Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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XII. Die fünfte Partnerin

»Ach, herzliebste Lissy, wie wunderbar glücklich sind doch die Würfel gefallen!« rief die ungestüme Jovita Foley.

Mit diesen Worten stürzte sie ins Zimmer, ohne daran zu denken, daß sie der Kranken, die vielleicht gerade schlummerte, schaden könnte.

Lissy Wag lag jedoch, zwar sehr bleich, aber völlig wach im Bette und hatte eben mit der bei ihr sitzenden freundlichen alten Dame einige Worte gewechselt.

Gleich nach der Verkündigung des Ausfalls des Würfelns durch Meister Tornbrock war Jovita Foley aus dem Auditorium verschwunden und hatte es der Menge ebenso überlassen, ihrer Empfindung Ausdruck zu geben, wie Hodge Urrican, darüber zu wettern, daß er sein Verlangen nicht hatte durchsetzen können.

»Welche Augenzahl ist denn gefallen?« fragte, sich halb aufrichtend, Lissy Wag.

»Neun, meine Liebe, und zwar sechs und drei . . . was uns sofort nach dem sechsundzwanzigsten Felde weist.«

»Und dieses Feld ist? . . .«

»Der Staat Wisconsin . . . Milwaukee . . . zwei Stunden . . . nicht mehr als zwei Stunden Schnellzug.«

In der That konnte man sich für den Anfang der Partie gar nichts besseres wünschen.

»Nein . . . nein!« rief das enthusiastische Persönchen immer wieder. »O, ich weiß wohl, daß man durch neun, wenn fünf und vier Augen fallen, gleich nach dem dreiundfünfzigsten Felde kommt. Dieses Feld aber – hier, sieh Dir die Karte an – dieses Feld ist Florida. Bedenke nur, müßten wir gleich nach Florida fahren, so bedeutete das ebensoviel, wie bis ans Ende der Welt!«

Hochgeröthet und keuchend bediente sie sich der Landkarte statt eines Führers.

»Ja, Du hast recht,« antwortete Lissy Wag. »Florida ist freilich etwas weit von hier.«

»Dir, meine Liebe, Dir soll und muß das Glück lächeln, den andern . . . nein, den andern nicht!«

»Sei doch etwas edelmüthiger!«

»Nun ja, Dir zu Gefallen nehme ich den Herrn Max Real dabei aus, da diesen doch einmal Deine frommen Wünsche begleiten.«

»Ja . . . gewiß . . .«

»Doch auf unsre Angelegenheit zurückzukommen, Lissy, erkennst Du den Vortheil, den das sechsundzwanzigste Feld uns sichert? Am meisten voraus war jener Journalist, Harris T. Kymbale, und der befindet sich heute noch immer erst auf dem zwölften Felde, während wir . . . oh, noch vierzig Augen . . . nur noch vierzig . . . und wir haben das Ziel erreicht!«

Einigen Kummer bereitete es ihr doch, daß Lissy Wag in ihren hoffnungsfrohen Jubel nicht mit einstimmte.

»Du siehst gar nicht danach aus, als freutest Du Dich auf die nächste Zukunft.«

»O doch, Jovita, sicherlich! Wir gehen nach Wisconsin . . . nach Milwaukee . . .«

»Noch haben wir Zeit übrig. Nicht morgen . . . auch nicht übermorgen! In fünf bis sechs Tagen, wenn Du völlig genesen bist . . . wenn es sein muß, erst in vierzehn Tagen . . . wenn wir nur am Vormittage des 23. dort sind.«

»Nun, es ist ja alles gut, da Du zufrieden bist.«

»Ob ich es bin, meine Beste! Ebenso zufrieden, wie der Commodore unzufrieden ist. Dieser schändliche Mann wollte Dich vom Mitbewerbe ausschließen . . . wollte den Meister Tornbrock bestimmen, den fünften Wurf für ihn gelten zu lassen, unter dem Vorwande, für Dich habe er ja doch keinen Zweck, Du seist für so und so viele Wochen ans Bett gefesselt . . . ja er verstieg sich zu der Behauptung, Du wandeltest gar nicht mehr auf dieser Welt! O, der abscheuliche Seebär! Du weißt, ich wünsche niemand etwas Böses . . . diesem Commodore aber, dem wünsch' ich, er möchte sich im Labyrinth verirren, möchte in den Schacht fallen, im Gefängniß verschimmeln . . . möchte einfache, zwei- und dreifache Einsätze zu bezahlen haben . . . mit einem Worte, dem wünsch' ich alle Unannehmlichkeiten, die das Spiel denen bereiten kann, die keine Aussicht zum Gewinnen haben und keine solche verdienen! Du hättest nur hören sollen, wie Meister Tornbrock ihm antwortete. O, dieser prächtige Notar . . . ich hätte ihn gleich umarmen können!«

Wenn sich Jovita Foley auch in ihren gewohnten Uebertreibungen erging, so hatte sie mit ihren Behauptungen doch nicht unrecht. Der Wurf nun, durch sechs und drei Augen, war einer der besten, den sie sich für den Anfang wünschen konnte. Er gewährte ihnen nicht nur einen Vorsprung gegenüber den ersten vier Partnern, sondern der Lissy Wag auch ausreichende Zeit zur Wiedergenesung.

Der Staat Wisconsin grenzt ja unmittelbar an den von Illinois, von dem er im Süden nur durch eine ganz nahe dem zweiundvierzigsten Breitengrade verlaufende Linie getrennt ist. Umschlossen wird er im Westen vom Laufe des Mississippi, im Osten vom Michigansee, dessen Westufer er bildet, und im Norden theilweise vom Obern See. Madison ist der Sitz seiner Regierung, Milwaukee seine Hauptstadt. Am Ufer des Sees und kaum zweihundert Meilen von Chicago gelegen steht diese Hauptstadt mit allen Handelsplätzen von Illinois in schneller, regelmäßiger und häufiger Verbindung.

Der heutige Tag, der 9. Mai, der leicht hätte so verderblich werden können, begann also in recht glücklicher Weise. Die der Kranken nicht erspart gebliebene Erregung wirkte auf diese freilich etwas nachtheilig ein. Als der Doctor M. P. Pughe bei ihr seinen Morgenbesuch machte, fand er sie etwas angegriffener als am Abend vorher. Der zuweilen sehr quälende Husten war von langanhaltender Erschöpfung und erneuter schwacher Fieberbewegung begleitet. Leider ließ sich dagegen außer der bisherigen Medication nichts weiter thun.

»Aber Ruhe . . . vor allem Ruhe,« empfahl er Jovita Foley, als diese ihn zum Zimmer hinaus begleitete. »Ich rathe Ihnen ernstlich, mein liebes Fräulein, der Miß Wag jede, auch die kleinste Anstrengung zu ersparen. Sie mag allein liegen . . . am besten wär' es, sie schliefe . . .«

»Sie sind aber nicht besorgter um sie, als früher, Herr Doctor?« fragte Jovita Foley, die sich bei den Worten des Arztes aufs neue zu ängstigen anfing.

»Nein, nein; ich wiederhole Ihnen, es handelt sich nur um eine Bronchitis mit deren gewöhnlichem Verlaufe. Die Lungen sind frei geblieben, das Herz ist normal. Schützen Sie die Kranke nur vor abkühlendem Luftzuge. Doch auch etwas Nahrung muß sie zu sich nehmen, nöthigen Sie ihr ein Glas Milch oder wenigstens eine Tasse gute Bouillon auf.«

»Doch wenn keine ernsten Complicationen eintreten, Herr Doctor . . .«

»Auf solche muß man stets gefaßt bleiben.«

»Ja, ja . . . ich weiß es . . . kann man beim Ausbleiben solcher wohl darauf rechnen, daß die Kranke binnen vierzehn Tagen geheilt sein wird?«

Der Arzt begnügte sich, den Kopf zu zucken – immerhin eine wenig beruhigende Antwort.

So schwer es ihr wurde, entschloß sich Jovita Foley, nicht mehr im Zimmer Lissy Wag's zu verweilen; sie hielt sich also in der Hauptsache, doch bei angelehnter Zwischenthür, in dem ihrigen auf. Hier lag auf dem Tische die Karte der Vereinigten Staaten ausgebreitet, daneben das unablässig durchblätterte Guide-book, aus dem sie sich über Wisconsin bis zu dessen kleinsten Ortschaften unterrichtete und den Staat bezüglich seines Klimas, seiner Zuträglichkeit für die Gesundheit und seiner Sitten und Gebräuche so eingehend studierte, als wollte sie sich dort für immer häuslich niederlassen.

Die Zeitungen der Union hatten selbstverständlich den Ausfall des fünften Würfelns aller Welt kundgethan. Mehrere erwähnten auch den Zwischenfall mit Urrican, die einen unter Bekräftigung der Ansprüche des grimmigen Commodore, die andern unter Verwerfung seines unberechtigten Verlangens. Die Mehrzahl erwies sich ihm aber feindselig gestimmt. Nein, hieß es da, er hatte kein Recht, den fünften Wurf für sich gelten lassen zu wollen, und man belobte Meister Tornbrock, die gegebenen Vorschriften in aller Strenge eingehalten zu haben.

Was Hodge Urrican auch davon sagen mochte, Lissy Wag war weder todt noch nahe daran, ihren letzten Seufzer auszuhauchen. Unter der großen Menge vollzog sich sogar ein merkbarer Umschwung zu ihren Gunsten. Sie wurde dadurch den Leuten noch interessanter, obwohl man es für fraglich hielt, ob sie die Beschwerden der ihr bevorstehenden Reisen bis zum Ende werde aushalten können. Bezüglich ihrer Krankheit behauptete man nun, es handle sich kaum um eine Bronchitis, nicht einmal um eine Laryngitis (Kehlkopfkatarrh), und binnen vierundzwanzig Stunden werde von der ganzen Sache nicht mehr die Rede sein.

Da jeder Zeitungsleser aber stets nach recht gründlichen Mittheilungen verlangt, wurde morgens und abends je ein Bulletin über den Zustand der fünften Partnerin ganz ebenso veröffentlicht, wie etwa über die Krankheit einer Prinzessin aus königlichem Geblüt.

Eine besondere Veränderung war am 9. Mai im Zustande der Kranken übrigens nicht eingetreten, jedenfalls aber verschlimmerte er sich weder in der nächsten Nacht, noch am 10. Mai. Jovita Foley zog daraus sofort den Schluß, daß acht Tage hinreichen würden, ihre Freundin wieder völlig auf die Füße zu bringen. Doch wenn ihre Wiederherstellung auch noch zehn . . . elf . . . zwölf . . . dreizehn . . . selbst vierzehn Tage in Anspruch nahm – es handelte sich ja nur um eine Fahrt von zwei Stunden – wenn sie nur am 23. vormittags in Milwaukee eintrafen, damit waren die Bedingungen des Match Hypperbone erfüllt. Erschien es dann nöthig, ein wenig der Ruhe zu pflegen, so konnten sie sich das in jener Hauptstadt gewähren.

Die Nacht vom 10. zum 11. verlief recht ruhig. Lissy Wag erlitt kaum zwei bis drei leichte Frostschauer; die Fieberperiode schien zu Ende zu gehen. Der Husten kam zwar noch recht stark, die Brust wurde dabei aber allmählich freier, das Rasseln war nicht mehr so laut, die Athmung dagegen erleichtert. An eine Complication war also kaum noch zu denken.

Lissy Wag befand sich infolgedessen bedeutend besser, als Jovita Foley nach einstündiger Abwesenheit bei ihr eintrat. Wohin war sie inzwischen wohl gegangen? Sie hatte sich darüber nicht geäußert, nicht einmal gegen die Nachbarin, die der Miß Wag auf eine bezügliche Frage also auch keine Auskunft geben konnte.

Als Jovita Foley ins Zimmer getreten war, beeilte sie sich – sie legte vorher nicht einmal den Hut ab – einen herzlichen Kuß auf die Stirn Lissy Wag's zu drücken, die dabei sofort bemerkte, daß ihre Gesichtszüge ausnehmend belebt waren und ihre Augen in besonderem Glanze strahlten.

»Was hast Du denn diesen Morgen?« fragte sie fast unwillkürlich.

»O, nichts, meine Liebe, nichts! Ich freue mich so sehr, Dich etwas gesünder anzutreffen. Und dann ist so schönes Wetter . . . eine herrliche Maisonne . . . Du weißt ja . . . die schönen Sonnenstrahlen, die man trinkt . . . die man einathmet. Ach, eine gute Dosis Sonnenschein . . . ich bin überzeugt, die würde Dich sofort gesund machen. Doch . . . keine Unvorsichtigkeit . . . wegen ernster Complicationen.«

»Wohin warst Du denn gegangen, meine gute Jovita?«

»Wohin ich gegangen war? . . . Zuerst nach dem Geschäfte Marshall Fild's, um dort über Dich zu berichten. Unser Chef läßt sich hier alle Tage nach Dir erkundigen, und ich wollte ihm dafür unsern Dank abstatten.«

»Daran hast Du recht gethan, Jovita. Es war ja schon eine große Freundlichkeit, uns Urlaub zu gewähren . . . und wenn dieser zu Ende ist . . .«

»Ja, ja, meine Liebe; unsre Plätze werden schon nicht anderweitig besetzt werden.«

»Gut. Doch nachher?«

»Nachher? . . .«

»Bist Du nicht noch anderswohin gegangen.«

»Ich? . . . Anderswohin?«

Jovita Foley schien mit der Sprache zurückhalten zu wollen, doch das hielt sie nicht lange aus, vorzüglich als Lissy Wag noch einmal das Wort an sie richtete.

»Ist denn heute nicht der elfte Mai?« fragte diese.

»Gewiß, der elfte, meine Liebe,« antwortete sie eifrig und mit heller Stimme; »schon seit zwei Tagen sollten wir eigentlich in einem Hotel der schönen Stadt Milwaukee wohnen . . . wenn, wenn wir nicht durch eine Bronchitis hier an die Scholle gebannt wären.«

»Ja, da wir aber den elften Mai haben,« fuhr Lissy Wag fort, »muß heute zum sechstenmale gewürfelt worden sein.«

»Ganz richtig.«

»Nun . . . und . . .?«

»Und? . . . Nein, siehst Du, in meinem Leben hab' ich noch kein so großes Vergnügen gehabt! . . . Komm, Schatz, laß Dich umarmen! Ich wollte Dir eigentlich nicht davon erzählen, da Du keine Aufregung erfahren sollst. Nun, sei es . . . es überwältigt mich einmal!«

»So sprich doch, Jovita!«

»Stelle Dir nur vor, meine Liebe, er hat auch neun Augen erhalten, aber aus vier und fünf gebildet . . .«

»Welcher er? . . .«

»Nun, der Commodore Urrican . . .«

»O, mir scheint dieser Wurf noch besser zu sein, als . . .«

»Ja wohl, er verweist ihn mit einem Male nach dem dreiundfünfzigsten Felde . . . also viel weiter als alle übrigen; er ist aber auch herzlich schlecht.«

Jovita Foley überließ sich einem ebenso außergewöhnlichen wie unerklärlichen Jubilieren.

»Und warum ist er schlecht?« fragte Lissy Wag.

»Weil der Commodore damit zum Teufel gejagt ist.«

»Zum Teufel? . . .«

»Ja freilich, bis zum äußersten Ende von Florida.«

Das war in der That das Ergebniß des heutigen Würfelfalls, und Meister Tornbrock, der gegen Hodge Urrican noch eine etwas gereizte Stimmung bewahrte, verkündete diesen Ausfall mit sichtbarer Befriedigung. Der Commodore freilich mochte ihn wohl mit aufbrausendem Ingrimm vernommen haben, vielleicht hatte er gleichzeitig Turk zurückhalten müssen, seiner Wuth die Zügel schießen zu lassen. Etwas Sicheres wußte Jovita darüber freilich nicht, da sie den Saal des Auditoriums nach der Verkündigung des Meister Tornbrock sofort verlassen hatte.

»Nach dem äußersten Ende von Florida,« rief sie immer wieder, »nach dem alleräußersten Ende von Florida . . . über zweitausend Meilen weit von hier!«

Diese Mittheilung erregte übrigens die Kranke beiweiten nicht in dem Grade, wie ihre Freundin es gefürchtet hatte. Ihr gutmüthiger Charakter ließ sie den Commodore sogar aufrichtig bedauern.

»Nun, und so gleichgiltig nimmst Du die Sache auf?« rief ihre ungestüme Gefährtin.

»Ach ja . . . der arme Mann!« murmelte Lissy Wag.

Der Tag verlief nicht schlecht, wenn auch noch von keiner eigentlichen Genesung die Rede sein konnte. Immerhin waren ernste Complicationen, die ein kluger Arzt stets im Auge behält, nicht mehr zu fürchten.

Vom nächsten Tage, dem 12., an, konnte sich Lissy Wag schon aufrichten, um etwas Nahrung zu nehmen. Da es ihr noch nicht erlaubt war, das Bett zu verlassen, obwohl das Fieber ganz verschwunden war, wurden beiden, vorzüglich Jovita Foley, die Stunden recht lang. Jovita setzte sich also wieder ins Krankenzimmer, und hier sollte nun die Unterhaltung – wenn auch nicht in der Form eines Dialogs, so doch in der eines Monologs – nicht wieder versiegen.

Wovon hätte Jovita Foley aber plaudern sollen, wenn nicht von Wisconsin, ihrer Rede nach dem schönsten und merkwürdigsten Staate der Union. Ihr Guide-book vor Augen, fand sie gar kein Ende. Konnte Lissy Wag auch erst am letzten Tage abreisen und sich dort nur wenige Stunden aufhalten, so mußte sie Wisconsin ebensogut kennen, als wenn sie mehrere Wochen daselbst verweilt hätte.

»Denke Dir nur, meine Liebe,« sagte Jovita Foley in bewunderndem Tone, »daß es früher nach einem Flusse gleichen Namens Mekconsin hieß und daß es nirgends ein Land giebt, das sich mit ihm vergleichen könnte! Im Norden sieht man noch die Reste jener alten Fichtenwaldungen, die einst sein ganzes Gebiet bedeckten. Daneben besitzt es Thermalquellen, die denen Virginiens überlegen sind, und ich bin überzeugt, wenn Deine Bronchitis . . .«

»Sehr schön; wir haben uns aber doch wohl nach Milwaukee zu begeben?«

»Ganz recht . . . nach Milwaukee, der bedeutendsten Stadt des Staates, deren Namen in alter Indianersprache soviel wie »Schönes Land« bedeutet – eine Stadt von zweimalhunderttausend Einwohnern, darunter viele Deutsche. Man nennt sie wohl auch das deutsch-amerikanische Athen. Ach, wenn wir schon dort wären, welch reizende Spaziergänge gäb' es da an den hohen Ufern, wo sich längs des Milwaukeeflusses prächtige Häuserreihen erheben, vornehme und saubre Stadttheile . . . durchweg aus milchweißen Backsteinen erbaut, wonach die Stadt einen besondern Namen bekommen hat . . . nun . . . Du erräthst ihn nicht?«

»Nein, Jovita.«

»Cream City, meine Liebe, die Sahnestadt! . . . Da könnte man sein Weißbrod hübsch eintauchen! Ach, warum muß diese verwünschte Bronchitis uns hindern, sofort dahin zu gehen!«

Wisconsin hat übrigens noch manche andre Städte, die zu besuchen beide Zeit gehabt hätten, wenn sie gleich am 9. hätten abreisen können, z. B. Madison, das auf einer Landenge, fast einer Brücke, zwischen dem Mendota- und dem Mononasee, die miteinander in Verbindung stehen, erbaut ist; ferner andre Orte mit auffallenden Namen, wie Fond du Lac am Southern Foxflusse, dessen Umgebung von artesischen Brunnen so durchlöchert ist, daß sie einen wahren Schaumlöffel bildet Dann eine hübsche Ortschaft, Eau Claire, mit einem silberhellen Bergflusse, der ihren Namen rechtfertigt. Endlich den Winnebagosee, die Green Bay, den Ankerplatz der Zwölf Apostel vor der Ashlandbai, und den Teufelssee, eine der natürlichen Schönheiten dieses wunderbaren Wisconsin.

Mit lauter Stimme las Jovita Foley die Seiten aus ihrem Reiseführer ab und berichtete dabei über die verschiedenen Entwickelungsperioden des Landes, das früher einmal der Wohnsitz von Indianerstämmen war, dann von Franco-Canadiern, zur Zeit als es noch Badger State (Dachsland) hieß, sozusagen neu entdeckt und colonisiert wurde.

Am frühen Morgen des 13. war die Neugier der großen Menge in Chicago so gut wie verdoppelt. Die Tageszeitungen hatten die Gemüther bis zum höchsten Grade in Spannung versetzt. Im Saale des Auditoriums wimmelte es von Neugierigen ebenso wie an jenem Tage, wo das Testament William J. Hypperbone's öffentlich verlesen wurde. Um acht Uhr früh sollte ja zum siebentenmale gewürfelt werden, und zwar für die geheimnißvolle und räthselhafte Persönlichkeit, die man nur unter den Buchstaben X. K. Z. kannte.

Vergeblich hatten sich viele bemüht, das Incognito dieses Partners zu entschleiern. Die gewandtesten Berichterstatter, die schärfsten Spürnasen der Localchronik waren daran gescheitert. Mehrmals glaubten sie schon, eine Fährte entdeckt zu haben, doch immer erwies sich diese als falsch. Anfangs glaubte man allgemein, der Entseelte habe mittelst des dem Testamente angefügten Codicills einen seiner Collegen aus dem Excentric Club als Siebenten an dem großartigen Match betheiligen wollen. Man nannte wohl auch den Namen Georges B. Higginbotham, der Betreffende widersprach aber mit Bestimmtheit jener schon weitverbreiteten Vermuthung.

Wurde hierüber eine Frage an Meister Tornbrock gerichtet, so erklärte dieser, daß auch er nichts weiteres wisse und keinen andern Auftrag habe als den, an die Postämter der Orte, wo sich der »Mann mit der Maske« – wie man zu sagen pflegte – aufzuhalten verpflichtet sei, das Ergebniß des Würfelns zu telegraphieren.

Inzwischen erwartete man, und vielleicht nicht ohne Grund, daß der Herr X. K. Z. an diesem Morgen auf den Aufruf derselben Buchstaben antworten werde. Das hatte die Massenansammlung veranlaßt, von der nur ein kleiner Theil ein Plätzchen vor der Bühne erlangen konnte, worauf der Notar und die Mitglieder des Excentric Club erschienen. Zu Tausenden drängten sich die Leute noch in den benachbarten Straßen und in den schattigen Gängen des Lake-Park.

Die Neugier erfuhr eine vollkommene Enttäuschung. Maskiert oder nicht – jedenfalls tauchte kein Individuum auf, als Meister Tornbrock, nachdem die Würfel über die Karte gerollt waren, die Zahl ihrer Augen verkündigte.

»Neun, durch sechs und drei,« rief er, »sechsundzwanzigstes Feld, Staat Wisconsin!«

Merkwürdig – das war dieselbe Zahl, die für Lissy Wag, und zwar ebenfalls durch sechs und drei, beim Würfeln gefallen war. Von ernstester Bedeutung für die junge Dame war aber der Umstand, daß sie nach den von dem Verstorbenen aufgestellten Vorschriften, wenn sie sich noch an dem Tage in Milwaukee befand, wo dieser X. K. Z. dort eintraf, ihm ihren Platz räumen und wieder zurückgehen mußte, was also mit einem Wiederanfangen der Partie gleichbedeutend war. Und nun nicht abreisen zu können, an Chicago gebannt zu sein!

Die Menge wollte nicht weichen; sie wartete. Niemand zeigte sich. Zuletzt mußten die Leute nachgeben und gehen. Das erregte einen so allgemeinen Unwillen, daß die Abendblätter sehr wenig schmeichelhafte Artikel über den unglückseligen X. K. Z. brachten. Nein, man führte eine ganze Bevölkerung nicht so an der Nase herum!

So verstrichen die Tage. Alle achtundvierzig Stunden wiederholte sich das Auswürfeln genau nach bestehender Vorschrift und der Ausfall wurde jedem, den es betraf, telegraphisch nach dem Orte gemeldet, wo er sich zur bestimmten Zeit aufzuhalten hatte.

Endlich kam der 22. Mai heran. Von X. K. Z. verlautete nichts; auch in Wisconsin war er noch nicht aufgetaucht, freilich genügte es ja, wenn er sich nur am 27. im Postamte von Milwaukee einstellte. Lissy Wag, die jetzt fast ganz wiederhergestellt war, hätte sich nun wohl unmittelbar nach Milwaukee begeben und, entsprechend den Regeln des Spiels, die Stadt auch wieder verlassen können, bevor X. K. Z. daselbst wieder eintraf, da drängte sich ihr aber grade die Befürchtung auf, daß Jovita Foley, die infolge nervöser Ueberreizung dem Zusammenbrechen nahe war, an ihrer Stelle erkranken könnte. Sie erlitt wirklich einen leichten Fieberanfall, der sie zwang, das Bett zu hüten.

»Ich hatte es Dir vorhergesagt, meine arme Jovita;« begann Lissy Wag. »Du hast Dich nicht gehalten . . .«

»O, das wird nichts zu bedeuten haben, meine Beste. Uebrigens liegt die Sache jetzt ganz anders. Ich bin am Spiele persönlich nicht betheiligt, und wenn ich nicht abreisen kann, so reisest Du eben allein . . .«

»Nimmermehr, Jovita!«

»Du wirst es aber vielleicht müssen . . .«

»Niemals, sag' ich Dir! Mit Dir . . . ja, obgleich auch da kein gesunder Sinn drin liegt. Ohne Dich . . . nein!«

Für den Fall, daß Jovita Foley sie nicht begleiten könnte, war Lissy Wag fest entschlossen, auf die Möglichkeit, William J. Hypperbone's einzige Erbin zu werden, von vornherein zu verzichten.

Die Verhältnisse gestalteten sich jedoch unerwartet günstiger – ein Tag strenge Diät und vollkommene Ruhe genügten, Jovita Foley wieder herzustellen. Am Nachmittage des 22. konnte sie aufstehen und ging sofort daran, den Koffer zu packen, den die beiden jungen Mädchen auf ihren Fahrten durch die Vereinigten Staaten mitnehmen wollten.

»Ach,« rief sie, »zehn Jahre meines Lebens gäb' ich darum, wenn wir schon unterwegs wären!«

Mit den zehn Jahren, die sie schon wiederholt um irgend etwas zu geben bereit gewesen war, und den zehn Jahren, die sie auf der Reise jedenfalls noch um dies oder jenes willen anbieten würde, blieb ihr freilich nur noch wenig Zeit über, auf dieser Erde zu wandeln.

Die Abreise wurde nun auf den 23. morgens acht Uhr festgesetzt, wo ein Zug abging, der binnen zwei Stunden Milwaukee erreichte, so daß Lissy Wag hier die Depesche des Meister Tornbrock noch vor der Mittagsstunde in Empfang nehmen konnte. Dieser letzte Tag wäre auch ohne jeden Zwischenfall verlaufen, wenn die beiden Freundinnen kurz vor fünf Uhr nicht noch einen ganz unerwarteten Besuch erhalten hätten.

Lissy Wag und Jovita Foley lehnten im Fenster und sahen nach der Straße hinunter, wo sich noch eine Anzahl Neugieriger herumtummelte, die die Blicke unausgesetzt nach ihren Fenstern gerichtet hielten.

Da ertönte die Klingel an der Thür; Jovita ging hinaus, um zu öffnen.

Der Personenaufzug hatte einen Herrn nach dem Vorsaale des neunten Stockwerks befördert.

»Fräulein Lissy Wag? . . .« fragte der Fremde, das junge Mädchen grüßend.

»Befindet sich hier in ihrer Wohnung, mein Herr.«

»Könnte sie mich vielleicht empfangen?«

»Ja . . . Miß Wag ist sehr krank gewesen,« antwortete Jovita Foley zögernd; »ob es ihr recht ist . . .«

»Ich weiß, daß sie die letzten Tage krank war,« sagte der Besucher, »habe aber Grund zu glauben, daß sie wieder völlig genesen ist.«

»Vollständig, mein Herr, wir wollen ja morgen früh abreisen.«

»Ah, ich habe die Ehre, Fräulein Jovita Foley zu sprechen? . . .«

»Ich bin Jovita Foley; kann ich Ihnen nicht an Stelle Lissy Wag's etwa gewünschte Auskunft geben?«

»Ich zöge es doch vor, sie selbst zu sehen . . . mit eignen Augen zu sehen . . . wenn das irgend möglich ist.«

»Darf ich fragen, was Sie hierher fuhrt?«

»O, ich habe vor Ihnen nichts zu verheimlichen, verehrtes Fräulein. Ich habe die Absicht, bezüglich des Match Hypperbone eine Wette abzuschließen . . . eine bedeutende Summe auf die fünfte Partnerin zu setzen, und Sie begreifen da wohl, daß ich recht sehr wünschte . . .«

Jovita Foley begriff das . . . ja sie war entzückt darüber! Endlich einer, der die Aussichten, die Lissy Wag hatte, mit so günstigen Augen ansah, daß er Tausende von Dollars auf sie verwetten wollte.

»Mein Besuch wird nur kurz . . . ganz kurz sein,« setzte der Herr, sich verbeugend, hinzu.

Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit graugesprenkeltem Barte und noch durch den Klemmer glänzenden, für sein Alter eher etwas gar zu lebhaften Augen, von vornehmem Aeußern und edeln Gesichtszügen, von hohem Wuchse und mit auffallend sanfter Stimme. So dringend er Lissy Wag auch zu sehen verlangte, bewahrte er dabei doch die größte Höflichkeit und entschuldigte sich, diese – noch dazu am Vorabend einer so wichtigen Reise – zu belästigen.

Jovita Foley glaubte keine Ursache zur Abweisung des Gastes zu haben, zumal da sein Besuch nicht lange dauern sollte.

»Darf ich um Ihren Namen bitten, mein Herr?«

– Humphry Weldon aus Boston, Massachusetts,« antwortete der Fremde.

Er folgte Jovita Foley in das von dieser geöffnete Zimmer und trat dann in das zweite ein, worin Lissy Wag sich aufhielt.

Bei seinem Erscheinen wollte diese sich erheben.

»O bitte, incommodieren Sie sich nicht, mein Fräulein! Verzeihen Sie nur meine Aufdringlichkeit . . . ich wünschte aber gar zu sehr, Sie, und wär's nur für einen Augenblick, vor Ihrer Abreise zu sehen.«

Jovita Foley hatte ihm inzwischen einen Stuhl gebracht, auf dem er dankend Platz nahm.

»Einen Augenblick . . . nur einen Augenblick!« wiederholte er. »Wie ich schon Fräulein Foley sagte, gedenke ich auf Sie eine größere Summe zu setzen, denn ich glaube an Ihren schließlichen Erfolg und wollte mich heute nur überzeugen, ob auch Ihr Gesundheitszustand . . .«

»O, ich bin völlig wiederhergestellt, Herr Weldon,« erwiderte Lissy Wag, »und ich danke bestens für das Vertrauen, daß Sie zu mir hegen. Doch, ehrlich gesprochen, meine Aussichten . . .«

»Das sind Sachen des Vorgefühls, mein Fräulein,« fiel Herr Weldon überzeugten Tones ein.

»Ja . . . eines unabweisbaren Vorgefühls,« stimmte Jovita Foley ein.

»Darüber ist nicht zu rechten, verehrtes Fräulein . . .«

»Und was Sie bezüglich meiner Freundin Lissy denken,« rief Jovita Foley, »ganz dasselbe denke ich auch! Ich bin überzeugt, daß sie gewinnen wird . . .«

»Und ich nicht minder, wenigstens wenn sich ihrer Abreise kein Hinderniß in den Weg stellt,« erklärte Herr Weldon.

»Morgen,« versicherte Jovita Foley, »werden wir beide rechtzeitig auf dem Bahnhofe sein und der Zug bringt uns noch am Vormittage nach Milwaukee . . .«

»Wo Sie, wenn nöthig, einige Tage der Ruhe pflegen können,« bemerkte Weldon.

»O nein . . . das geht nicht an,« widersprach ihm Jovita.

»Und warum nicht?«

»Weil wir dort nicht mehr sein dürfen, wenn jener X. K. Z, daselbst eintrifft . . . sonst müßten wir die Partie ja wieder von vorn anfangen.«

»Ja, ja . . . das ist richtig.«

»Mich beunruhigt nur, wohin wir das zweitemal geschickt werden,« ließ sich Lissy Wag vernehmen.

»O, sorge Dich nicht darum, wohin es auch sein mag!« rief Jovita Foley mit einer vorwärtsstrebenden Bewegung, als hätte sie Flügel bekommen.

»Hoffen wir, Fräulein Wag,« sagte der Gast, »daß der zweite Wurf für Sie ebenso glücklich wie der erste ausfallen werde!«

Der brave Mann sprach hierauf von verschiedenen, unterwegs zu beobachtenden Vorsichtsmaßregeln, von der Nothwendigkeit, die Fahrpläne sorgsam zu studieren und mit peinlicher Sorgfalt die besten Züge der Bahnlinien auszuwählen, die das Gebiet der Union mit so engmaschigem Netze bedecken.

»Im Uebrigen,« setzte er hinzu, »ist es mir sehr angenehm zu wissen, Fräulein Wag, daß Sie nicht allein reisen.«

»Nein, meine Freundin begleitet mich, oder richtiger, sie nimmt mich ins Schlepptau . . .«

»Das ist recht von Ihnen, Fräulein Foley,« meinte Weldon. »Es ist allemal besser, zu Zweien zu reisen. Es ist auch angenehmer . . .«

»Und klüger obendrein, wenn es darauf ankommt, keine Züge zu verfehlen,« erklärte Jovita Foley.

»Ich rechne auch nicht wenig mit auf Sie,« sagte der Besucher, »Sie werden Ihr Möglichstes thun, damit Fräulein Wag gewinnt . . .«

»Darauf können Sie sich verlassen, Herr Weldon!«

»Ich begleite Sie mit den besten Wünschen, meine Damen, denn Ihr Erfolg sichert ja auch den meinigen!«

Der Besuch hatte gegen zwanzig Minuten gedauert, und nachdem er um die Erlaubniß gebeten hatte, Fräulein Wag und dann auch ihrer liebenswürdigen Freundin die Hand drücken zu dürfen, wurde Humphry Weldon wieder nach dem Aufzug geleitet, von dem aus er noch einen letzten Gruß heraufwinkte.

»Der arme Mann,« sagte hierauf Lissy Wag, »und wenn ich mir vorstelle, daß ich es sein soll, durch die er sein Geld verliert . . .«

»Na ja . . . ist schon gut,« fiel ihr Jovita ins Wort. »Denk' aber daran, was ich Dir sage, meine Liebe: Diese alten Herren haben meist eine richtige Ahnung . . . einen Spürsinn, der sie auf keine falsche Fährte leitet. Der wackre Mann, der eben bei uns war, ist für Dich ein Glücksbote im Spiele!«

Alle Vorbereitungen waren beendet – der Leser weiß ja, schon seit langer Zeit – die beiden hatten sich nur noch einmal für die Nacht schlafen zu legen und mit dem nächsten Morgenrothe aufzustehen. Noch einmal erwarteten sie jedoch den Arzt, der am Abend wiederzukommen versprochen hatte. Doctor M. P. Pughe stellte sich auch richtig ein und konnte versichern, daß der Gesundheitszustand seiner Clientin nichts zu wünschen übrig lasse, daß jede Befürchtung ernster Complicationen nun hinfällig geworden sei.

Am nächsten Tage, dem 23. Mai, war die ungeduldigere der beiden Reisenden schon um fünf Uhr morgens auf den Füßen.

Die zuweilen unberechenbare Jovita Foley erdichtete sich jetzt in ihrer Erregtheit aber noch eine ganze Reihe von Behinderungen und unglücklichen Zufällen. Wenn nun der Wagen, der sie nach dem Bahnhofe bringen sollte, unterwegs umstürzte . . . wenn ein Verkehrshindernis ihm den Weg versperrte . . . wenn vielleicht die Abgangszeit des Zuges verlegt worden wäre . . . wenn eine Entgleisung stattfände . . .

»O, beruhige Dich doch, Jovita,« redete ihr Lissy Wag zu, »ich bitte Dich, werde ruhiger!«

»Ich kann's nicht, mein Herz, ich kann's einmal nicht!«

»Wirst Du während der ganzen Reise in solcher Gemüthsverfassung sein?«

»Die ganze Zeit über!«

»Dann bleib' ich lieber hier.«

»Der Wagen steht unten, Lissy! Schnell . . . vorwärts!«

In der That wartete vor dem Hause ein Wagen, der gut um eine Stunde zu zeitig bestellt war. Die beiden Freundinnen begaben sich hinab, begleitet von den Glückwünschen des ganzen Hauses, an dessen Fenstern sich trotz der frühen Morgenstunde einige hundert Köpfe zeigten.

Das Gefährt nahm den Weg durch die North Avenue nach der North Branch, bog dann nach dem rechten Ufer des Chicagoflusses ab, rollte über dessen Brücke am Ende der Van Burenstraße und setzte die Reisenden zehn Minuten nach sieben Uhr am Bahnhofe ab.

Jovita Foley empfand wohl eine gewisse Enttäuschung, als sie bemerkte, daß die Abfahrt der fünften Partnerin keine große Ansammlung von Neugierigen veranlaßt hatte. Offenbar war Lissy Wag im Match Hypperbone nicht der Günstling der Menge. Das bescheidne junge Mädchen selbst beklagte sich darüber jedoch nicht, sie zog es beiweitem vor, Chicago ohne Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit zu verlassen.

»Sogar der zuvorkommende Herr Weldon ist nicht zur Stelle!« konnte Jovita zu bemerken nicht unterlassen.

In der That hatte es der Besucher von gestern nicht für nöthig erachtet, die Partnerin, an der er doch ein sehr großes Interesse hatte, im Waggon unterzubringen!

»Da siehst Du es ja,« meinte Lissy Wag, »auch er giebt mich auf!«

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung, ohne daß sich jemand um die Anwesenheit Lissy Wag's gekümmert hätte. Da hörte man keine Hurrahs, keine Hipps, höchstens brachte Jovita Foley solche im stillen für ihre Freundin aus.

Die Bahnlinie folgt dem Ufer des Michigansees. Lake View, Evanston, Glenoke und andre Stationen wurden im Fluge durcheilt. Das Wetter war herrlich. Bis weit hinaus glitzerte das von Dampfern und Segelschiffen belebte Wasser . . . das Wasser, das sich von See zu See, vom Obern durch den Huron-, Michigan-, Erie- und Ontariosee in das breite Bett des St. Lorenz-Stromes und endlich in den Atlantischen Ocean ergießt. Nachdem der Zug Vankegan, eine bedeutendere Stadt am Seeufer, verlassen hatte, überschritt er an der Station der State Line die Grenze von Illinois und gelangte damit auf den Boden von Wisconsin. Etwas weiter im Norden hielt er in Racine, einer mächtig aufblühenden Fabriksstadt, und es war noch nicht zehn Uhr, als er in den Bahnhof von Milwaukee einlief.

»Wir sind da . . . sind an Ort und Stelle!« jubelte Jovita Foley mit einem solchen Seufzer der Befriedigung, daß sich ihr Schleier wie ein Segel vor dem Winde aufblähte.

»Und noch gut zwei Stunden vor der letzten Frist,« bemerkte Lissy Wag, die nach ihrer Uhr gesehen hatte.

»Nein, vierzehn Tage zu spät!« entgegnete Jovita, als sie auf den Bahnsteig hinaussprang.

Sofort beeilte sie sich, ihren Koffer in der Unmasse von Gepäckstücken zu erspähen.

Der Koffer hatte sich nicht verirrt, ja man weiß eigentlich nicht, warum Jovita Foley diese Befürchtung hegte. Jetzt fuhr ein Miethwagen vor. Die beiden jungen Mädchen stiegen ein und ließen sich nach einem guten Hotel fahren, das im Guide-book besonders empfohlen war. Auf die Frage, ob sie sich in Milwaukee längere Zeit aufzuhalten gedächten, antwortete Jovita Foley, daß sie das nach ihrer Zurückkunft vom Postamte sagen werde, daß sie aber wahrscheinlich noch am heutigen Tage weiterreisen würden.

Dann wendete sie sich an Lissy Wag.

»Verspürst Du denn keinen Hunger?«

»O, ich frühstückte gern ein wenig, Jovita.«

»Nun gut, so wollen wir erst etwas genießen und machen danach unsern Gang ab.«

»Du weißt aber, zu Mittag . . .«

»Ja freilich, ich weiß es, meine Liebe!«

Da sie sich noch nicht ins Fremdenbuch eingetragen hatten und das auch erst nach der Rückkehr vom Postamte thun wollten, konnte Milwaukee nicht ahnen, daß sich die fünfte Partnerin vom Match Hypperbone in seinen Mauern befand.

Dreiviertel zwölf Uhr betraten die beiden reisenden Damen das Postamt und Jovita Foley fragte den Schalterbeamten, ob eine Depesche für Miß Lissy Wag eingetroffen sei.

Bei Nennung dieses Namens erhob der Beamte den Kopf, und seine Augen drückten die größte Befriedigung aus.

»Für Miß Lissy Wag?« wiederholte er.

»Ja . . . aus Chicago,« antwortete Jovita Foley.

»Die Depesche ist hier,« sagte der Beamte, indem er das Telegramm der Adressatin einhändigte.

»Bitte . . . gieb es mir!« rief Jovita Foley. »Du brauchtest zu lange Zeit, es zu öffnen, und ich könnte wieder einem nervösen Anfalle unterliegen!«

Mit vor Ungeduld zitternden Händen öffnete sie das Papier und las darin:

»Lissy Wag, Post Office, Milwaukee, Wisconsin.

Zwanzig durch zweimal zehn; sechsundvierzigstes Feld, Staat Kentucky, Mammuthöhlen.

Tornbrock.«

 


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