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Am 15. April war das neunzehnte Quartier von ganz früh an von Menschen überfüllt. Der Andrang der Menge schien tatsächlich ebenso groß zu werden wie damals, als der endlose Leichenzug William J. Hypperbone nach seiner letzten Wohnstätte geleitete.
Die dreizehnhundert täglichen Bahnzüge Chicagos hatten schon am Tage vorher viele tausend Fremde nach der Stadt befördert. Das Wetter versprach herrlich zu werden. Ein frischer Morgenwind hatte den Himmel von den Dünsten der Nacht gesäubert. Die Sonne schwebte lachend über dem fernen Horizonte des Michigansees, der an der Oberfläche leichte Wellenstreifen zeigte und dessen Brandung wie spielend das Ufer koste.
Durch die Michigan Avenue und die Congreß Street wälzte sich der brausende Menschenstrom einem ungeheuern Gebäude zu, das an einer Ecke ein dreihundertzehn Fuß hoher viereckiger Thurm überragte.
Die Liste der vornehmeren Gasthäuser der Stadt ist ziemlich lang. Dem Reisenden wurde deshalb die Wahl recht schwer. Doch wohin ihn die Cabs für je fünfundzwanzig Cents die (amerikanische) Meile auch führen mochten, nie kam er in die Verlegenheit, keinen Platz zu finden. Ein in europäischer Weise ausgestattetes Zimmer erhielt er für den Tagespreis von zwei bis drei, eins in amerikanischem Geschmack für den von vier bis fünf Dollars.
Unter den Hôtels ersten Ranges nennt man das Palmer House in der State and Monroe Street, das Continental in der Wabash Avenue and Monroe Street, das Commercial und das Fremont House in der Dearborn und Lake Street, die Alhambra in der Archer Avenue, ferner die Hôtels Atlantic, Wellington, Saratoga und noch zwanzig andre. An Umfang, Ausstattung, lebhaftem Verkehr, wie durch vernünftige Hausordnung, die es jedermann anheimgiebt, nach europäischer oder nach amerikanischer Sitte zu leben, übertrifft alle das Auditorium, eine mächtige Karawanserai, deren zehn Stockwerke sich an der Ecke der Congreß Street und der Michigan Avenue gegenüber dem Lake-Park aufeinanderthürmen.
Das ungeheure Bauwerk kann aber nicht allein Tausenden von Reisenden Unterkommen bieten, es enthält auch ein Theater für nicht weniger als achttausend Zuschauer.
Während dieser »Matinée« – ein Ausdruck, der von jenseits des Atlantischen Oceans her hier übernommen wurde – sollte das Haus fast noch mehr als das Maximum an Gästen haben und dasselbe dürfte bezüglich der Einnahme gelten. Ja, der baaren Einnahme, denn nach dem glücklichen Einfall, die Namen der »Sechs« nur dem Höchstbietenden mitzutheilen, hatte der Notar Tornbrock auch noch den gehabt, alle, die der Verlesung des Testaments im Theater des Auditoriums beiwohnen wollten, ihren Platz bezahlen zu lassen. Das ergab weitere zehntausend Dollars zu Gunsten der Armen, denn die Einnahme sollte zu gleichen Theilen den Hospitälern der Alexian Brothers und des Maurice Porter Memorial for Children zugewendet werden.
Die Neugierigen aus der ganzen Stadt beeilten sich denn auch heranzuströmen, ja die Leute kämpften noch um die geringsten Plätze. Auf der Bühne sah man den Bürgermeister und die Stadträthe, etwas dahinter die um ihren Vorsitzenden Georges B. Higginbotham gescharten Mitglieder des Excentric Club, ein wenig mehr im Vordergrunde und schon nahe der Rampe in einer Reihe die »Sechs« – jeden davon in der Erscheinung, die seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach.
Lissy Wag, sehr eingeschüchtert, sich in dieser Weise vor Tausenden begieriger Augen ausgestellt zu sehen, bewahrte auf ihrem Armstuhl mit gesenktem Kopfe die gewohnte bescheidene Haltung.
Harris T. Kymbale machte es sich freudestrahlend auf dem seinigen bequem und begrüßte eine Menge Collegen von Zeitungen jeder Richtung, die sich mehr in die Mitte des Parquets gedrängt hatten.
Der mit wild rollenden Augen dasitzende Commodore Urrican schien Streit mit jedem Beliebigen zu suchen, der es wagen würde, ihm ins Gesicht zu starren.
Max Real betrachtete sorglos die bis in die höchsten Ränge vertheilte dichte Menge, an der eine Neugier nagte, die er kaum theilte, er blickte vielmehr fast ausschließlich auf die reizende junge Dame, seine Nachbarin, hin, deren gedrückte Haltung ihm lebhaftes Interesse einflößte.
Hermann Titbury berechnete für sich, wie hoch die heutige Einnahme hier sein werde – ein Wassertropfen gegenüber den Millionen der Erbschaft.
Tom Crabbe wußte eigentlich nicht, warum er hier sei. Er saß auf keinem Armstuhl – der seine ungeheure Masse gar nicht hätte aufnehmen können – sondern auf einem breiten Sopha, dessen Beine unter seiner Last ächzten.
Selbstverständlich befanden sich in der ersten Reihe der Zuhörer der Traineur John Milner, Frau Kate Titbury, die ihrem Gatten immerfort unverständliche Zeichen machte, und die nervöse Jovita Foley, ohne deren Drängen und Zureden Lissy Wag nie zugestimmt hätte, sich vor dieser entsetzlichen Menschenmenge hinzusetzen. In dem ganzen weiten Räume, im Amphitheater, auf den entferntesten Sitzreihen, an jeder Stelle, in der sich ein Menschenkörper nur einklemmen, in jeder Oeffnung, durch die ein Menschenkopf nur schlüpfen konnte – überall wimmelte es von Männern, Frauen und Kindern aus den reichen bis zu den einigermaßen bemittelten Kreisen der Einwohnerschaft.
Und draußen, längs der Michigan Avenue und der Congreß Street, an den Fenstern der Häuser, auf den Balkonen der Hôtels, auf den Fußsteigen und auf den Fahrbahnen, wo der Wagen- und Straßenbahnenverkehr völlig unterbrochen war, harrte eine wie der Mississippi zur Zeit der Hochfluth überschäumende Menschenmasse, deren letzter Wogenschlag über die Grenzen des Quartiers hinausreichte.
Der Schätzung nach waren an diesem Tage fünfzigtausend Fremde, und zwar aus verschiedenen Theilen von Illinois und aus den angrenzenden Staaten, doch auch aus New-York, Pennsylvanien, Ohio und Maine, nach Chicago gekommen. Eine geräuschvolle, immer anwachsende Gährung herrschte in dem erwähnten Theile der Stadt und dröhnte im ganzen Lake-Park wider, bis sie sich auf der Fläche des sonnenbestrahlten Michigansees verlor.
Jetzt schlug die Mittagsstunde. Ein allgemeines »Ah!« erfüllte die Luft auch außerhalb des Auditoriums.
Im gleichen Augenblick hatte Meister Tornbrock sich erhoben, und die Lufterschütterung davon erregte, wie der Wind, der durch dichtes Gebüsch streicht, auch die Menge auf den Straßen.
Dann trat ein tiefes Schweigen ein; alle fühlten sich so bedrückt, wie in den beängstigenden Secunden zwischen Blitz und Donnerschlag.
Vor dem in der Mitte der Bühne befindlichen Tische mit gekreuzten Armen und ernster Miene stehend, wartete Tornbrock nur noch auf den letzten Glockenschlag der Mittagsstunde.
Auf dem Tische lag eine Mappe, deren drei rothe Siegel die Anfangsbuchstaben des Namens des Erblassers zeigten. Diese Mappe enthielt den letzten Willen William J. Hypperbone's und im Hinblick auf ihre Größe jedenfalls auch noch andre darauf bezügliche Schriftstücke. Auf ihrer Außenseite standen einige Zeilen, deren Inhalt es bestimmte, daß die Mappe nicht eher als vierzehn Tage nach dem Ableben des Erblassers geöffnet werden solle; darin war auch angegeben, daß die Eröffnung im Theatersaale des Auditoriums pünktlich zu Mittag zu erfolgen habe.
Mit leise zitternder Hand erbrach der Notar Tornbrock die drei Siegel und zog aus der Mappe zunächst ein Pergamentheft hervor, auf dessen Seiten man die kräftige Handschrift des Testators leicht erkannte, dann kam daraus eine vierfach zusammengefaltete Karte und endlich ein kleiner, einen Zoll langer und breiter und einen halben Zoll hoher Kasten zum Vorschein.
Hierauf verlas Meister Tornbrock, nachdem seine mit einer Aluminiumbrille bewaffneten Augen die ersten Zeilen des Pergaments überflogen hatten, mit einer den ganzen weiten Raum erfüllenden Stimme folgendes:
»Das Vorliegende ist mein Testament, das ich eigenhändig geschrieben und am 3. Juli 1895 aufgesetzt habe.
Gesund an Leib und Seele und im Vollbesitz meiner Geisteskräfte habe ich dieses Schriftstück, das meinen letzten Willen kundgeben soll, ausgefertigt. Meine letztwilligen Verfügungen wird Meister Tornbrock im Verein mit meinem Collegen und Freunde Georges B. Higginbotham streng zur Ausführung kommen lassen, wie es mit denen bezüglich meines Begräbnisses dann schon geschehen sein wird.«
Endlich sollten also das Publicum und die näheren Interessenten erfahren, woran sie sich zu halten hätten. Jetzt sollte die Lösung und Aufklärung kommen über alle seit vierzehn Tagen aufgetauchten Fragen, über alle Vermuthungen und Hypothesen, die alle Welt zwei Wochen lang in fieberhafter Spannung erhalten hatten.
Meister Tornbrock fuhr in folgender Weise fort:
»Bisher hat sich kein Mitglied des Excentric Club durch irgend welche Aufsehen erregende Excentricitäten bemerkbar gemacht. Selbst der Schreiber dieser Zeilen hat sich niemals über die niedrige Alltäglichkeit des Lebens erhoben. Was aber bisher nicht geschehen ist, das soll – es war sein ernstliches Gelübde – wenigstens nach seinem Tode einmal eintreten.«
Ein zustimmendes Murmeln lief durch die Reihen der Zuhörer. Meister Tornbrock mußte warten, bis es sich gelegt hatte, so daß er die unterbrochene Vorlesung erst nach einer halben Minute wieder aufnehmen konnte.
Die nun folgenden Worte lauteten:
»Meine lieben Collegen werden sich erinnern, daß ich, wenn irgend einer Leidenschaft, nur dem Edeln Gänsespiel fröhnte, das in Europa und vor allem in Frankreich so wohlbekannt ist. In Frankreich glaubt man, daß es durch die Griechen wieder aufgebracht worden sei, obgleich es Hellas niemals einen Plato, Themistokles, Aristides, Leonidas, Sokrates oder sonst eine geschichtlich berühmte Person des Landes hat spielen sehen. Dieses Spiel habe ich erst in unserm Verein eingeführt. Es hat mir durch seine abwechslungsvollen Einzelheiten, durch seine mannigfaltigen Kombinationen, wo der reine Zufall die Spieler leitet, die zur Gewinnung des Sieges auf dem Schlachtfelde kämpfen, das lebhafteste Vergnügen bereitet.«
Hierzu legten sich viele die Frage vor, was das »Edle Gänsespiel« wohl mit dem Testamente William J. Hypperbone's zu thun haben könne.
Der Notar fuhr fort:
»Zu diesem Spiele – in Chicago kennt es jetzt wohl jedermann – gehört eine Tafel mit neben- und übereinander liegenden und mit eins bis dreiundsechzig numerierten Feldern. In vierzehn von diesen Feldern findet sich die Abbildung einer Gans, jenes so ungerechterweise als dumm verschrienen Thieres, das doch mindestens seit dem Tage, wo es das Capitol vor dem Ueberfalle des Brennus und der Gallier rettete, hätte zu Ehren kommen sollen. –
Einige Zweifelsüchtige unter den Zuhörern begannen sich schon zu fragen, ob der selige William J. Hypperbone sich mit dieser unzeitgemäßen Ehrenrettung des Gänsegeschlechts dem Publicum gegenüber nur einen schlechten Witz erlaube.
Das Testament lautete weiter:
»Bei der erwähnten Anordnung bleiben, jene vierzehn Felder abgerechnet, noch neunundvierzig solche übrig, wovon nur sechs den Spieler zur Entrichtung eines Einsatzes verpflichten, nämlich den einfachen Einsatz auf dem sechsten Felde, von dem eine Brücke gleich nach dem zwölften hinüberführt, den doppelten auf dem neunzehnten, wo er im Gasthause warten muß, bis alle Mitspieler zweimal gewürfelt haben, den dreifachen Einsatz auf dem einundreißigsten Felde, wo sich ein Schacht befindet, in dem der Spieler zu bleiben hat, bis ein andrer seine Stelle einnimmt, ferner den doppelten auf dem zweiundvierzigsten Felde, dem des Labyrinths, von wo aus er sofort zum dreißigsten, das einen Blumenstrauß zeigt, zurückkehren muß, den dreifachen Einsatz auf dem zweiundfünfzigsten Felde, wo er gefangen sitzen bleibt, bis ein Mitspieler, der ebendahin gelangt, ihn ablöst und endlich noch einmal den dreifachen Einsatz auf dem achtundfünfzigsten Felde mit einem grinsenden Todtenkopfe und der Verpflichtung, die Partie wieder von vorn anzufangen.«
Als der Notar Tornbrock jetzt schwieg, um nach diesem langen Satze einmal auszuathmen, erhob sich mehrfaches Murmeln, das jedoch durch die Mehrheit der Zuhörer, die dem Entschlafenen offenbar günstig gestimmt war, bald unterdrückt wurde, obwohl sich gewiß niemand in das Auditorium gedrängt hatte, um einen Vortrag über das »Edle Gänsespiel« anzuhören.
Der Notar fuhr mit folgenden Worten fort:
»In dieser Mappe wird man eine Karte und ein Kästchen finden. Die Karte ist die des Edeln Gänsespiels, doch mit einer neuen Bezeichnung ihrer Felder, die ich ersonnen habe und die der Allgemeinheit bekanntzugeben ist. Das Kästchen enthält zwei Würfel, die völlig denen gleichen, deren ich mich in unserm Club zu bedienen pflegte.
Die Karte einer- und die Würfel andrerseits, sind zu einer Partie bestimmt, die unter folgenden Bestimmungen gespielt werden soll.«
Wie . . . ein Spiel? . . . Es handelte sich um eine Partie Gänsespiel? . . . Offenbar hatte man es mit einem, der die Leute nur foppen wollte, zu thun. Die Geschichte lief auf einen »Humbug«, wie man in Amerika sagt, hinaus.
Ein kräftiges »Ruhe!« wurde den Unzufriedenen zugeschleudert und Meister Tornbrock setzte seine Vorlesung fort.
»Was ich zu thun gedenke zur Ehre unsres Landes, das ich mit der Gluth eines Patrioten liebe und dessen verschiedene Staaten ich besucht habe, je nachdem ein neuer die Sterne in der Flagge der amerikanischen Republik vermehrte, ist folgendes.«
Jetzt erdröhnte eine dreifache Salve von Hurrahs, die das Echo im Saale des Auditoriums noch einmal wiederhallte, und dann trat, die Neugierde war jetzt auf dem höchsten Punkte, tiefes Stillschweigen ein.
»Wenn man von Alaska absieht, das außerhalb der Grenzen der Union liegt, sich dieser aber bald einfügen wird, wenn Canada erst an uns gekommen ist, zählt die Bundesrepublik fünfzig Staaten, die eine Fläche von nahezu acht Millionen Quadratkilometer einnehmen.
Betrachtete ich nun diese fünfzig Staaten als nebeneinander liegende Felder und rechnete ich einen davon vierzehnmal, so erhielt ich eine Karte mit dreiundsechzig Feldern ganz wie beim Edeln Gänsespiel, das hiermit zum ›Edeln Vereinigte Staatenspiel‹ geworden war.«
Von den Anwesenden begriffen die, die mit dem fraglichen Spiel bekannt waren, sofort den Gedankengang William J. Hypperbone's. Es konnte in der That als glücklicher Umstand angesehen werden, daß er die Staaten der Union genau auf dreiundsechzig Felder vertheilen konnte. Die Zuhörerschaft ließ ihren Beifallsbezeugungen freien Lauf und bald jubelte auch die Straße dem geistreichen Einfalle des Testators zu.
Meister Tornbrock las weiter.
»Ich hatte nun noch den von den fünfzig Staaten zu bestimmen, der oder dessen Name auf der Karte dreizehnmal vorkommen sollte. Wie hätte ich da einen bessern wählen können, als den, dessen prächtige Ufer der Michigansee badet, den, der sich einer Stadt wie der unsrigen rühmen kann, einer Stadt, die Cincinnati schon seit fast einem halben Jahrhundert den Titel ›Königin des Westens‹ entrissen hat, unser Illinois, das begnadete Land, das der Michigansee im Norden, der Ohio im Süden, der Mississippi im Westen und der Wabash im Osten einrahmt, den Staat, der gleichzeitig ein Festland und eine Insel bildet und sich zum ersten Range unter den Staaten der Bundesrepublik emporgeschwungen hat.«
Neue donnernde Hurrahs und Hipps, bei denen die Wände des Saales erzitterten und deren Schall, als sie von einer übermäßig erregten Menge wiederholt wurden, das ganze Quartier der Stadt erfüllte.
Diesmal mußte der Notar seine Lectüre mehrere Minuten lang unterbrechen. Endlich trat wieder etwas Ruhe ein.
»Weiter handelt es sich,« so las er vor, »darum, die Personen zu bestimmen, die berufen sein sollten, auf dem ungeheuern Gebiete der Vereinigten Staaten zu spielen, indem sie sich nach der in dieser Mappe enthaltenen Karte richteten, die in Millionen von Abzügen verbreitet werden soll, damit jeder Bürger den Wechselfällen des sich entwickelnden Spiels folgen könne. Die Theilnehmer, sechs an der Zahl, sollen aus den Einwohnern unsrer Stadt durch das Los bestimmt werden und müssen bei der Eröffnung meines Testaments auf der Bühne des Auditoriums anwesend sein. Sie werden sich persönlich nach jedem Staate zu begeben haben, den die Zahl der geworfenen Augen angiebt, und dort nach dem Orte, den ihnen mein Testamentsvollstrecker entsprechend einer unten angefügten Bestimmung mittheilen wird.«
Das war also die den »Sechsen« vorbehaltene Rolle. Die Laune des Würfelfalls sollte ihnen den Weg durch die Vereinigten Staaten vorschreiben! . . . Sie waren die Steine oder Figuren dieser ohnegleichen dastehenden Partie . . .
Wenn Tom Crabbe von der Idee William J. Hypperbone's nichts begriff, lag das doch anders bei dem Commodore Urrican, bei Harris T. Kymbale, Hermann Titbury, Max Real und bei Lizzy Wag. Diese sahen einander an und die übrigen Anwesenden starrten sie wie ganz besondre, außerhalb der Menschheit gestellte Geschöpfe an.
Jetzt erübrigte es noch, die letzten, von dem Entschlafenen ausgeklügelten Bedingungen kennen zu lernen.
»Von vierzehn Tagen nach der Verlesung meines Testaments an,« sagte er hierüber, »wird Meister Tornbrock pünktlich um acht Uhr morgens und im Beisein von mehreren Mitgliedern des Excentric Club alle zwei Tage eigenhändig den Würfelbecher schütteln, die geworfene Augenzahl laut ansagen und diese Zahl mittelst Telegrammes nach dem Orte melden, wo sich jeder Spieltheilnehmer bei Strafe des Ausschlusses von der Partie eben aufzuhalten hat. Bei der Leichtigkeit und Schnelligkeit der Personenbeförderung im ganzen Bundesgebiete, dessen Grenzen keiner der ›Sechs‹ unter Strafe der Disqualificierung überschreiten darf, habe ich vorausgesetzt, daß vierzehn Tage für jede Ortsveränderung, wie groß die dabei zurückzulegende Strecke auch sein mag, völlig ausreichen müßten.«
Es liegt auf der Hand, daß Max Real, Hodge Urrican, Harris T. Kymbale, Hermann Titbury, Tom Crabbe und Lissy Wag, wenn sie sich zur Theilnahme an dem nicht von den Griechen, sondern von den Franzosen erneuerten und jetzt von William J. Hypperbone wenigstens »erweiterten« Spiele entschlossen, auch verpflichtet sein würden, dessen Regeln streng einzuhalten. Unter welchen Verhältnissen sollten aber jene tollen Fahrten durch die Vereinigten Staaten vor sich gehen?
»Die ›Sechs‹« sagte Meister Tornbrock inmitten tiefen Schweigens, »werden auf eigne Kosten reisen und auch aus eignem Beutel die bei der Erreichung des oder jenes Feldes, mit andern Worten, des oder jenes Staates fällig werdenden Einsätze decken. Der einfache Satz dafür wird tausend Dollars betragen. Der Spieler, der auch nur mit einer einzigen Zahlung im Rückstande bleibt, ist von der weitern Theilnahme ausgeschlossen.«
Tausend Dollars, und wenn man obendrein – bei einigem Mißgeschick – befürchten muß, sie mehreremale zu opfern, das konnte schon eine recht hübsche Summe ausmachen.
Es wird also nicht wundernehmen, daß Hermann Titbury jetzt eine Grimasse machte, die sich gleichzeitig in dem vollblütigen Gesicht seiner Gattin wiederholte. Die Verpflichtung, Einsätze von je tausend Dollars zu leisten, wenn der Verlauf des Spieles sie verlangte, war, wenn nicht für alle, doch jedenfalls für einige der Theilnehmer ziemlich drückend.
Freilich fanden sich gewiß willige Leute, die von den »Sechs«, die die beste Aussicht zu gewinnen hatten, mit Geld zu unterstützen. Hier eröffnete sich ja ein neues Gebiet für die brennende Speculationswuth der Bürger des freien Amerika.
Das Testament enthielt noch einige interessante Bestimmungen. Zunächst geben wir hier die Erklärung über die Vermögensverhältnisse William J. Hypperbone's wieder.
»Mein Vermögen an bebauten oder unbebauten Grundstücken, an Industriepapieren, Bank- und Eisenbahnactien, die im Bureau des Notars Tornbrock niedergelegt sind, wird etwa sechzig Millionen Dollars betragen.«
Diese Mittheilung wurde mit einem Murmeln der Befriedigung aufgenommen. Man wußte es dem Verstorbenen Dank, ein so ansehnliches Erbe hinterlassen zu haben, denn diese Zahl erschien auch in dem Lande der Gould, Bennett und Vanderbilt, der Astor, Bradley-Martin, Hatty Green und Hutchinson, der Corrol, Prior und Morgan Slade, der Lennox, Rockfeller, Schemeorn, der Richard King wie der May Gaclet, der Königinnen der Schülerinnen und weiblichen Pfleglinge und andrer Milliardaire, der Zucker-, Getreide-, Mehl-, Erdöl-, Eisenbahnen-, Kupfer-, Silber- und Goldkönige nicht zu verachten. Jedenfalls konnten der oder die von den »Sechs«, denen diese Hinterlassenschaft ganz oder zum Theil zufiel, damit zufrieden sein. Doch was gehörte dazu, sie zu erlangen?
Auf diese Frage antwortete das Testament mit folgenden Zeilen:
»Bekanntlich ist der Sieger im Edeln Gänsespiel der, der zuerst das dreiundsechzigste Feld erreicht. Dieses Feld wird aber nur endgiltig erobert, wenn die Zahl der Augen des letzten Wurfes den Spieler genau dahin bringt. Würden mehr Augen geworfen, so muß er um so viele Felder, wie es zu viel Augen waren, zurückgehen. Bei strenger Befolgung aller Regeln wird der Erbe meines ganzen Vermögens dann der von den Partnern sein, der von dem dreiundsechzigsten Felde Besitz nimmt, mit andern Worten zuerst in den dreiundsechzigsten Bundesstaat, d. h. zum vierzehntenmale nach Illinois kommt.«
Also nur ein Gewinner . . . der zuerst Ankommende! . . . Nach so vielen Mühen, Gemüthserregungen und Geldopfern lohnte dessen Reisegenossen nichts . . . gar nichts? . . .
Doch, doch; der zweite sollte eine Entschädigung erhalten und in gewissem Grade belohnt werden.
»Der zweite,« hieß es im Testament, »das heißt der, der bei Beendigung der Partie dem dreiundsechzigsten Felde am nächsten sein wird, soll die Summe erhalten, die sich durch die eingekommenen Tausenddollarseinsätze ergiebt und die durch das Spiel des Zufalls eine recht beträchtliche werden kann. Möge er davon einen recht nützlichen und vernünftigen Gebrauch zu machen verstehen!«
Diese Klausel wurde von den Anwesenden weder gut noch schlecht aufgenommen; so wie sie lautete, konnte sie zu keinem Meinungsaustausch Anlaß geben.
William J. Hypperbone hatte dann noch hinzugefügt:
»Sollten sich aus irgend welchem Grunde einer oder mehrere Mitspieler vor dem Ende der Partie von dieser zurückziehen, so ist diese von dem oder denen, die dabei ausgeharrt haben, dennoch bis zum Ende zu spielen. Im Fall aber alle sie aufgegeben hätten, fällt meine Hinterlassenschaft der Stadt Chicago als Universalerbin zu, die sie in ihrem Interesse verwenden möge!«
Endlich schloß das Testament mit folgenden Zeilen:
»Das ist mein fest ausgesprochener Wille, dessen Beachtung Georges B. Higginbotham, der Vorsitzende des Excentric Club, und mein Notar, Meister Tornbrock, überwachen werden. Er muß nach allen Seiten befolgt werden, wie ich das auch bezüglich der Regeln des Edeln Vereinigte Staatenspiels bestimmt voraussetze.
Und nun leite Gott die Partie, bestimme er ihren Verlauf und begünstige er den würdigsten der daran Teilnehmenden!«
Ein letztes Hurrah begleitete diesen schließlichen Appell an die Vorsehung zu Gunsten eines der Theilnehmer und die Zuhörer wollten sich schon entfernen, als Meister Tornbrock, durch eine entschiedene Geste Ruhe gebietend, ihnen noch Halt zurief.
»Es ist auch ein Codicill vorhanden!«
Ein Codicill? . . . Sollte das etwa das ganze Testament wieder umstoßen und die Mystifikation an den Tag bringen, deren sich schwergläubig angelegte Leute von dem Verstorbenen immer noch versahen?
Da verlas der Notar noch die Worte:
»Den durch das Los bestimmten sechs Partnern wird sich auch ein von mir gewählter siebenter anschließen, der in der Partie nur unter den Buchstaben X. K. Z. erscheint, doch dieselben Rechte wie seine Mitbewerber genießt und sich auch den gleichen Vorschriften zu fügen hat. Sein wirklicher Name wird nur genannt werden, wenn er die Partie gewönne, und die für ihn gethanen Würfe werden ihm ausschließlich unter jener Chiffre telegraphisch mitgetheilt werden.
Das ist mein letzter Wille.«
Die Sache erschien auffallend. Was verhüllte diese Klausel des Codicills? Es war darüber freilich ebensowenig zu rechten wie über die andern, und die lebhaft ergriffenen Anwesenden, wie die Berichterstatter sagen, verließen langsam den Theatersaal des Auditoriums.