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Dreizehntes Kapitel.
An dessen Schluß J. T. Maston eine echt epische Antwort gibt.

Inzwischen schritt die Zeit, und mit ihr höchst wahrscheinlich das Werk vor, an welchem Barbicane und Nicholl unter solch erstaunlichen Bedingungen arbeiteten – ohne daß jemand zu sagen wußte, wo? – Woran man sich in dieser Hinsicht allein klammern konnte, war der nachträglich gefundene Vermerk in dem beschlagnahmten Notizbuch J. T. Mastons, daß der Schuß nahe dem Aequator losgehen müsse. Dort finden sich doch aber bewohnbare, wenn auch keine von zivilisierten Menschen bewohnten Regionen. Hatten sich die beiden Mitglieder des Kanonenklubs, um ihr Experiment auszuführen, in der Nähe der Aequinoktialpunkte niedergelassen, so konnte das weder geschehen sein in Amerika, also in Peru oder Brasilien, noch auf den Sunda-Inseln Sumatra und Borneo, noch auf den Inseln in der Meerenge von Celebes, noch in Neu-Guinea, ohne daß die betreffende Bevölkerung davon etwas gemerkt hätte. Höchst wahrscheinlich hätte sich das Geheimnis auch nicht im Mittelpunkte Afrikas, in dem vom Aequator durchschnittenen Gebiete der großen Seen hüten lassen. Demnach verblieben bloß die Malediven im Indischen Ozean, die Admiralitätsinseln, Gilberts-, Weihnachts-, Galapagos-Insel im Stillen, San Pedro im Atlantischen Ozean. Aber die an diesen verschiedenen Oertlichkeiten vorgenommenen Erkundigungen hatten kein Resultat ergeben. Man sah sich also auf leere Vermutungen beschränkt, die zur Stillung von Weltschmerzen sehr wenig geeignet sind.

Und wie dachte über all diese Dinge Alcide Pierdeux? »Schwefelsaurer« als sonst, fand er des Sinnens und Grübelns über die verschiedenen Konsequenzen dieses Problems kein Ende. Erstaunlich genug war es ja, daß Kapitän Nicholl einen Explosivstoff von solcher Gewalt, wie dieses Meli-Melonit, erfunden hatte, tatsächlich ein erstaunlicher Effekt oder, wie unser Alcide sich ausdrückte, »faktisch ein Knall-Effekt« – aber schließlich war so etwas doch nicht unmöglich. Weiß doch niemand, was für Fortschritte im Schoße der Zukunft ruhen, ob man nicht schließlich noch ganze Armeen auf jede beliebige Distanz in Grund und Boden pfeffern wird. Jedenfalls war die Verrückung der Erdachse durch Rückprall eines Feuerschlundes für den französischen Ingenieur keine Sache, sich besonders aufzuregen. Darum hielt er es für gescheiter, sich mit dem Urheber der Affäre zu befassen.

»Es liegt doch auf der Hand, Präsident Barbicane,« sprach er bei sich, »daß die Erde täglich den Gegenprall all der Stöße aufnimmt, die an ihrer Oberfläche vor sich gehen. Es ist doch sicher, daß, wenn Hunderttausende von Menschen sich den Spaß machen, Tausende von Geschossen im Gewicht einiger Kilogramm oder auch Millionen von einzelnen nur wenige Gramm wiegenden Geschossen abzufeuern, selbst wenn ich einfach gehe oder springe oder die Arme recke oder wenn sich ein Blutkügelchen durch meine Adern wälzt, daß, sage ich, unser Erdsphäroid davon beeinflußt werden muß. Nun, deine große Maschine ist danach beschaffen, die veranlagte Erschütterung zu bewirken. Aber, potz Blitz und Integrale! wird diese Erschütterung ausreichen, um die Erde ins Schaukeln zu bringen? Ha, daß die Gleichungen dieses Biestes von J. T. Maston dies peremptorisch » demonstrandent«, muß wohl anerkannt werden!«

Alcide Pierdeux konnte nämlich nicht umhin, die genialen Exempel des Schriftführers des Kanonenklubs zu bewundern, in die allen denjenigen »mathematischen Weisen« von der Untersuchungskommission Einblick gestattet worden war, die das Verständnis hierfür erwiesen – und Alcide Pierdeux, der Algebra las wie eine Zeitung, fand in dieser Lektüre J. T. Maston'scher Algebra einen unsagbaren Reiz.

Wenn aber das allgemeine »Kuddelmuddel« kam, welche Häufung von Katastrophen dann auf der Oberfläche des Sphäroids! wieviel Kataklysmen, umgekrempelte Städte, verrückte Berge, wieviel Millionen vernichteter Menschen, wieviel aus ihrem Bett gerissene Flüssigkeitsmassen, wieviel entsetzliche Verheerungen!

Ein fortgesetztes Erdbeben von unvergleichlicher Gewalt!

»Wenn wenigstens noch,« sinnierte Alcide Pierdeux weiter, »das vermaledeite Pulver des Kapitäns Nicholl nicht gar so stark wäre, dann ließe sich hoffen, daß das Projektil entweder vor dem oder auch hinter dem Zielpunkte, nachdem es die Bahn um die Erde gemacht, mit der Erde neuerdings zusammenträfe. Dann würde doch nach verhältnismäßig kurzer Zeit alles wieder am alten Flecke sein, wenn sich schließlich auch diese oder jene große Katastrophe nicht hätte vermeiden lassen. Aber, prosit Mahlzeit! mit ihrem Meli-Melonit wird die Kugel eine halbarmige Hyperbel beschreiben und sich's nun und nimmer einfallen lassen, Mutter Erde wegen des bißchen Störung von Achsenwechsel hübsch um Pardon zu bitten.«

Bei diesen Worten fuchtelte Alcide Pierdeux wie ein Küstentelegraph, auf die Gefahr hin, alles im Umkreise von zwei Meter kurz und klein zu schlagen. Dann hub er wieder an:

»Wenn wenigstens der Schußort bekannt wäre, so hätte sich doch schnell noch feststellen lassen, auf welchen Hauptkreisen der Erde die Niveau-Veränderung gleich Null sein würde, desgleichen jene anderen Punkte, wo sie ihr Maximum erreichen würde. Dann ließen sich doch die Leute noch warnen, sich beizeiten auszuquartieren, ehe ihnen ihre Häuser oder Städte auf dem Schädel Polka tanzten! Aber wie soll man das herauskriegen?«

Nach diesem Monolog führte er die Hand im Bogen über die spärlichen Haare, die seinen Schädel noch schmückten. Dann fuhr er fort:

»Hm, hm, ich denke schier, die Folgen der Erschütterung möchten verwickelter werden, als man sich ausmalt. Warum sollten die feuerspeienden Berge die Gelegenheit nicht wahrnehmen, sich den durchgeschüttelten Magen in der tollsten Weise zu reinigen? warum sollte sich nicht ein Teil der aus dem Bett gehobenen Weltmeere in ihre Krater stürzen? Hol mich der Teufel! das kann ja Explosionen setzen, daß unsere ganze tellurische Eierkiste zum Teufel geht. Ha, dieser Satanskerl von Maston, der sich versteift, den großen Schweiger zu machen! Seht doch bloß, wie er mit unserem Erdball jongliert und auf dem Erdenbillard die feinsten Effektstöße macht!«

Solche Schlüsse zog Alcide Pierdeux. Bald wurden seine grausigen Hypothesen von den Zeitungen beider Weltteile aufgenommen und erörtert. Was bedeuteten neben dem großen Kladderadatsch, der auf dies Werk von Barbicane & Co. folgen mußte, noch Windhosen, Springfluten, Ueberschwemmungen? Das waren doch alles Katastrophen partieller Natur! Dabei verschwanden ein paar tausend Erdenkinder, ohne daß sich die zahllosen Ueberlebenden deshalb in ihrer Ruhe stören ließen. Kein Wunder, daß, je näher das verhängnisvolle Datum rückte, Grausen und Entsetzen die tapfersten Herzen befiel. Die Wahrsager hatten brillanten Anlaß und leichtes Spiel, den Weltuntergang zu verkünden. Man hätte meinen können, die furchtbare Episode des tausendsten Erdentags wieder zu erleben, an welchem alles, was auf Erden lebte, der Einbildung lebte, »hoppdipoppdi« ins Reich der Toten spediert zu werden.

Besinne man sich nur, was da alles vorging! Nach einer Stelle in der Offenbarung Johannis gerieten alle Völker auf den Glauben, der Tag des jüngsten Gerichts sei da; sie erwarteten die in der Heiligen Schrift verkündeten Zeichen göttlichen Zorns. Der Sohn der Verderbnis, der Antichrist, sollte erscheinen! Da ging alles drunter und drüber, die Menschen warfen alles von sich, erstiegen, um der nahenden Sintflut zu entfliegen, die höchsten Berge und kletterten, um noch sicherer zu sein, auf die höchsten Gipfel. Kein Eigentum hatte Wert; Haus und Hof und Wald und Schloß wurden, um sich ein gutes Plätzchen im Himmel zu sichern, den Klöstern geschenkt, Weiber töteten die Frucht im Leibe, und alles, alles harrte, von Angst und Entsetzen geschlagen, der furchtbaren Stunde, da die sieben Posaunen der sieben Engel des Gerichts vom Himmel niederdröhnen würden!

Der erste Tag des Jahres 1000 verlief bekanntlich ohne jede Störung der Naturgesetze. Diesmal nun handelte es sich nicht um einen auf Textworte von echt biblischem Dunkel fußenden »Weltkrach«, sondern um einen Wechsel im Gleichgewicht der Erde, der auf unbestrittenen und unbestreitbaren Exempeln beruhte, und um ein Experiment, das die Fortschritte in der ballistischen und mechanischen Wissenschaft durchaus plausibel erscheinen ließen. Diesmal würde nicht das Meer seine Toten wieder herausgeben, sondern die Lebenden würde es millionenweis in den Tiefen seiner neuen Schlünde begraben.

Hieraus folgte, daß trotz aller Rücksicht auf den im Menschengeist durch den Einfluß moderner Ideen bewirkten Wandel Schrecken und Entsetzen einen so hohen Grad erreichten, daß sich ganz ähnliche Verrücktheiten, wie sie das Jahr 1000 gezeitigt hatte, gewärtigen ließen. Daß unter solchen Umständen J. T. Mastons Situation von Tag zu Tag »brenzlicher« wurde, läßt sich begreifen. Mrs. Evangelina Scorbitt zitterte um ihn – sie fürchtete nichts weniger, als daß er das Opfer der universellen Rache werden möchte. Vielleicht beschlich sie hin und wieder der Gedanke, es sei am Ende doch gescheiter, jenes Wort zu sprechen, das er mit solch beispiellosem Eigensinn in sich verschlossen hielt. Aber sie getraute es sich nicht, und tat wohl daran. Sie hätte sich doch nur einem energischen » Quod non« ausgesetzt.

Wie man sich vorstellen kann, wurde es nachgerade selbst in einer Stadt wie Baltimore, die jetzt »des Entsetzens voll« war, schwierig, die durch Zeitungs- und Drahtberichte »aus allen 4 Erdenzirkeln« überreizte Bevölkerung im Zaum zu halten. Hätte J. T. Maston im Zeitalter Domitians, dem dieser in Gänsefüßchen gesetzte Ausdruck von unsern Geschichtsforschern in den Mund gelegt wird, gelebt, so würde sein Schicksal bald entschieden worden sein. Dieser greuliche Christenverfolger hätte ihn den wilden Tieren überantwortet. So wie die Dinge sich aber in der Gegenwart verhielten, blieb J. T. Maston unerschütterlich und weigerte sich nach wie vor, über die Lage des Ortes X das geringste zu verlautbaren, weil er sich sehr wohl sagen mußte, daß Präsident Barbicane und Kapitän Nicholl sofort in die Unmöglichkeit, ihr Werk weiter zu führen, versetzt werden würden, sofern er das Geheimnis lüftete.

Alles in allem genommen, war es doch eine schöne Sache um solchen Kampf eines Einzelnen wider die ganze Welt In den Augen von Mrs. Evangelina Scorbitt, nicht minder in der Meinung seiner Kollegen im Kanonenklub wuchs Maston hierdurch zum Helden. Aber die Geschichte wurde auch immer gefährlicher. Bei Tag und Nacht sammelte sich Pöbel um das Baltimorer Stockhaus. Das Geschrei und der Lärm nahmen kein Ende. Die Rasenden wollten J. T. Maston lynchen. Die Polizei sah den Augenblick nahen, da sie die Macht nicht mehr besäße, ihn zu schützen.

Um den Volksmassen in Amerika, wie auch im Auslande Genugtuung zu geben, entschloß sich endlich die Bundesregierung zu Washington, J. T. Maston in Anklagezustand zu versetzen und vor das Schwurgericht zu bringen. Bei Geschworenen, denen ob all dieser Dinge voll Graus und Entsetzen das Herz schon längst in die Unaussprechlichen gerutscht war, würde, wie Alcide Pierdeux meinte, der sich einer gewissen Sympathie für dieses zähe Rechengenie nicht entschlagen konnte, »seine Affäre wohl nicht lange zweifelhaft bleiben«.

Infolge obigen Beschlusses verfügte sich am 5. September früh der Vorsitzende der Untersuchungskommission persönlich in die Gefangenenzelle.

Mrs. Evangelina Scorbitt bekam auf ihr inständiges Bittgesuch hin die Ermächtigung, ihn zu begleiten. Vielleicht gewänne schließlich doch noch der Einfluß dieser liebenswürdigen Dame Macht über ihn? Versäumt durfte wenigstens nichts werden. Wenn das Rätsel schließlich doch noch gelöst wurde, wäre jedes Mittel recht gewesen, und wenn es nicht zum Ziele führte, so müßte man eben auf andere Weise sehen, hierzu zu gelangen.

Gegen 11 Uhr sah sich J. T. Maston dem Vorsitzenden der Untersuchungskommission Mr. John H. Prestice und Mrs. Evangelina Scorbitt gegenüber.

Die Unterhaltung vollzog sich in der bekannten Form. Rede und Gegenrede wurden gewechselt; auf der einen Seite war der Ton sehr barsch und schroff, auf der anderen höchst konziliant.

Wer hätte wohl geglaubt, daß sich Umstände einfinden könnten, unter denen die Ruhe bei J. T. Maston läge?

»Zum letzten Male richte ich die Frage an Sie: wollen Sie Rede und Antwort stehen?« fragte John H. Prestice.

»Worauf?« fragte seinerseits mit spöttischem Tone der Schriftführer des Kanonenklubs.

»Auf die Frage: wohin hat sich Ihr Kollege Barbicane begeben?«

»Darauf habe ich schon hundertmal Antwort gegeben.«

»Wiederholen Sie Ihre Antwort zum hundertundeinten Male!«

»Er wird dort sein, wo der Schuß fallen wird.«

»Und wo wird der Schuß fallen?«

»Dort, wo mein Kollege Barbicane sich befindet.«

»Nehmen Sie sich in acht, J. T. Maston.«

»Wovor?«

»Vor den Folgen Ihrer Weigerung Antwort zu geben, die es erheischen werden, daß –«

»... daß Sie nicht erfahren dürften, was Sie nicht erfahren sollen!«

»... was wir aber erfahren müssen, weil wir ein Recht herzu haben –«

»Das ist meine Ansicht nicht!«

»Wir werden Sie vor das Schwurgericht laden!«

»Immerzu!«

»Die Geschworenen werden den Stab über Sie brechen!«

»Das ist ihre Sache.«

»Das Urteil wird auf der Stelle vollstreckt werden!«

»Ganz in Ordnung!«

»Lieber Maston,« wagte hier Mrs. Scorbitt zu intervenieren, der das Herz angesichts solcher Drohungen zentnerschwer wurde.

»O! auch Sie, Mrs. Evangelina!« parodierte J. T. Maston.

Mrs. Evangelina neigte das Haupt und verstummte.

»Wollen Sie wissen, wie das Urteil lauten wird?« nahm Präsident John H. Prestice wieder das Wort.

»Bitte, wenn's beliebt!«

»Auf Tod – wie es Ihnen gebührt –«

»Wirklich?«

»Und gehenkt werden Sie, Herr, so sicher, wie zwei mal zwei vier ist!«

»Dann habe ich ja noch Chancen, Herr,« erwiderte phlegmatisch J. T. Maston. »Wären Sie ein bißchen Mathematikus, so würden Sie nicht sagen, »so sicher wie zwei mal zwei vier ist«! Wer beweist Ihnen denn, daß nicht alle Mathematiker bis zum heutigen Tage verrückt gewesen sind, indem sie behaupteten, die Summe zweier Zahlen sei gleich der Summe ihrer Teile, nämlich, daß zwei und zwei genau vier machen?«

»Herr!« schrie der Präsident, völlig verdutzt.

»Ja,« fuhr J. T. Maston fort, »würden Sie, sagen: so sicher wie eins und eins zwei machen, das ließe ich mir gefallen; denn das gilt als absolut erwiesen, insofern als es kein Theorem ist, sondern eine Definition!«

Nach dieser Lektion in Arithmetik zog sich der Vorsitzende der Kommission zurück, während Mrs. Evangelina Scorbitt nicht Flammen genug im Blicke hatte, um den außerordentlichen Kalkulator ihrer Träume zu bewundern.


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