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Die Witterung war unsicher; von Osten her blies ein frischer Wind. Das von der Halbinsel Florida geschützte Meer zeigte noch nicht die mächtige Wogenbildung des Atlantischen Oceans, und die »Chicola« hielt sich gut unter Segel.
Von der Seekrankheit, die Tom Crabbe so elend mitgespielt hatte, hatte weder der Commodore noch Turk etwas zu fürchten. Was die Segelmanöver der Goelette anging, waren sie sogar bereit, den Schiffer Huelcar und seine zwei Leute zu unterstützen, wenn ein plötzlicher Windstoß das nöthig machte.
Scharf am Winde liegend, lavierte die »Chicola«, um sich immer unter dem Schutze des Landes zu halten. Hierdurch erlitt die Fahrt zwar eine Verzögerung, über dem Golf entfesseln sich aber zuweilen furchtbare Stürme, und ein leichtes Fahrzeug darf sich deshalb nicht zu weit hinauswagen, sondern muß stets in der Nähe der vielen Häfen, Buchten und Flußmündungen der Halbinsel bleiben, in die Schiffe von geringem Tonnengehalt bequem einlaufen können. Bei der jetzt eingehaltenen Fahrt fand die »Chicola« stets eine Einbuchtung, worin sie für einige Stunden Zuflucht suchen konnte. Freilich ging damit etwas Zeit verloren, und Hodge Urrican hatte, wie wir wissen, nicht viel übrig.
Der Wind hielt den ganzen Tag und die Nacht über an, zeigte aber Neigung abzuflauen. Lief er nach der entgegengesetzten Richtung über, so hätte das die Fahrt in wünschenswerther Weise begünstigt. Leider legte er sich am nächsten Tage fast ganz, und die »Chicola« kam, obwohl sie ihr volles Segelwerk trug, kaum um zwanzig Meilen nach Südosten weiter. Es mußten sogar die Ruder mithelfen, um nicht hinaus nach dem offenen Meerbusen getrieben zu werden. In den nächsten achtundvierzig Stunden kam das Fahrzeug kaum von der Stelle. Der Commodore verzehrte sich vor Ungeduld, ließ aber gegen niemand, nicht einmal gegen Turk, ein Wort darüber fallen.
Von der Strömung im Golfe fortgetragen, befand sich die »Chicola« am 22. doch wenigstens in der Höhe von Tampa, einem Hafenplatze mit fünf- bis sechstausend Einwohnern, von dem aus Schiffe mit begrenztem Tonnengehalt in ziemlicher Sicherheit längs der Küste hinsegeln können, obwohl das Fahrwasser von Riffen und Schlammgründen unterbrochen ist. Die Goelette war von diesem aber gegen fünfzig Meilen entfernt und hätte nicht ohne großen Zeitverlust dahin steuern können, um längs der Küste Floridas bis zu dessen Südspitze hinunterzusegeln.
Ueberdies war nach der Windstille des vorigen Tages dem Aussehen des Himmels nach ein bevorstehender Umschlag im Zustande der Atmosphäre zu erwarten.
Der Commodore Urrican und Turk täuschten sich darüber ebensowenig, wie die Matrosen der Goelette.
»Wahrscheinlich kommt bald ein Umschlag des Wetters,« begann an diesem Morgen der Commodore Urrican.
»Nun, uns könnte es ja nur von Nutzen sein, wenn der Wind nach Westen umliefe,« antwortete Turk.
»Ja, das Meer ›fühlt etwas‹,« bestätigte der Schiffer Huelcar. »Sehen Sie dort die langen schweren Wellen und die Dünung, die da draußen läuft.«
Nachdem er dann den Horizont aufmerksam betrachtet hatte, setzte er den Kopf schüttelnd hinzu:
»Ich hab' es nicht gern, daß es von dieser Seite her weht . . .«
»Uns ist's aber grade recht,« bemerkte Turk, »und wenn wir auch ein Hundewetter bekommen . . . wenn's uns nur dahin jagt, wohin wir wollen!«
Hodge Urrican schwieg, offenbar beunruhigt durch die Vorzeichen, die zwischen Westen und Südwesten immer deutlicher hervortraten. So vortheilhaft es ist, eine steife Brise zu bekommen, muß man dazu doch in der Lage sein, das Meer halten zu können – mit diesem Fahrzeug von einigen vierzig Tonnen aber, das auch nur ein halbes Deck hatte . . . Nein, niemand konnte wissen, was jetzt in der unruhigen Seele des Commodore vorging, und wenn draußen auf dem offenen Meere schlechtes Wetter herrschte, so herrschte gewiß auch schlechtes Wetter im Innern Hodge Urrican's.
Am Nachmittage meldete sich der völlig nach Westen umgeschlagene Wind schon durch einzelne heftige Stöße, denen kurze Windstillen folgten. Die obern Segel mußten gereeft werden, und auf dem arg bewegten Wasser tanzte die Goelette wie eine Feder auf und ab.
Noch schlimmer wurde es in der Nacht, so daß man die Segelfläche weiter verkleinern mußte.
Jetzt wurde die »Chicola« mehr als wünschenswerth nach der Küste von Florida zugetrieben. Da es an Zeit gebrach, hier Schutz zu suchen, mußte der Curs nach Südosten auf die Spitze der Halbinsel zu um jeden Preis beibehalten werden.
Der Schiffer erwies sich als erprobter Seemann, und Turk sicherte, die Hand am Ruder, soviel wie möglich das Abtreiben der Goelette durch die seitlich heranrollenden Wogen.
Der Commodore half der Mannschaft, das Mars- und das Großsegel mehrmals zu reefen, und man ließ nur ein Klüversegel unverändert stehen. Trotzdem blieb es sehr schwierig, gegen Wind und Strömung, die nach dem Lande zu standen, einigermaßen aufzukommen.
Und in der That, am Morgen des 23. wurde die Küste, so niedrig sie auch war, durch die am Horizonte wogenden Dunstmassen sichtbar.
Huelcar und seine Leute erkannten sie nicht ohne eine gewisse Unruhe.
»Das ist die Bai von Whitewater,« sagten sie.
Diese tief ins Land einschneidende Bai ist von der Straße von Florida nur durch eine Landzunge getrennt, die ganz draußen auf dem Cap Sable das Fort Poinsett trägt.
Noch zehn Meilen in gleicher Richtung und die Goelette mußte daneben liegen.
»Ich fürchte, wir werden gezwungen sein, in der Bai vor Anker zu gehen,« sagte der Schiffer Huelcar.
»Da zu ankern . . . um bei diesem Winde nicht wieder herauszukommen!« rief Turk.
Hodge Urrican schwieg.
»Wenn wir hier nicht Schutz suchen,« fuhr der Schiffer fort, »und wenn uns der Wind auf der Höhe des Cap Sable in die Meerenge treibt, dann werden wir nicht in Key West, sondern an den Bahamainseln im offenen Ocean ankommen!«
Der Commodore schwieg noch immer; vielleicht hätte er, da ihm die Kehle zugeschnürt zu sein schien und die Lippen sich krampfhaft auf einander preßten, auch kein Wort herausbringen können.
Der Schiffer wußte recht gut, daß die »Chicola«, wenn er jetzt in die Bai von Whitewater einlief, darin wenigstens drei Tage festgehalten werden würde. Schon war es aber der 23. Mai, und vor Ablauf von achtundvierzig Stunden mußten seine Passagiere in Key West eingetroffen sein.
Die Mannschaft überbot sich nun in Eifer und Geschicklichkeit, das kleine Fahrzeug gegen den Wogenschwall des Meeres im richtigen Curs zu halten, selbst auf die Gefahr hin, den Mast brechen zu sehen oder mit den letzten Segeln zu kentern. So versuchten sie, mit Hilfe eines Klüver- und eines Bugsegels in ihrer Fahrtrichtung zu bleiben. Trotzdem verlor die Goelette im Laufe des Tages und in der folgenden Nacht davon noch etwa zehn Meilen. Drehte der Wind nicht nach Norden oder Süden, so konnte sie nicht widerstehen und lag am nächsten Tage an der Küste.
Das wurde noch wahrscheinlicher, als sich in den Morgenstunden des 24. das von Felsen eingerahmte und von Riffen bekränzte Land kaum fünf Meilen von der gefährlichen Spitze am Cap Table zeigte. Nur noch wenige Stunden, und die Goelette mußte in die Meerenge von Florida hineingetrieben sein.
Mit einiger Mühe und unter Benutzung der eingetretenen Fluth wäre es jetzt noch möglich gewesen, sich in die Bai von Whitewater zu flüchten.
»Es geht nicht anders . . . wir müssen . . .« erklärte Huelcar.
»Nein!« entgegnete Hodge Urrican.
»Ich habe keine Lust, mein Schiff einzubüßen und selbst mit zu Grunde zu gehen, wenn wir dabei beharren, noch weiter zu fahren!«
»Dein Schiff? . . . Das kauf' ich Dir ab . . .«
»Es ist nicht verkäuflich!«
»Ein Schiff ist stets zu verkaufen, wenn man es über seinen Werth bezahlt.«
»Wieviel bieten Sie?«
»Zweitausend Piaster.«
»Top, es gilt,« antwortete Huelcar, erfreut über einen so vortheilhaften Handel.
»Das ist das Doppelte seines Werthes,« sagte der Commodore Urrican. »Tausend sind dabei auf den Kasten gerechnet und tausend für Dich und Deine Leute.«
»Zahlbar wann? . . .«
»Ohne Aufschub, mit einem Check, den ich Dir in Key West ausstelle.«
»Einverstanden, Herr Commodore.«
»Und nun, Huelcar, hinaus ins Meer!«
Den ganzen Tag über kämpfte die »Chicola« sehr schwer. Wiederholt brachen Sturzseen über sie herein, ihre Schanzkleidung stand unter Wasser und oft war sie nahe daran zu kentern. Turk regierte sie aber mit starker Hand und die beiden Matrosen arbeiteten mit ebensoviel Muth wie Geschicklichkeit.
Der Goelette war es, dank einer leichten Veränderung des mehr nach Norden umgelaufenen Windes, gelungen, etwas von der Küste abzukommen. Als die Nacht aber hereinbrach, fing der Wind an schwächer zu werden und die Luft füllte sich mit undurchsichtigen Dünsten.
Das machte die Lage noch unheimlicher. Am Tage war keine Ortsbestimmung möglich gewesen. Befand sich die Goelette nun auf der Höhe des Cap Sable oder war sie schon über das Gewirr von Klippen, die sich vom Ende der Landzunge bis nach den Markesas- und den Tortugasinseln hinziehen, glücklich hinausgekommen?
Der Schätzung des Schiffers Huelcar nach mußte die »Chicola« sehr nahe dieser Kette von Eilanden sein, hinter der sich die überaus schnelle Strömung der Straße oder Meerenge von Florida mit dem warmen Wasser des Golfstroms vermischt.
»Ohne die abscheulichen Dünste,« sagte er, »sähen wir bestimmt schon den Leuchtthurm von Key West, und nun heißt es, vorsichtig sein, um nicht auf die Felsen zu gerathen. Meiner Ansicht nach wäre es besser, den Tag abzuwarten, und wenn sich dann der Nebel zerstreut . . .«
»Ich kann und werde nicht warten!« erklärte der Commodore.
Das war ja auch richtig; er konnte nicht warten, wenn er morgen Vormittag in Key West sein wollte.
Die »Chicola« setzte also ihre Fahrt nach Süden fort und segelte auf dem fast ruhig gewordenen Meere durch den Nebel weiter, als gegen fünf Uhr morgens ein harter Stoß und gleich darauf ein zweiter erfolgte.
Die Goelette hatte eine Unterwasserklippe angefahren.
Noch ein drittesmal von der unwiderstehlichen Dünung emporgehoben und niedergeschleudert, wurde sie halb zerstört, und mit eingedrücktem Vordertheil sank sie nach Backbord auf die Seite.
Da erscholl ein lauter Aufschrei.
Turk erkannte die Stimme des Commodore.
Er rief ihn an, erhielt aber keine Antwort.
Der Nebel war jetzt so dicht, daß man die Felsen rings um die Goelette nicht sehen konnte.
Dem Schiffer und seinen Leuten war es gelungen, auf der Klippe Fuß zu fassen.
Vereint mit ihnen suchte und rief Turk in voller Verzweiflung nach seinem Herrn.
Vergeblich das Rufen, vergeblich das Suchen.
Vielleicht zerstreute sich aber der Nebel und vielleicht fand Turk seinen Herrn doch noch lebend wieder? . . . Er wagte es kaum zu hoffen. Dicke Thränen rollten ihm über die gebräunten Wangen.
Gegen sieben Uhr begann der Nebel in den unteren Lagen sich aufzulösen und das Meer war damit auf einige Kabellängen zu erblicken.
Da zeigte sich ein Haufen weißlicher Felsen, gegen die die »Chicola« angelaufen und woran sie geborsten war. Ihr fast ganz zertrümmertes Boot war völlig unbrauchbar geworden. Etwa eine Viertelmeile weit dehnte sich von Westen nach Osten die von Wasserarmen unterbrochene Felsenbank aus, an der die Brandung wüthend aufschäumte.
Sofort wurden die Nachsuchungen wieder aufgenommen, und einem der Matrosen glückte es, den zwischen zwei Riffspitzen eingeklemmten Körper des Commodore Urrican zu entdecken.
Turk eilte herbei, warf sich auf seinen Herrn, schlang die Arme um ihn und hob ihn empor. Er sprach auf den Commodore ein, erhielt aber keine Antwort.
Ein leichter Hauch entfloh aber noch den Lippen Hodge Urrican's und sein Herzschlag war deutlich fühlbar.
»Er lebt! . . . Er lebt!« jubelte Turk.
Hodge Urrican erschien freilich übel zugerichtet. Beim Fallen war er mit dem Kopfe auf eine Steinkante aufgeschlagen. Blut lief aus der Wunde aber nicht mehr. Sie hatte sich schon von selbst fast geschlossen und wurde nun mit etwas Leinwand verbunden, nachdem man sie sorgfältig mit aus der Goelette geholtem Süßwasser ausgewaschen hatte. Dann wurde der noch immer bewußtlose Commodore nach einem höheren Theile des Eilands getragen, den keine Fluth und keine Welle erreichen konnte.
Der Himmel war jetzt ganz klar geworden, so daß man mehrere Meilen weit deutlich sehen konnte.
Es war neun Uhr zwanzig Minuten, da wies Huelcar plötzlich mit dem Arm nach Westen hin.
»Dort . . . der Leuchtturm von Key West,« rief er.
Wirklich lag Key West in dieser Richtung kaum vier Meilen (6,4 Kilometer) von hier entfernt. Wäre die Nacht klar gewesen, so hätte man sein Leuchtfeuer rechtzeitig peilen können und die Goelette wäre nicht zwischen diesen gefährlichen Klippen gescheitert.
Die Gewässer bei Niederflorida stehen bei den Seeleuten allgemein in üblem Rufe, und es erscheint sehr wünschenswerth, daß die Bundesregierung einen schon allseitig erwogenen Plan zur Ausführung bringe, die Anlage eines Canals, der die Halbinsel zwischen Ferdinandina und Cedar West durchschnitte. Diesen Canal würde vielen Schiffern zwischen dem Meerbusen von Mexico und dem Oceane gegen fünfhundert Meilen (800 Kilometer) Fahrt durch eine der schwierigsten Meerengen der Erde ersparen.
Für den sechsten Partner im Match Hypperbone schien das Spiel unter den vorliegenden Umständen wohl so gut wie verloren. Er hatte ja kein Mittel zur Hand, über die letzte Wasserfläche von dem Eiland aus, auf dem die »Chicola« zu Grunde gegangen war, hinweg zu gelangen und mußte hier also einfach warten, bis zufällig ein Boot vorüberkam, das die Schiffbrüchigen nach Key West beförderte.
Eine traurige Lage für die armen Leute, hier auf diesem einem Beinhause ähnlichen Haufen weißer Felsblöcke zu sitzen, die kaum fünf bis sechs Fuß über das Wasser bei Hochfluth emporragten. Rings um sie schwammen neben vielfarbigem Beerentang riesige Phyceen und kleinere Algen umher, die der mächtige Golfstrom vom Meeresgrunde abgerissen hatte.
In den Buchten wimmelte es von hunderterlei Fischarten jeder Größe und Gestalt; da tummelten sich Sprotten, Rochen, Lippfische, Wolfsbarsche, Clephtiken von wunderbarer Färbung, Silberfische und Karpfenforellen mit bunten Ringstreifen umher, und dazwischen schlichen noch Mollusken, große und kleine Garneelen, Krebse, Hummern, Krabben und Langusten hin.
Von allen Seiten schwammen freilich auch, durch den Schiffbruch angelockt, zwischen den Klippen gefräßige Haifische heran, vorzüglich jene sechs bis sieben Fuß langen Hammerfische mit ungeheurem Rachen, die auch für Menschen sehr gefährlich sind.
Vögel schwärmten in zahllosen Scharen umher, wie graue und Silberreiher, Krabbentaucher, Möven, Steißfüßer und Cormorans. Einige große, halb im Wasser stehende Pelikane fischten mit ebensoviel Ernst aber großem Erfolge wie menschliche Fischer und schrien dazu mit »Höhlenstimme«, wie ein französischer Reisender sich ausgedrückt hat, ihr widerliches »Hornkorr« hinaus. Von allem, was hätte zum Essen dienen können, fand sich auf der Klippe nichts als Unmassen von Schildkröten, die man im Wasser selbst oder aus dem da und dort vorhandenen schmalen Strande hätte erlegen können.
Inzwischen verstrich die Zeit, doch trotz der Pflege, an der man es ihm nicht fehlen ließ, schien der unglückliche Commodore nicht wieder zu sich kommen zu wollen. Die Fortdauer dieses Zustandes versetzte Turk in die größte Unruhe. Hätte er seinen Herrn nach Key West schaffen und ihn dort einem Arzte übergeben können, so wäre dieser, bei seiner kräftigen Seemannsnatur, wahrscheinlich gerettet worden. Leider konnten jedoch noch so manche Tage vergehen, ehe sich den Schiffbrüchigen Gelegenheit bot, das Eiland zu verlassen, denn die Goelette war unmöglich wieder flott zu machen, da ihr Boden eingeschlagen war, und jedenfalls zerstreute der nächste Sturm ihre Trümmer nach allen Seiten.
Selbstverständlich überließ sich Turk gar keiner falschen Hoffnung mehr über den möglichen Ausgang des Match Hypperbone. Für Hodge Urrican war die Partie verloren. Wie mußte er zornig aufbrausen, wenn ihm das Bewußtsein zurückkehrte, und diesmal hätte man ihm, gegenüber einem so abscheulichen Unglück, das wohl verzeihen können.
Es war ein wenig über zehn Uhr, als einer der Matrosen der »Chicola«, der auf den äußersten Felsstücken Ausguck hielt, einen Ausruf hören ließ.
»Ein Boot . . . ein Boot!« rief er laut.
In der That näherte sich, von einem leichten Ostwinde getrieben, ein Fischerboot dem Eilande.
Sofort gab Huelcar ein Signal, das von den Leuten im Boote bemerkt wurde, und eine halbe Stunde später steuerte dieses mit den Schiffbrüchigen schon auf Key West zu.
Jetzt dämmerte in Turk wieder ein Hoffnungsschimmer auf, und vielleicht hätte auch Hodge Urrican wieder zu hoffen angefangen, wenn er jetzt aus dieser Umnachtung erwacht wäre, die ihn für alle äußern Vorgänge unempfindlich machte.
Von der Brise begünstigt, legte das Boot die vier Meilen recht schnell zurück, und ein Viertel auf zwölf lag es schon vor Anker im Hafen.
Die auf der zwei Lieues (7,8 Kilometer) langen und halb so breiten Insel Key West gelegene Stadt ist ebenso emporgewachsen, wie etwa Pflanzen bei intensivster Cultur in die Höhe schießen. Sie bildet schon ein ziemlich bedeutendes Gemeinwesen, das durch Telegraphenlinien mit den übrigen Staaten des Bundes und mit Havanna durch ein Unterseekabel in Verbindung steht. Der Stadt winkt noch eine große Zukunft, sie wächst auffallend schnell, dank einem Schiffsverkehre, der jährlich bereits dreihunderttausend Tonnen erreicht. Uebrigens gewähren ihre dunklen Haine von Magnolien und andern prächtigen Gewächsen der Tropenzone einen höchst anmuthigen Anblick.
Das Boot hatte kaum im Hintergrunde des Hafens angelegt, da sammelten sich schon – Key West hatte jener Zeit achtzehntausend Einwohner – einige hundert Leute um die Schiffbrüchigen. Sie erwarteten den Commodore Urrican – und in welch traurigem Zustande zeigte er sich jetzt ihren Augen!
Offenbar war das Meer kein Freund der Partner des Match Hypperbone – denn Tom Crabbe war in Texas als willenlose Masse eingetroffen und der Commodore hier als Leiche, oder doch nahezu als solche, angelangt.
Hodge Urrican wurde nach einem Bureau des Hafens geschafft, wo ein Arzt ihm die erste Hilfe angedeihen ließ.
Der Bewußtlose athmete noch, und wenn sein Herz auch nur sehr leise schlug, so schien er doch keine Verletzung innerer Organe erlitten zu haben. Als er aus der Goelette gestürzt war, hatte er freilich durch das Aufschlagen an eine Felskante einen Schädelbruch davongetragen und viel Blut verloren, so daß die Annahme einer Gehirnverletzung nicht ausgeschlossen war.
Trotz der größten Sorgfalt, trotz der kräftigsten Massierung, die Turk – und man kann sich wohl vorstellen, mit welchem Eifer – ausführte, kam der Commodore, obwohl er zwei- oder dreimal schwach aufseufzte, doch noch nicht wieder zur Besinnung.
Der Arzt empfahl nun, ihn nach dem Zimmer eines guten Hôtels zu schaffen, wenn man nicht vorzöge, ihn dem Krankenhause von Key West zu übergeben, wo er besser als irgendwo anders gepflegt werden könnte.
»Nein,« erklärte Turk bestimmt, »weder ins Krankenhaus, noch in ein Hôtel . . .«
»Wohin denn?«
»Nach dem Postamte!«
Dem wackern Turk war ein Gedanke gekommen, ein Gedanke, den alle Anwesenden begriffen und für richtig hielten. Da Hodge Urrican heute am 25. Mai noch des Vormittags – und gegen Wind und Fluth, konnte man sagen – in Key West angekommen war, erschien es ja geboten, daß seine Anwesenheit an dem Orte, wo er am genannten Datum sein sollte, auch officiell bestätigt würde.
Man besorgte also eine Tragbahre, legte eine Matratze darüber und streckte den Commodore vorsichtig darauf aus. Dann setzte sich der Zug, von einer immer anwachsenden Volksmenge begleitet, langsam in Bewegung.
Die Postbeamten erstaunten nicht wenig über den Anblick, der sich ihnen darbot, und glaubten an einen Irrthum. Hielten die Leute das Postgebäude denn für ein Leichenschauhaus? . . . Als sie aber hörten, daß der regungslose Körper der des Commodore Urrican, eines der Partner im Match Hypperbone sei, da verwandelte sich ihr Erstaunen in eine Art mitleidiger Rührung. Er war also doch zur Stelle, hier vor dem Telegraphenschalter, wohin ihn die fünf und vier Augen der Würfel aus so großer Ferne verwiesen hatten . . . doch in welch bejammernswertem Zustande.
Turk trat sofort an das Schalterfenster.
»Findet sich hier eine Depesche für den Commodore Hodge Urrican?« fragte er mit so lauter Stimme, daß ihn alle verstehen mußten.
»Bis jetzt noch nicht,« antwortete der Beamte.
»Schön, mein Herr,« erwiderte Turk, »dann bitte ich Sie nur, uns zu bestätigen, daß wir vor deren Eingang hier gewesen sind.«
Diese Thatsache wurde sofort und vor vielen Zeugen auf einem Stempelbogen amtlich bescheinigt.
Es war jetzt dreiviertel auf zwölf Uhr, und es galt nur, das Telegramm abzuwarten, das diesen Morgen doch ohne Zweifel in Chicago aufgegeben war.
Das Warten sollte nicht lange währen.
Um elf Uhr dreiundfünfzig Minuten erklang die Glocke des Telegraphenapparats, sein Mechanismus trat in Thätigkeit und der bekannte Papierstreif rollte langsam ab.
Sobald der Beamte ihn herausgezogen hatte, las er die Adresse und sagte:
»Eine Depesche für den Commodore Hodge Urrican.«
»Hier!« antwortete Turk im Namen seines Herrn, an dem der Arzt auch jetzt noch kein Zeichen der wiedergekehrten Besinnung entdecken konnte.
Die Depesche hatte folgenden Wortlaut:
»Chicago, Illinois, 8 Uhr 13 morgens, 25. Mai.
Fünf, durch drei und zwei, achtundfünfzigstes Feld, Staat Kalifornien, Death Valley.
Tornbrock.«
Der Staat Californien, am andern Ende des Bundesgebiets, das von Südost nach Nordwest in seiner ganzen Länge durchmessen werden mußte! . . .
Und nicht nur eine Entfernung von mehr als zweitausend Meilen (3200 Kilometer) trennt Californien von Florida, jenes achtundfünfzigste Feld des Edeln Gänsespiels war auch das, das mit dem Todtenkopfe bezeichnet war. Wenn der Spieler aber nach diesem gelangte, war er obendrein genöthigt, nach dem ersten Felde zurückzukehren und die Partie von vorn anzufangen!
»O,« rief Turk, »möchte mein armer Herr lieber gar nicht mehr zu sich kommen, denn von einem solchen Schlage würde er sich nicht wieder erholen!«