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Ungefähr um die vierte Stunde der folgenden Nacht stand Ben Hur mit Esther auf der Terrasse des großen Warenlagers. Auf dem Landungsplatz zu ihren Füßen gab es ein eiliges Hin- und Herrennen, ein Schieben von Ballen und Kisten, ein Lärmen und Rufen von Männern, die in ihren mannigfaltigen Stellungen des Sichbückens, Hebens, Ziehens unter dem Schein der ihnen leuchtenden knisternden Fackeln wie die geschäftigen Geister der phantastischen orientalischen Märchen anzusehen waren. Eine Galeere wurde zur schnellen Abfahrt geladen. Simonides befand sich noch immer in seinem Geschäftszimmer, wo er im letzten Augenblick dem Befehlshaber des Schiffes Weisungen gab, ohne Aufenthalt nach Ostia, dem Hafen Roms, zu fahren, dort einen Mitreisenden zu landen und dann in langsamerer Fahrt nach Valencia an der Küste Spaniens weiterzusegeln.
Der Mitreisende war der Bevollmächtigte, der das vom Duumvir Arrius stammende Eigentum Ben Hurs zu veräußern suchen sollte, und der junge Jude wußte, daß er jetzt alles zerschnitt, was ihn noch an das Römertum fesselte. Leicht wurde ihm dieser Schritt nicht. Er war jung, schön, reich und gab ein Leben des Genusses hin, um Ächtung und Gefahr zu gewinnen. Dazu kam, daß dieser Kampf gegen Rom so hoffnungslos erschien, daß das Kommen des Messias in solches Dunkel gehüllt war.
»Warst du schon in Rom?« fragte er plötzlich seine Gefährtin.
»Nein,« entgegnete Esther.
»Möchtest du einmal hingehn?«
»Ich glaube nicht.«
»Warum?«
»Ich fürchte Rom,« antwortete sie mit merklichem Beben der Stimme.
Er blickte auf sie oder vielmehr hinab auf sie, denn an seiner Seite erschien sie kaum größer als ein Kind. Im trüben Licht konnte er ihre Züge nicht deutlich sehen, selbst ihre Gestalt war schattenhaft. Dennoch erinnerte sie ihn wieder an Tirzah und eine plötzliche Zärtlichkeit überkam ihn – geradeso hatte seine verlorne Schwester neben ihm auf dem Dach des Hauses gestanden an jenem Unglücksmorgen, der den Unfall des Prokurators brachte. Arme Tirzah, wo war sie jetzt? Die Gefühle, die durch Esther in ihm geweckt wurden, kamen ihr wieder zugute. War sie auch nicht seine Schwester, so konnte er sie doch niemals als seine Dienerin betrachten. Und daß sie in der Tat seine Dienerin war, dieser Umstand würde ihn stets nur um so rücksichtsvoller und freundlicher gegen sie stimmen.
»Ich kann mir Rom nicht denken,« fuhr sie wieder mit natürlicher Stimme in ihrer ruhigen, weiblichen Art fort, »ich kann mir Rom nicht denken als eine Stadt mit Palästen und Tempeln und vielen Einwohnern. Es dünkt mich ein Ungeheuer, das von einem schönen Lande Besitz genommen hat und darin auf der Lauer liegt, die Menschen in Tod und Verderben zu locken, ein Ungeheuer, dem zu widerstehn unmöglich ist, ein gieriges Raubtier, das sich mit Blut sättigt. Warum –«
Sie stockte und blickte zu Boden.
»Sprich weiter!« sprach Ben Hur aufmunternd.
Sie näherte sich ihm einen Schritt, blickte wieder auf und sprach: »Warum mußt du Rom dir zum Feinde machen? Warum nicht lieber mit ihm Frieden schließen und so zur Ruhe kommen? Du hast viele Übel erfahren und sie ertragen, du bist den Schlingen, die deine Feinde dir legten, heil entgangen. Schmerz und Kummer haben deine Jugend verzehrt. Ist es recht, ihnen auch den Rest deiner Tags zu opfern?«
Das mädchenhafte Antlitz unter feinen Augen schien ihm näher zu kommen und bleicher zu werden, während sie ihre Gründe vorbrachte. Er beugte sich zu ihr hinab und fragte sanft:
»Was würdest du mir raten zu tun, Esther?«
Sie zögerte einen Augenblick und fragte dann ihrerseits: »Ist dein Eigentum bei Rom ein Wohnsitz?«
»Ja.«
»Und schön?«
»Er ist reizvoll: ein Palast inmitten von Gärten und mit Muscheln bestreuten Fußwegen, da und dort Springbrunnen und in schattigen Winkeln Statuen, das Ganze umsäumt mit weinbepflanzten Hügeln von solcher Höhe, daß man von ihnen sogar Neapel und den Vesuv erblicken kann, davor die weite Meeresfläche, deren purpurne Bläue durch die ruhelosen Segel wie mit weißen Punkten übersät erscheint. Der Kaiser hat in der Rahe einen Landsitz, aber in Rom sagt man, die alte Villa des Arrius sei die schönste.«
Sie ließ ihren Blick über den Fluß schweifen. »Warum fragtest du?« sprach er.
»Mein guter Gebieter –«
»Nein, nein, Esther, nicht so! Nenne mich Freund – Bruder, wenn du willst; ich bin nicht dein Gebieter und will es nicht sein. Nenne mich Bruder!«
Er sah nicht das freudige Erröten ihres Antlitzes noch den strahlenden Glanz ihrer Augen, deren Blick sich jenseits des Flusses in der Ferne verlor.
»Ich kann«, sagte sie, »ein Gemüt nicht begreifen, das es vorzieht, ein Leben zu, führen wie jenes, dem du dich hingeben willst, ein Leben der – der –«
»Der Gewalttätigkeit und des Blutvergießens,« ergänzte er.
»Ja,« setzte sie hinzu, »ein Gemüt, das ein solches Leben dem in der schönen Villa vorziehen mag.«
»Esther, du irrst. Es gibt keine andere Wahl. Ach, so gnädig ist der Römer nicht! Ich gehe, weil ich muß. Hier bleiben heißt hier sterben. Und gehe ich dorthin, so wird das Ende dasselbe sein: ein vergifteter Becher, der Dolch eines Meuchelmörders oder ein durch Meineid erschlichener Richterspruch. Messala und der Prokurator Gratus sind durch Raub der Güter meines Vaters reich geworden, und es ist für sie von größerer Wichtigkeit, ihren Gewinn jetzt festzuhalten, als es das erste Mal war, ihn sich anzueignen. An eine friedliche Beilegung der Angelegenheit kann nicht gedacht werden wegen des Bekenntnisses, das sie in sich schließen würde. Und dann – dann – Oh, Esther, könnte ich auch ihre Freundschaft erkaufen, ich weiß nicht, ob ich es täte. Es kann für mich keinen Frieden geben, solange die Meinigen verloren sind; denn ich muß wachsam und tätig sein, sie zu finden. Wenn ich sie finde und sie Unrecht gelitten haben, soll der Schuldige nicht dafür büßen? Falls sie eines gewaltsamen Todes gestorben sind, sollen die Mörder entkommen?«
»Steht es denn so schlimm?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte vor Mitgefühl. »Läßt sich nichts, gar nichts tun?« Ben Hur ergriff ihre Hand.
»Nimmst du solchen Anteil an mir?«
»Ja,« antwortete sie einfach.
Ihre Hand war warm und verlor sich ganz in der seinigen. Er fühlte, sie zitterte. Dann kam ihm die Ägypterin in den Sinn, wie sie der kleinen Esther so entgegengesetzt war, so schlank, so kühn, so einschmeichelnd im Benehmen, so witzig und wortgewandt, so wunderbar schön, so bezaubernder Art. Er führte die Hand an seine Lippen und ließ sie frei.
»Du sollst mir eine andere Tirzah sein, Esther!«
»Wer ist Tirzah?«
»Die kleine Schwester, die der Römer mir geraubt hat, und die ich finden muß, ehe ich zur Ruhe kommen oder glücklich werden kann.«
In diesem Augenblick strahlte ein Licht über die Terrasse und fiel auf sie. Um sich blickend, sahen sie einen Diener Simonides in seinem Sessel zur Tür herausrollen. Sie traten zum Handelsherrn, und in der folgenden Unterredung bildete dieser die Hauptperson.
Bald darauf wurden die Taue der Galeere gelöst, diese drehte sich herum und stieß unter dem Schein der Fackeln und unter den lauten Rufen fröhlicher Schiffsleute ins Meer. Ben Hur blieb an die Sache des Königs gebunden, der da kommen sollte.