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Die Hauptstädte beider Welten, auch alle Städte von einiger Bedeutung bis herunter zu den bescheidensten Marktflecken harrten in furchtbarer Bangigkeit. Aus den über die ganze Erdoberfläche verschwenderisch geschütteten Zeitungen, Flugblättern usw. kannte jeder die genaue Zeit, die der Mitternachtszeit des unterm 35. Grade östlicher Länge befindlichen Kilimandscharo entsprach.
Um nur die Hauptstädte zu nennen, entsprach diese Zeit, da die Sonne 1 Grad in 4 Minuten zurücklegt:
In Paris 9.40 abends
In Petersburg 11.81 "
In London 9.30 "
In Rom 10.20 "
In Madrid 9.15 "
In Berlin 11.20 "
In Konstantinopel 11.26 "
In Kalkutta 3.04 "
In Nanking 5.04 "
In Baltimore, wie schon gesagt, war es zur Zeit des Sonnendurchgangs durch den Meridian von Kilimandscharo 6 Uhr 24 Min. abends.
Ueber die Schrecken, die in diesem Augenblick alle Gemüter erfüllten, auch nur ein Wort zu verlieren, würde vergebliche Mühe sein. Die kraftvolle aller modernen Federn, und wenn sie sich aus der Schule der Dekadenten und Deliquescenten erhöbe, müßte sich als ohnmächtig erweisen, wollte sie solches Wagnis versuchen.
Daß die Bewohner von Baltimore nicht die Gefahr liefen, durch die Springflut der aus ihren Betten gehobenen Meere hinweggespült zu werden, soll ja gelten! ebenso, daß für sie es sich nur darum handelte, mit anzusehen, daß die Chesapeake-Bai ihres Wassers verlustig ging und daß sich das ihren Endpunkt bildende Kap Hatteras gleich einem Gebirgsgrat über den trocken gelegten Atlantischen Ozean hinwegzog! Aber würde denn nicht die Stadt, gleich soviel anderen, denen weder ein Grab in den Fluten noch eine Auferstehung aus den Fluten drohte, durch die Erschütterung des furchtbaren Erdstoßes über den Haufen gerannt werden? Würden nicht ihre Denkmäler vernichtet, ihre Stadtviertel in der Tiefe der Abgründe verschlungen werden, die sich an der Bodenoberfläche auftun konnten? und waren solche Befürchtungen nicht für jene verschiedenen Teile des Erdballs gerechtfertigt, die die aus ihrem Niveau gebrachten Fluten nicht wieder bedecken konnten?
Doch, augenscheinlich!
Darum eben fühlte jedes menschliche Wesen während dieser verhängnisvollen Minute das Gruseln des Entsetzens bis in das innerste Knochenmark gleiten. Ja! alles zitterte, ein einziges Wesen ausgenommen, und dieses einzige Wesen war der Ingenieur Alcide Pierdeux. Da es ihm an der Zeit gebrach, zur öffentlichen Kenntnis zu bringen, was ihm eine Schlußarbeit soeben enthüllt hatte, trank er ein Glas Champagner in einer der besten Trinkstuben der Stadt auf die Gesundheit der Alten Welt.
Die 24. Minute nach 5 Uhr, entsprechend der Mitternachtszeit des Kilimandscharo, verstrich.
In Baltimore nichts!
In London, Paris, Rom, Konstantinopel, Berlin – nichts! Keine Spur von einem Stoß!
Mr. John Milne, der gerade in Takoshima in Japan in einem Kohlenbergwerk das Tromometer, Mit dem Namen »Tromometer« bezeichnet man bekanntlich eine Art Pendel, dessen Schwingungen die mikroskopischen Bewegungen der Erdrinde bezeichnen. Dem Beispiele Japans, in Bergwerken Tromometer aufzustellen als Warner vor schlagenden Wettern, sind viele andere Staaten gefolgt. daß dort zur Aufstellung gelangt war, in Bewegung setzte, bemerkte in, jenem Weltteile in der Erdrinde nicht die leiseste abnorme Bewegung.
In Baltimore noch immer nichts. Zudem war der Himmel bewölkt, und als die Nacht kam, ließ sich unmöglich erkennen, ob die scheinbare Bewegung der Sterne eine Neigung zur Veränderung zeigte – was doch für eine Wandlung der Erdachse der Beweis gewesen wäre.
War das eine Nacht, die J. T. Maston in seinem außer Mrs. Scorbitt von niemand gekannten Schlupfwinkel verbrachte! Er raste und tobte, der wutschnaubende Kanonier! auf keinem Fleck fand er Ruhe! Wie gern wäre er um ein paar Tags älter gewesen, um zu sehen, ob sich die Sonnenkurve verändert hätte – als undiskutierbarer Beweis für das Gelingen des Werks! Dieser Wechsel hätte sich nämlich nicht vor dem 23. September früh feststellen lassen, da an diesem Tage das Tagesgestirn sich für alle Erdpunkte ohne Unterschied im Osten erhebt.
Am nächsten Morgen erschien die Sonne wie sonst am Horizont. Die Delegierten Europas waren auf der Terrasse ihres Hotels versammelt, mit Instrumenten von äußerster Schärfe vor sich, die ihnen die genaue Feststellung ermöglichten, ob die Sonne ihre Kurve in der Ebene des Aequators scharf beschriebe.
Wenige Minuten nach ihrem Aufgange neigte sich die Strahlenscheibe schon der südlichen Halbkugel zu.
Also war in ihrem scheinbaren Laufe keine Veränderung eingetreten.
Major Donellan und seine Kollegen begrüßten die Himmelsfackel mit enthusiastischen Hurras und bereiteten ihr, wie es in der Theatersprache heißt, einen »Auftritt«. Der Himmel war klar, der Horizont von den Dünsten der Nacht völlig frei, niemals war die große Aktrice auf schönerer Bühne in solchem Glanze vor solch einem begeisterten Publikum aufgetreten!
»Aufs Haar genau auf dem ihr durch die Gesetze der Astronomie angewiesenen Fleck!« rief Erich Baldenak.
»Unserer uralten Astronomie,« bemerkte Boris Karlof, »die diese Narren sich unterfingen umzustürzen!«
»Die Kosten werden ja doch sie berappen und die Blamage noch obendrein einstecken!« setzte Jakob Jansen hinzu, durch dessen Mund All-Holland zu sprechen schien.
»Und das arktische Dominium wird ewig unter den Eismassen bleiben, die es bedecken!« warf Professor Harald dazwischen.
»Hurra Sonne!« schrie Major Donellan. »Sowie sie ist, so ist sie der Welt recht!«
»Hurra! hurra!« wiederholten einstimmig die Repräsentanten Alt-Europas; »alles in Ordnung, alles nach wie vor in Ordnung!«
Nun machte sich Dean Toodrink, der bislang noch nichts gesagt hatte, mit der ziemlich kritischen Bemerkung bemerkbar:
»Vielleicht haben sie aber gar nicht geschossen?«
»Gar nicht geschossen?« rief der Major. »Gebe im Gegenteil der Himmel, daß sie geschossen haben, und lieber zweimal statt einmal!«
Genau das gleiche sprachen J. T. Maston und Mrs. Evangelina Scorbitt. Die gleiche Frage stellten sich die Gelehrten und Nichtgelehrten, die diesmal durch die Logik der Sachlage unter einem Hute steckten.
Das nämliche wiederholte endlich bei sich Alcide Pierdeux, doch mit dem Beisatze:
»Ob sie geschossen haben oder nicht, ist schnuppe! Die Erde tanzt auf ihrer alten Achse nach wie vor Schottisch und schaukelt sich wie sonst!«
Im Grunde genommen wußte eben niemand, was am Kilimandscharo passiert war. Aber noch ehe der Tag zur Neige ging, bekam die Frage, welche die ganze Menschheit sich stellte, ihre Antwort, und zwar durch eine Depesche aus Sansibar, gerichtet an die Bundesregierung durch Richard W. Trust, Konsul der Vereinigten Staaten:
Sansibar, 23. Sept., 7 Uhr 27 Mn. früh.
An Staatsminister John S. Wright.
Schuß gestern präzis Mitternacht abgegeben durch in Südhang des Kilimandscharo gebohrte Maschine. Projektildurchgang erfolgte mit entsetzlichem Pfeifen. Furchtbarer Knall. Provinz durch Windhose verwüstet. Meer aufgewühlt bis Mosambik-Kanal. Zahlreiche Schiffe entmastet und an Küste geschleudert. Flecken und Dörfer verwüstet. Sonst alles in Ordnung.
Richard W. Trust.
Jawohl! sonst war alles in Ordnung, da sich im Zustande der Dinge nichts verändert hatte bis auf die im Wamasai angerichteten Verwüstungen, das durch diese künstliche Windhose teilweis richtig rasiert worden war, und bis auf die durch die Verrückung der Luftschichten hervorgerufenen Schiffbrüche. War aber in dieser Hinsicht nicht alles ganz ebenso verlaufen, als die berühmte »Columbiade« ihr Projektil zum Monde hinaufgeschossen hatte? war nicht die dem Erdboden Floridas mitgeteilte Erschütterung in einem Radius von hundert Meilen fühlbar gewesen? Jawohl, ganz gewiß! und diesmal hatte doch der Effekt um das Hundertfältige stärker sein müssen.
Wie dem auch sei, so gab doch das Telegramm den Interessenten der Alten und Neuen Welt die folgenden beiden Dinge bekannt:
1) daß sich die ungeheure Maschine direkt in den Eingeweiden des Kilimandscharo hatte bauen lassen;
2) daß der Schuß zur besagten Stunde abgefeuert worden war.
Und was folgte nun? Zweierlei! nämlich:
Ein Riesengeschrei: die ganze Welt machte sich Luft von dem Alp, der sie bedrückt hatte – dann ein Riesengelächter: die ganze Welt machte sich lustig über die »G. m. b. H.« und ihr Experiment! Ja, die Geschichte war kläglich ins Wasser gefallen! J. T. Mastons Formeln gehörten in den Papierkorb! Die »North Polar Practical Association« brauchte bloß noch Pleite anzumelden!
Armer J. T. Maston! sollte er sich denn wirklich in seinen Exempeln verrechnet haben? Geknickt wie eine Linie, wollte er nichts sehen, nichts hören, sondern verlangte bloß, aus seinem Schlupfwinkel zu steigen. Umsonst versuchte Mrs. Evangelina Scorbitt ihn festzuhalten. Nicht um sein Leben mehr fürchtete sie, denn die Gefahr war ja beseitigt, aber um den Spott, der sich an seine Schöße hängen würde!
Und was noch ernstern Belangs war: welchen Empfang würden ihm seine Kollegen im Klub bereiten? würden sie sich nicht an ihren Schriftführer halten um eines Mißerfolgs wegen, der sie mit dem Fluch der Lächerlichkeit belud? war nicht er es gewesen, der die ganze Suppe eingebrockt hatte?
J. T. Maston wollte sich nichts einreden lassen. Tränen widerstand er, Bitten widerstand er, und rannte aus dem Hause, wo er sich versteckt hatte. Er wurde erkannt, und die er bedroht hatte in ihrem Vermögen und Dasein, deren Qualen er durch seinen Eigensinn, »das Maul nicht aufzutun«, verhundertfältigt hatte, die rächten sich jetzt an ihm durch tausenderlei Spott und Hohn.
Man hätte bloß diese amerikanischen Gassenjungen hören müssen, die ihren Pariser Kollegen wahrlich um keine Jota nachstanden:
»Hallo! trapp, trapp! du verrückter Achsen-Verrücker!«
»Hallo! trapp, trapp! du verdrehter Uhren-Verdreher!«
»Hallo! trapp, trapp! du verflixter Trödelflicker!«
Kurz und gut, der Schriftführer des Kanonenklubs wurde dermaßen genarrt und geschurigelt, daß ihm nichts anders übrig als sich wieder in das Palais im New-Park zu begeben, woselbst Mrs. Evangelina Scorbitt all ihren reichen Vorrat von Zärtlichkeiten und Liebkosungen erschöpfte, um ihn zu trösten. Es war umsonst. J. T. Maston verschmähte, gleich der Niobe im Altertum, allen Trost, weil seine Kanone auf das Erd-Sphäroid keine schlimmere Wirkung ausgeübt hatte als eine simple Feuerwerksrakete!
Vierzehn Tage verflossen so, und die Welt, von ihrem Bann befreit, dachte schon lange nicht mehr an die Projekte der »North Polar Practical«! Vierzehn Tage, und noch immer keine Nachricht von Barbicane und Nicholl! waren sie umgekommen bei dem Rückprall der Explosion? gelegentlich der Verwüstungen, die auf der Oberfläche von Wamasai entstanden waren? hatten sie den ungeheuerlichsten Wahnsinn neuerer Zeit mit dem Leben gebüßt?
Nach dem Knall waren sie wohl vom Luftdruck mit Sultan, Hof und Eingeborenenschaft zu einem Riesenhaufen verrührt worden, aber doch heil und gesund wieder auf die Beine gekommen.
»Na? ist's gelungen?« fragte Bali-Bali und rieb sich die Schultern.
»Zweifelt Ihr?«
»Ich, und zweifeln? – Aber wann wißt Ihr hierüber Genaues?«
»In ein paar Tagen!« versetzte Barbicane.
Ahnte ihm der Mißerfolg? Vielleicht! aber niemals hätte er das zugeben mögen angesichts vom Sultan von Wamasai, und 48 Stunden später verabschiedeten sich die beiden Kollegen mit ihren zehn Werkmeistern von Bali-Bali, nachdem sie ihm noch allen verursachten Schaden mit einem feinen Sümmchen bezahlt hatten, das für den Sultan um so höher rechnete, als der ganze Betrag in seine eigenen Kassen floß und für keinen seiner Untertanen auch nur ein roter Heller davon abfiel. Von Sansibar schifften sie sich unter falschen Namen nach Sues ein, und von Sues dampften sie nach Marseille und auf der P.-L.-M., Paris-Lyon-Mittelmeer-Bahn. A. d. Uebers. ohne Entgleisung und Zusammenstoß nach Paris, von Paris mit der Westbahn nach Havre und endlich mit dem Ozeandampfer »Burgund« nach Amerika.
In 22 Tagen waren sie von Wamasai nach Newyork im Staate Newyork gelangt.
Am 15. Oktober – nachmittags 3 Uhr – klopften sie am Tor des New-Park-Hotels an, und im andern Moment standen sie Mrs. Evangelina Scorbitt gegenüber und lagen J. T. Maston im Arm und im Armhaken.