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Das durch die Baltimorer Polizei beschlagnahmte Notizbuch war einige 30 Seiten stark, die mit Formeln, Gleichungen, Ziffern bedeckt waren und die Gesamtheit von J. T. Mastons Berechnungen darstellten. Eine Arbeit, die in das Gebiet der höheren Mechanik schlug und lediglich durch Mathematiker geschätzt und verstanden werden konnte. Unter anderm figurierte hier die Gleichung der lebenden Kraft
dieselbe, die sich akkurat so im Problem der »Erde zum Monde« vorfand, wo sie übrigens die auf die Anziehungskraft des Mondes bezüglichen Ausdrücke enthielt.
Das große Publikum hätte ja von dieser Arbeit absolut nichts verstanden. Darum erschien es ihm gegenüber recht wohl statthaft, über die gegebenen Größen und die seit Wochen von aller Welt mit Spannung diskutierten Resultate Mitteilungen zu veröffentlichen. Sobald die weisen Herren der Untersuchungskommission sich Kenntnis von den Formeln des berühmten Rechenmeisters verschafft hatten, übergaben sie alles der Publikationskraft der Journale und Zeichnungen, die denn auch ohne Rücksicht auf Parteifragen in diesen: Falle mit voller Kraft einsetzten.
Zunächst die Arbeit J. T. Mastons: Diskussion hierüber völlig ausgeschlossen! Korrekt gefaßtes Problem, zur Hälfte gelöstes Problem, hieß es, und beide ihm zuerteilte Eigenschaften trafen in bemerkenswerter Weise zu. Zudem waren die Exempel mit solchem Uebermaß von Akkuratesse gerechnet, daß es sich kein einziges Mitglied der Kommission beikommen ließ, Zweifel in ihre Richtigkeit und die aus ihnen hergeleiteten Resultate zu setzen. Wurde das Werk zu Ende geführt, so müßte die Erdachse unfehlbar eine Korrektur erleiden, und die vorausgesehenen Katastrophen würden sich in all ihrer Fülle vollziehen.
Bericht der Untersuchungs-Kommission Baltimore, abgefaßt durch deren Mitglieder und bestimmt zur Weitergabe an die Zeitungen, Rundschauen und Magazine der Alten und Neuen Welt.
»Die durch den Verwaltungsrat der »North Polar Practical Association« verfolgte Idee, die in dem Vorhaben gipfelt, an Stelle der alten Umdrehungsachse der Erde eine neue zu setzen, wird mittels Rückstoßes einer an einem bestimmten Punkte der Erde aufgestellten Maschine verwirklicht. Wenn die Seele dieser Maschine dergestalt mit dem Erdboden verfestigt wird, daß sie nicht rücken noch weichen kann, so unterliegt es keinem Zweifel, daß sich ihr Rückstoß auf die gesamte Masse unsers Planeten verpflanzen muß.
»Die Maschine, für die sich die Ingenieure der G. m. b. H. »North Polar Practical Association« nun entschieden haben, ist weiter nichts als ein Kanonenungetüm, dessen Effekt gleich Null sein würde, schösse man sie in senkrechter Richtung ab. Um den Maximal-Effekt zu erzielen, muß die Kanone in der Wagerechten nach Norden oder nach Süden visiert werden. Von der Firma Barbicane & Co. ist diese letztere Richtung gewählt worden. Unter solchen Bedingnissen bewirkt der Rückprall einen Stoß auf die Erde nach Norden – also entsprechend dem Stoß eines »feinstgenommenen« Billardballs.
»Genau dasselbe also, was jener scharfsinnige Franzose, den wir unter dem Namen Alcide Pierdeux kennen gelernt haben, geahnt hat.
»Sobald der Schuß abgefeuert ist, verrückt sich der Erdmittelpunkt in einer Richtung parallel der Richtung des Stoßes, zufolgedessen sich die Kreisbahn der Erde, also auch die Dauer des Erdjahrs verrücken kann, indessen in einem so schwachen Maße, daß es als absolut geringwertig angesehen werden muß. Gleichzeitig nimmt die Erde eine Umdrehungsbewegung um eine im Aequatorfelde befindliche Achse an, und ihre Umdrehung würde sich auf dieser neuen Achse in Ewigkeit vollziehen, wenn nicht die tägliche Bewegung schon vor dem Stoße dagewesen wäre.
»Diese Bewegung existiert nun aber und zwar um die Pole herum, und indem sie sich mit der durch den Rückprall bewirkten nebenläufigen Bewegung verquickt, schafft sie eine neue Achse, deren Pol sich von dem alten Pol um eine Quantität x entfernt. Wird nun noch der Schuß in dem Augenblicke abgegeben, wenn der Frühlingspunkt – einer der beiden Schnittpunkte des Aequators und der Ekliptik – im Nadir des Zielpunkts steht und wenn der Rückstoß stark genug ist, um den alten Pol um 23° 28' zu verrücken, so wird die neue Erdachse senkrecht zur Ebene ihrer Bahn sich stellen – ähnlich den Bedingungen, die für den Planeten Jupiter bestehen.
»Welche Veränderungen aus dieser Stellung der Senkrechten sich ergeben würden, geht aus den Mitteilungen hervor, zu denen Präsident Barbicane sich in der Sitzung vom 22. Dezember für verpflichtet gehalten hat.
»Da nun aber die Erdmasse und die ihr eigne Bewegungsmenge gegeben sind, entsteht die Frage: läßt sich ein Feuerschlund denken von solchem Umfange, daß sein Rückstoß im dermaligen Standorte des Pols eine Wandlung zu verursachen vermag, und zwar eine solche im Werte von 23° 28'?
Hierauf muß die Antwort Ja! lauten, sofern eine Kanone oder eine Reihe von Kanonen mit den durch die Gesetze der Mechanik erforderten Dimensionen konstruiert wird oder, falls es an solchen Dimensionen fehlt, sofern die Erfinder über einen Explosivstoff von ausreichend hoher Kraft verfügen, um dem Projektil die für solche Verrückung benötigte Geschwindigkeit zu verleihen.
Setzt man nun als Typ das 27-Centimeter-Geschütz der französischen Marine Modell 1875, das ein Projektil von 180 Kilogramm mit einer Geschwindigkeit von 500 Metern in der Sekunde schleudert, und gibt man diesem Feuerschlunde hundertmal, das heißt im Volumen millionenmal größere Dimensionen, so würde das Geschütz ein Geschoß von 180 Millionen Tonnen schleudern. Besäße nun noch das Pulver eine Treibkraft von solcher Gewalt, daß es dem Projektil eine Geschwindigkeit 5600 mal größer als das alte Schießpulver verleihen könnte, so würde das gesuchte Resultat gewonnen sein. Bei einer Geschwindigkeit von 2800 Kilometer auf die Sekunde die hinreichen würde, in einer Stunde die Strecke von Paris nach Petersburg zurückzulegen. A. d. Ue. steht nicht zu befürchten, daß der Prall des Geschosses, wenn es die Erde von neuem trifft, die Dinge in ihren Anfangszustand zurückversetzen wird.
»Zum Unglück für die Sicherheit der Erde befinden sich nun, so exorbitant dies auch erscheinen mag, J. T. Maston und seine Kollegen faktisch im Besitz solches Explosivstoffs von fast unbegrenzter Gewalt, von der das zum Abschuß ihrer »Columbiade« auf den Mond verwandte Pulver gar keine Vorstellung zu wecken vermag. Erfunden hat dieses Pulver Kapitän Nicholl. Welche Stoffe in seiner Zusammensetzung eine Rolle spielen, dafür finden sich in dem Notizbuch J. T. Mastons nur unzulängliche Vermerke, denn er beschränkt sich darauf, diesen Explosivstoff unter dem Namen »Meli-Melonit« anzuführen.
»Was man hierüber weiß, beschränkt sich darauf, daß es durch Reaktion eines »Meli-Melo« von organischen Stoffen und Salpetersäure gebildet wird. Eine gewisse Anzahl von monoatomigen Radikalen
setzt sich an die gleiche Anzahl von Wasserstoff-Atomen, und man gewinnt ein Pulver, das gleich der Schießbaumwolle aus der Kombination und nicht aus bloßer Mischung der brennenden und der brennbaren Stoffe gebildet wird.
»In Summa erhellt hieraus, welcher Natur auch dieser Explosivstoff sein mag, in Anbetracht der Gewalt, die er besitzt und die mehr als ausreichend ist, um ein Geschoß von 180 Tonnen Last außerhalb der Erdanziehungskraft hinauszuschleudern, – daß der Rückprall, den es dem Rohre verleihen wird, die folgenden Wirkungen haben wird: Veränderung der Achse, Verrückung des Pols um 23° 28' senkrechte Richtung der neuen Achse zur Ebene der Ekliptik. Hieraus entstehen all die von den Erdbewohnern mit so großem Recht befürchteten Katastrophen.
»Eine Möglichkeit, den Folgen einer Maßregel zu entrinnen, die Wandlungen in den geographischen und klimatischen Bedingungen der Erde herbeiführen muß, besteht indessen.
»Läßt sich überhaupt ein Geschütz von solchen Dimensionen konstruieren, daß es im Raumgehalt das Millionenfache des 27-Centimeter-Geschützes wäre? Ist die Annahme zulässig, daß Ingenieure unter Wahrnehmung der Fortschritte der Hüttenwerks-Industrie, welche Werke wie die Brücken über die Tay und über den Forth, wie den Garabit-Viadukt und den Eiffelturm gebaut hat, solch Riesengeschütz konstruieren können, ganz abgesehen zunächst von dem 180 000 Tonnen lastenden Geschoß, das in den Weltenraum geschleudert werden muß?
»Zweifel hieran sind statthaft. Offenbar liegt hierin einer der Gründe, um derentwillen der Versuch der G. m. b. H. Barbicane & Co. keine besonders hohe Aussicht auf Gelingen hat. Noch immer aber läßt er zahllosen Möglichkeiten von höchst beängstigender Natur das Feld offen, zumal es scheint, als ob die G. m. b. H. bereits an der Arbeit sei.
»Bekanntlich haben die genannten Personen Barbicane und Nicholl Baltimore und Amerika verlassen. Seit reichlich acht Wochen sind sie schon unterwegs. Wohin? – Ganz sicher nach jenem unbekannten Orte des Erdballs, wo alles zur Inszenierung ihres Versuchs hergerichtet wird.
»Welcher Ort des Erdballs ist dies nun aber? Man weiß es nicht. Mithin ist die Möglichkeit ausgeschlossen, die Verfolgung dieser verwegenen »Missetäter« ( sic!) ins Werk zu setzen, die sich unterfangen, unter dem Vorwande des Abbaus neuer Kohlenflöze die Welt aus den Angeln zu heben.
»Ganz entschieden fand sich dieser Ort in J. T. Mastons Notizbuch vermerkt, und zwar auf dem letzten Blatte, auf welchem sich eine Zusammenfassung all seiner Arbeiten vorfand. An dieser Ansicht besteht kein Zweifel. Dieses letzte Blatt Schreibpapier ist aber dem Zahn von Impey Barbicanes Mitschuldigen zum Opfer gefallen, und dieser zur Zeit im Baltimorer Stockhause inhaftierte Mitschuldige verweigert jegliche Auskunft.
»Dies ist zur Zeit die Sachlage. Gelingt es dem Präsidenten Barbicane, sein Riesengeschütz und sein Riesengeschoß zu fabrizieren, mit einem Worte: tritt sein Werk in die vorstehend auseinandergesetzten Bedingungen, dann wird er die alte Erdachse durch eine neue ersetzen, und binnen einem halben Jahre wird die Erde den Konsequenzen dieses »unverzeihlichen Beginnens« ( sic!) sich unterworfen sehen.
»Es ist nämlich für den Abschuß ein Termin festgesetzt worden, zu welchem also der der Erd-Ellipsoide verliehene Stoß sein höchstes Maß von Gewalt ausüben wird.
»Dieser Termin ist der 22. September, und zwar 12 Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian des Ortes X.
»Wenn nun einerseits bekannt ist: 1) daß der Schuß einer eine Million mal so großen Kanone wie das 27-Centimeter-Geschütz abgegeben werden soll, 2) daß diese Kanone mit einem Projektile von 180 000 Tonnen Last geladen werden soll, 3) daß für dieses Projektil eine Geschwindigkeit von 2800 Kilometer pro Sekunde ins Auge gefaßt ist, und daß 4) der Schuß am 22. September, 12 Stunden nach dem Durchgange der Sonne durch den Ortsmeridian abgegeben werden soll – läßt sich aus diesen Faktoren der Ort X herleiten, an welchem das Werk vor sich gehen soll?
»Augenscheinlich nicht! hat die Antwort der Sachverständigen-Kommission gelautet.
»Es läßt sich auch wirklich hiernach in keiner Weise berechnen, wo sich dieser Punkt X befinden wird, da sich in J. T. Mastons Arbeit keinerlei Angabe darüber vorfindet, an welcher Stelle des Erdballs die neue Achse laufen wird, mit andern Worten: an welcher Stelle die neuen Pole gelegen sein werden. Unter 23° 28' des alten Pols, nun ja! aber auf welchem Meridian? das festzustellen liegt faktisch außer allem Bereich der Möglichkeit.
»Demnach ist es weiterhin unmöglich, zu ermitteln, welche Länderbereiche zufolge der Niveau-Veränderungen der Weltmeere sich senken und welche sich erheben werden, welche Kontinente zu Meeren und welche Meere zu Kontinenten umgestaltet werden.
»Und doch wird diese Niveau-Veränderung nach J. T. Mastons Berechnung sehr beträchtlich sein. Nach dem Stoße wird die Meeresoberfläche die Gestalt eines um die neue Polarachse kreisenden Ellipsoids erhalten, das Niveau der flüssigen Schicht wird sich also an fast allen Punkten des Erdballs ändern.
»Der Durchschnitt des alten Meer-Niveaus und des neuen Meerniveaus – zwei gleicher Umdrehungsoberflächen, deren Achsen sich schneiden – wird sich nämlich aus zwei planen Kurven zusammensetzen, deren beide Flächen durch eine Senkrechte zur Fläche der beiden Polarachsen laufen werden, respektive durch die beiden Nebenschnittlinien des Winkels der beiden Polachsen. – (Wörtlich dem Notizbuch des Berechners entnommen.)
»Hieraus ergibt sich, daß die Maxima der Niveauveränderung eine Hebung oder Senkung von 8115 Metern im Verhältnis zum alten Niveau erreichen können und daß an gewissen Punkten des Erdballs verschiedene Landgebiete sich um diese Ziffer im Verhältnis zum neuen Niveau gesenkt oder gehoben haben werden. Diese Ziffer wird sich gradmäßig bis zu den Demarkationslinien verringern, welche den Erdball in vier Sektoren schneiden, an deren Grenze die Niveauveränderung gleich Null sein wird.
»Es muß weiter noch bemerkt werden, daß der alte Pol um reichlich 3000 Meter unter Wasser treten wird, da er sich zufolge der Abplattung des Sphäroids in einem geringern Abstande vom Mittelpunkte der Erde befindet. Mithin dürfte das von der »North Polar Practical Association« käuflich erworbene Dominium überschwemmt, dem Abbau also entzogen werden. Aber dieser Fall ist von Barbicane & Co. vorgesehen worden, und geographische Erwägungen, hergeleitet aus den jüngsten Entdeckungen, lassen den Schluß zu auf das Vorhandensein eines über 3000 Meter aufsteigenden Plateaus am arktischen Pol.
»Was nun diejenigen Punkte des Erdballs angeht, wo die Niveau-Veränderung 8415 Meter erreichen wird, mithin diejenigen Erdgebiete, über welche Katastrophen hereinbrechen werden, so läßt sich nichts Annäherndes sagen. Die genialsten Rechengenies würden hier in die Brüche geraten. Es gibt eben in dieser Gleichung eine Unbekannte, die sich durch keine Formel gleichen läßt. Das ist die genaue Lage des Punktes X, wo der Schuß abgegeben werden, von wo aus also der Stoß erfolgen soll ... Dieser Punkt X ist nun aber das Geheimnis der Urheber und Förderer dieser beklagenswerten Affäre.
»Um nun zu rekapitulieren, so haben die Erdbewohner, ganz ohne Rücksicht auf den Breitengrad, unter dem sie leben, ein unmittelbares Interesse, Kenntnis von diesem Geheimnis zu erlangen, weil sie durch die Maßnahmen und Handlungen von Barbicane & Co. unmittelbar bedroht sind.
»Deshalb wird den Bewohnern Europas, Afrikas, Asiens, Amerikas, Australiens und Oceaniens der Rat erteilt, alle in die Ballistik einschlägigen Arbeiten, z. B. den Guß von Geschützen, die Fabrikation von Pulver und Geschossen, die auf ihren Territorien bewirkt werden könnten, desgleichen die Anwesenheit jedes Fremden, dessen Ankunft irgendwie verdächtig sein könnte, zu überwachen und die Mitglieder der Untersuchungskommission zu Baltimore in Maryland, Vereinigte Staaten von Amerika, sofort zu benachrichtigen, wenn sie irgend welche auffälligen Momente bemerken sollten.
»Gebe der Himmel, daß diese Enthüllung vor dem 22. September laufenden Jahres erfolge, der die im Weltenbau waltende Ordnung zu erschüttern droht.«