rückgrats Neumexikos dehnt sich das Becken mit den zahlreichen Zuflüssen aus, die den Rio Grande del Norte zu einem der prächtigsten Ströme der westlichen Abdachung Amerikas machen. Ebenda mündet auch die wichtige Bahnlinie von Chicago nach Denver, die den Handelsverkehr mit den Provinzen Mexikos ausnehmend begünstigt.

In der Nacht vom 20. zum 21. kam das Gefährt nur recht langsam und beschwerlich weiter. Der ungeduldige Reisende fürchtete nicht ohne Grund, nicht rechtzeitig anzukommen. Da hagelte es natürlich unablässige Ermahnungen und kräftige Flüche auf den phlegmatischen Isidorio hernieder.

»Du kommst ja gar nicht vorwärts . . .«

»Ich bitte Sie, Herr Kymbale, wir haben doch nur Räder, müßten aber Flügel besitzen . . .«

»Du begreifst aber nicht das Interesse, das ich daran habe, am 21. in Santa-Fé zu sein!«

»Na, wenn wir an diesem Tage nicht da sind, kommen wir eben am nächsten an . . .«

»Das ist aber zu spät . . .«

»Mein Pferd und ich, wir thun alles, was wir können, und mehr darf man von einem Thiere und einem Menschen doch nicht verlangen!«

An bösem Willen lag das langsame Fortkommen bei Isidorio in der That nicht, er that wirklich alles mögliche.

Da meinte Harris T. Kymbale den Mann etwas unmittelbarer für die von ihm gespielte Partie interessieren zu sollen. Während das Pferd außer Athem kam, als es inmitten eines dichten Waldes von dunkelgrünen Bäumen einen der steilsten Wege der Bergkette hinaufkeuchte und dem Zickzack eines mit Trümmern aller Art und mit vor Alter umgebrochenen Bäumen besäten Labyrinthes folgte, wandte sich der Fahrgast an seinen Automedon (Wagenlenker).

»Isidorio, ich hätte Dir einen Vorschlag zu machen . . .«

»Ich bitte, Herr Kymbale.«

»Tausend Dollars für Dich, wenn ich morgen am Vormittag in Santa-Fé bin!«

»Tausend Dollars . . . was sagen Sie? . . .« antwortete der Hispano-Amerikaner mit den Augen blinzelnd.

»Tausend Dollars . . . wohlverstanden . . . wenn ich die Partie gewinne . . .«

»Ah so, meinte Isidorio, unter der Bedingung, daß . . .«

»Nun, selbstverständlich.«

»Meinetwegen! . . . Es gilt!« und er trieb das Pferd mit dreimaligem Peitschenschlag von neuem an.

Um Mitternacht hatte der Wagen erst den Scheitel des Bergrückens erreicht, und Harris T. Kymbale's Befürchtungen steigerten sich noch weiter. Er konnte sich gar nicht mehr fassen.

»Isidorio,« rief er, diesem auf die Schulter klopfend, »ich möchte Dir noch einen neuen Vorschlag machen.«

»Ich höre, Herr Kymbale.

»Zehntausend . . . ja . . . zehntausend Dollars, wenn ich rechtzeitig ankomme.«

»Zehntausend . . . sagen Sie?« wiederholte Isidorio.

»Zehntausend Dollars!«

»Das heißt, nur wenn Sie die Partie gewinnen? . . .«

»Natürlich!«

Zur Fahrt bergab – ohne dabei nach Galisteo zu gehen, um von da aus eine kleine Zweigbahn zu benutzen, was jetzt doch einen Zeitverlust bedingt hätte – und zu der durch das Thal des Rio Chiquito bis nach Santa-Fé – beiläufig eine Strecke von fünfzig Meilen (80 Kilometer) – waren nun blos noch zwölf Stunden übrig.

Die Straße war indeß recht leidlich, hatte keine bedeutenderen Steigungen, und ein besseres Pferd als das aus dem Relais von Tuos hätte man sich gar nicht wünschen können. Wenn es sein mußte, konnte man das Ziel also noch zur festgesetzten Stunde erreichen, freilich unter der Bedingung, daß man sich nirgends auch nur eine Minute aufhielt und daß die Witterung so günstig wie bisher blieb.

Die Nacht ließ sich prächtig an, der Mond glänzte hell, als ob er durch eine Depesche des vorsorglichen Bickhorn eigens dazu bestellt wäre, und der Wind wehte von rückwärts, so daß er das Fortkommen des Gefährtes eher etwas beschleunigte. Das Pferd stampfte schon beim Einspannen an der Wechselstation vor Ungeduld; es war eins jener feurigen Thiere von mexikanisch-amerikanischer Rasse, die in den Corrals des Westens gezüchtet werden.

Was den Wagenlenker betraf, konnte man kaum einen besseren finden. Zehntausend Dollars so leicht zu verdienen – eine solche Summe hatte er auch in seinen kühnsten Träumen noch nicht sein eigen genannt. Und dennoch schien Isidorio von diesem Glücksfall nicht so entzückt, wie er es – wenigstens nach der Meinung Harris T. Kymbale's – hätte sein sollen.

»Ob der Spitzbube, fragte er sich, wohl noch auf mehr wartet . . . vielleicht das Zehnfache haben will? . . . Doch was sind im Grunde ein paar Tausende gegenüber den Millionen William J. Hypperbone's? . . . Ein Tropfen im Meere! . . . Nun denn, wenn es sein muß, werd' ich bis zu hundert Tropfen gehen!«

Der Wagen war eben davongerollt.

»Isidorio,« sagte er diesem da ins Ohr, »es handelt sich jetzt nicht mehr um zehntausend Dollars . . .«

»Halt . . . nun wollen Sie wohl gar Ihr Versprechen zurücknehmen?« rief Isidorio trockenen Tones.

»O nein, guter Freund, nein, im Gegentheil! . . . Du sollst hunderttausend Dollars erhalten, wenn wir noch vor dem Schlage der Mittagsstunde in Santa-Fé sind . . .«

»Hunderttausend Dollars, sagen Sie?« wiederholte Isidorio, indem er dabei das linke Auge halb zukniff.

Und sofort setzte er hinzu:

»Freilich . . . nur wenn Sie gewinnen?«

»Ja, wenn ich gewinne.«

»Könnten Sie mir das nicht auf einem Stückchen Papier schriftlich geben, Herr Kymbale? Es bedarf ja nur weniger Worte . . .«

»Mit meiner Unterschrift? . . .«

»Mit Ihrem Namen und dem gewohnten Zuge darunter.«

Bei einer Sache von solcher Bedeutung genügte ja eine einfache mündliche Zusage nicht. Ohne Zögern nahm Harris T. Kymbale denn auch sein Taschenbuch heraus und schrieb auf eins seiner Blätter, daß er dem Herrn Isidorio aus Santa-Fé unter den erwähnten Bedingungen hunderttausend Dollars zu zahlen sich verpflichtet habe – eine Zahlung also, die sofort geleistet werden solle, wenn der Reporter der einzige Erbe William J. Hypperbone's würde. Das bekräftigte er durch seine Unterschrift und übergab das Papier dem Wagenlenker.

Isidorio nahm es, durchlas es, faltete es sorgsam zusammen und schob es tief in die Tasche.

»Vorwärts also!« sagte er.

Nun begann aber mit verhängtem Zügel eine wilde Galoppade, und schwindelnd sauste der Wagen die dem Rio Chiquito folgende Straße hinab. Trotz aller Anstrengung aber, trotz der stets drohenden Gefahr, den Wagen zu zertrümmern oder mit ihm in den Fluß zu stürzen, konnte Santa-Fé nicht früher als zehn Minuten vor zwölf Uhr erreicht werden.

Die Stadt zählt nicht mehr als siebentausend Seelen. Wenn Neumexiko der Bundesrepublik auch schon seit einigen Jahren angegliedert war, so lag seine Zulassung als Staat zu den andern fünfzig Staaten doch erst einige Monate zurück – was dem excentrischen Verstorbenen noch erlaubt hatte, es auf seiner Karte mit anzuführen.

Im übrigen ist Neumexiko nach Aussehen und Volkssitte noch völlig spanisch geblieben; der angloamerikanische Charakter tritt hier nur sehr langsam in Erscheinung. Seine Lage inmitten silberführender Bodenschichten sichert Santa-Fé eine gedeihliche Zukunft. Nach der Aussage seiner Bewohner ruht die Stadt auf einer dicken Silberunterlage, und man hat aus dem Erdboden der Straßen ein Mineral gewonnen, das auf die Tonne zweihundert Dollars Ausbeute lieferte.

Das mag ja richtig sein; für Touristen bietet die Stadt aber wenig Sehenswerthes, höchstens die Ruinen einer von den Spaniern vor dreihundert Jahren erbauten Kirche und den »Gouverneurs-Palast«, ein sehr bescheidenes Gebäude, dessen einziges Stockwerk mit einem Thore mit hölzernen Säulen geschmückt ist. Was die Häuser betrifft, die, die spanischen ebenso wie die indianischen, nur aus lufttrocknen Lehmsteinen errichtet sind, so bilden die meisten weiter nichts als aufgeschichtete Würfel mit unregelmäßig vertheilten Lichtöffnungen, wie man dasselbe an den Pueblos der Eingebornen sieht.

Harris T. Kymbale wurde hier ebenso empfangen, wie überall auf seiner Fahrt. Er hatte jedoch keine Zeit, in die siebentausend, ihm entgegengestreckten Hände einzuschlagen. Die Uhr zeigte bereits auf fünfzig Minuten nach elf, und er mußte auf dem Telegraphenamte sein, ehe der letzte Schlag der Mittagsstunde ertönte.

Hier erwarteten ihn zwei Depeschen, die am heutigen Morgen und fast zu gleicher Zeit in Chicago aufgegeben waren. Die eine, die vom Notar Tornbrock herrührte, meldete, wie die Würfel zum zweitenmale für ihn gefallen waren. Zehn – zweimal fünf Augen – war die betreffende Zahl, durch die der vierte Partner nach dem zweiundzwanzigsten Felde – Südcarolina – gewiesen wurde.

Dem unerschrockenen, unermüdlichen »Traveller«, der von unglaublichen Reisestrecken träumte, war nach Wunsch geschehen – hatte er hiermit doch volle fünfzehnhundert Meilen (2400 Kilometer) nach der atlantischen Seite der Vereinigten Staaten zurückzulegen. Er erlaubte sich dazu nur die Bemerkung:

»Nach Florida hätt' ich noch ein paar hundert Meilen weiter gehabt!«

In Santa-Fé wollten die Anglo-Amerikaner die Anwesenheit ihres Landsmannes durch Versammlungen, Schmausereien und andre festliche Veranstaltungen feiern. Zum eignen großen Leidwesen lehnte der Berichterstatter der »Tribune« das aber entschieden ab. Durch schlimme Erfahrung gewitzigt, hatte er sich streng vorgenommen, den Rathschlägen des ehrenwerthen Bürgermeisters von Buffalo Rechnung zu tragen, sich unter keinem Vorwande aufzuhalten und den kürzesten Reiseweg zu benutzen. Ausflüge wollte er erst nach seinem Eintreffen am Bestimmungsorte unternehmen.

Die zweite Depesche, eine Mittheilung des vorsorglichen Bickhorn, enthielt einen neuen Reiseplan, der nicht minder gut zusammengestellt war, wie der erste. Seine Collegen ersuchten ihn noch besonders, sich diesem Plane anzubequemen und so schnell wie möglich abzureisen. Daraufhin entschloß er sich denn auch, die Hauptstadt Neumexikos schon am heutigen Tage wieder zu verlassen.

Die Kutscher in der Stadt hatten inzwischen erfahren, was der übermäßig freigebige Reisende für Isidorio gethan hatte. Für Kymbale war die Folge davon nur die Qual der Wahl, denn alle boten ihm ihre Dienste an, wohl in der Hoffnung, ebensogut wie ihr Kamerad eine große Summe einzuheimsen.

Man wird sich ja wundern, daß Isidorio nicht selbst die Ehre, fast das Anrecht beanspruchte, den Reporter nach der nächstgelegenen Eisenbahnstation zurückzubefördern, vielleicht gar mit der stillen Erwartung, den ihm schon zugesicherten hunderttausend Dollars noch ein zweites Hunderttausend hinzugefügt zu sehen. Wahrscheinlich fühlte sich der praktische Hispano-Amerikaner aber nicht weniger befriedigt als ermüdet. Dagegen unterließ er es nicht, dem Journalisten ein Lebewohl zu sagen, als dieser nach der Verhandlung mit einem andern Rosselenker sich am Nachmittage gegen drei Uhr zur Abfahrt anschickte.

»Nun, mein wackrer Freund,« sagte Harris T. Kymbale, »Du befindest Dich wohl?«

»Völlig wohl, Herr Kymbale.«

»Damit, daß ich Dir einen Theil meines spätern Vermögens zugesichert habe, sind wir doch noch nicht mit einander fertig . . .«

»O, Sie haben ja tausendmal zuviel gethan, Herr Kymbale, das verdien' ich ja gar nicht . . .«

»Doch, doch! Mindestens hab' ich Dir noch meinen Dank auszusprechen, denn ohne Deinen Eifer, Deine Ergebenheit, wär' ich zu spät angekommen und hätte mich aus der Partie ausgeschlossen gesehen – es fehlten daran ohnehin nur zehn Minuten!«

Isidorio hörte die schmeichelhafte Rede ruhig und nach Gewohnheit für sich lächelnd an.

»Schön, daß Sie zufrieden sind, Herr Kymbale,« antwortete Isidorio, »ich bin es auch.«

»Und zwei machen ein Paar, wie unsre Freunde, die Franzosen, sagen, Isidorio.«

»Ja freilich, ganz wie bei den Zugpferden . . .«

»Richtig. Doch das Papier, das ich Dir gegeben habe, verwahre ja recht sorgfältig. Hörst Du mich dann vor der ganzen Welt als den Sieger im Match Hypperbone verkündigen, so begieb Dich nach Clifton, besteige den Schnellzug, der Dich nach Chicago befördert und stelle Dich an unsrer Casse vor. Du kannst ruhig sein, ich werde meine Unterschrift schon einlösen!«

Isidorio zog den Kopf ein wenig ein, kraute sich die Stirn und blinzelte mit den Augen, wie einer, der noch unentschlossen ist, ob er sprechen soll oder nicht.

»Nun,« fragte da Harris T. Kymbale, »meinst Du, noch nicht hinreichend genug belohnt zu sein?«

»O gewiß,« versicherte Isidorio. »Doch . . . jene hunderttausend Dollars . . . ja, die hängen doch immer . . . davon ab . . . daß Sie gewinnen.«

»Aber ich bitte Dich, guter Freund, bedenke doch, kann es denn anders sein?«

»Ja, warum nicht?«

»Nun sieh, könnt' ich Dir überhaupt eine solche Summe verschreiben, wenn ich die Erbschaft nicht einsteckte?«

»Ja, das versteh' ich, Herr Kymbale, das versteh ich sogar recht gut. Dennoch gäb' ich den Vorzug . . .«

»Was denn?«

»Baaren hundert Dollars.«

»Hundert statt einmalhunderttausend?«

»Ja gewiß,« versicherte Isidorio ruhig. »Wissen Sie, ich lieb' es nicht, auf den Zufall zu rechnen, und hundert baare Dollars, die Sie mir gleich gäben . . . das wäre doch etwas Sichreres . . .«

Wirklich zog Harris T. Kymbale, der seine Freigebigkeit vielleicht schon ein wenig bereute, hundert Dollars aus der Tasche und händigte sie diesem neumexikanischen Weltweisen ein, der das vorher erhaltene Papier zerriß und die Stücke davon zurückgab.

Der Reporter fuhr nun unter lauten Wünschen für glückliche Reise ab und verschwand im Galopp durch die Hauptstraße von Santa-Fé. Diesmal hätte sich, wenn eine ähnliche Veranlassung wiederkehrte, der neue Wagenlenker jedenfalls nicht als ein solcher Philosoph benommen, wie sein Kamerad.

Und als die andern Kutscher Isidorio wegen seines auffallenden Entschlusses fragten, antwortete er schmunzelnd:

»Ach was! Hundert Dollars . . . das sind doch hundert Dollars. Ich hatte eben kein Vertrauen zu der ganzen Sache. Der Mann war seiner selbst zwar sehr sicher, doch glaubt mir, ich verwettete auf ihn keine fünfundzwanzig Cents.«

 


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