Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Vierunddreißigstes Kapitel.

Am nächsten Morgen um die zweite Stunde ritten zwei Männer mit voller Schnelligkeit zu den Zelten Ben Hurs, stiegen ab und verlangten ihn zu sprechen.

»Friede sei mit euch, Brüder!« sagte er, denn sie waren aus der Zahl seiner Galiläer, zwei Offiziere, die sein Vertrauen genossen. »Wollt ihr euch nicht setzen?«

»Nein,« erwiderte der ältere kurz, »sitzen und ruhen heißt den Nazarener sterben lassen. Steh auf, Sohn Judas, und geh mit uns. Das Urteil ist gesprochen. Das Kreuz ist bereit.« Ben Hur starrte sie an. »Das Kreuz!« war alles, was er im Augenblick hervorbringen konnte.

»Sie nahmen ihn letzte Nacht gefangen und verhörten ihn,« fuhr der Mann fort. »Bei Tagesanbruch führten sie ihn vor Pilatus. Zweimal hat der Römer seine Unschuld ausgesprochen, zweimal hat er sich geweigert, ihn dem Tode zu überliefern. Endlich wusch er seine Hände und sprach: ›Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten, sehet ihr zu!‹ Und sie antworteten: ›Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹« »Heiliger Vater Abraham!« rief Ben Hur; »ein Römer milder gegen einen Israeliten als seine eigenen Stammesgenossen! Und wenn – ah, wenn er in Wahrheit der Sohn Gottes sein sollte, was kann jemals sein Blut von ihren Kindern abwaschen? Es darf nicht sein – es ist Zeit zu kämpfen!«

Entschlossenheit leuchtete aus seinen Augen und er klatschte in die Hände. »Die Pferde, schnell!« sagte er zu dem Araber, der auf das Zeichen erschienen war. »Wir wollen die Legionen sammeln.«

»Ach!« antwortete der Mann, seine Hände emporwerfend, »ich und mein Freund hier sind die einzigen, die treu geblieben sind. Die anderen haben sich den Priestern angeschlossen.« »Zu welchem Zwecke?« fragte Ben Hur, die Zügel anziehend. »Um ihn zu töten.« Ben Hur blickte langsam von einem zum andern. Wieder klang in seinem Ohre die Frage der letzten Nacht: Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? Er war also freiwillig seinem Tode entgegengegangen, und was konnte da ein anderer tun?

Die drei Freunde kamen jetzt durch aufgeregte Volksmassen, die ebenso wie sie nach Süden zogen. Die ganze Gegend im Norden der Stadt schien in Bewegung. Da sie hörten, daß sie dem Zuge mit dem Verurteilten irgendwo in der Nähe der drei weißen Türme des Herodes begegnen könnten, ritten sie, um Akra im Südosten herumbiegend, dorthin. In dem Tale unter dem Teiche des Ezechias war es unmöglich, sich durch die Menge einen Weg zu bahnen, sie waren daher gezwungen, abzusteigen und hinter der Ecke eines Hauses Zuflucht zu suchen und zu warten.

Eine halbe Stunde, eine Stunde lang wogte der Menschenstrom ununterbrochen und mit unverminderter Stärke an Ben Hur und seinen Begleitern vorüber. Juden und Nichtjuden, sie alle schienen begierig zu sein, das Schauspiel der Kreuzigung zu genießen.

Endlich hörte Ben Hur in der Richtung der großen Türme, anfangs schwach und in der Ferne, das Geschrei vieler Menschen.

»Horch, sie kommen!« sagte einer seiner Freunde. Das Geschrei kam jeden Augenblick näher. Die Luft war bereits davon erfüllt und erzitterte, als Ben Hur die Diener des Simonides erblickte, die ihren Herrn in seinem Sessel trugen. Esther schritt an seiner Seite und eine gedeckte Sänfte kam hinter ihnen.

»Friede sei mit dir, Simonides, und mit dir, Esther!« sprach Ben Hur, zu ihnen tretend. »Wenn ihr auf dem Wege nach Golgatha seid, so wartet, bis der Zug vorüber ist. Ich gehe dann mit euch. Hier beim Hause findet ihr genug Raum, um auszuweichen.«

Des Handelsherrn großer Kopf ruhte schwer auf seiner Brust. Wie aus tiefem Sinnen erwachend, antwortete er: »Sprich mit Balthasar, ich richte mich nach seinem Wunsche. Er ist in der Sänfte.«

Ben Hur eilte hin und zog den Vorhang zurück. Der Ägypter lag regungslos, sein blasses Gesicht war eingefallen wie das eines Toten. Ben Hur bat ihn um seine Entscheidung.

»Können wir ihn sehen?«fragte er schwach.

»Den Nazarener? Ja; er muß wenige Schritte von uns vorbeikommen.«

»Gütiger Gott!« rief der Greis mit Inbrunst. »Noch einmal, noch einmal! Oh, es ist ein schrecklicher Tag für die Welt!«

Nun wartete die ganze Gesellschaft im Schutze des Hauses. Sie sprachen nur wenig, da sie vielleicht sich fürchteten, einander ihre Gedanken zu offenbaren. Balthasar stieg mühsam von der Sänfte und stand, von einem Diener gestützt, da, Esther und Ben Hur blieben bei Simonides.

Inzwischen strömte die Menschenmenge, womöglich noch stärker als zuvor, unaufhörlich die Straße entlang. Das Geschrei kam näher, herzzerreißend, durchdringend scharf in der Höhe, wie heiser am Boden. Endlich war der Zug mit dem Verurteilten da. »Sieh,« sprach Ben Hur bitter, »was jetzt kommt, ist Jerusalem!«

Die Spitze des Zuges nahm ein Haufe Knaben ein, die lärmten und schrien: »Der König der Juden! Platz für den König der Juden!«

Simonides betrachtete sie, wie sie, einem Mückenschwarm vergleichbar, vorbeiwirbelten und tanzten, und sagte ernst.

»Wenn diese einmal ihr Erbe antreten, Sohn Hurs, dann wehe der Stadt Salomos!«

Ein Trupp vollständig bewaffneter Legionssoldaten folgte, in starrer Gleichgültigkeit marschierend und vom Widerschein der glänzenden Rüstung bestrahlt.

Dann kam der Nazarener!

Er schien dem Tode nahe. Fast nach jedem zweiten Schritte»« wankte er, als werde er niedersinken. Ein schmutzbeflecktes, arg zerrissenes Kleid hing über einem saumlosen Untergewand von seinen Schultern herab. Seine nackten Füße ließen auf den Steinen blutige Spuren zurück. Eine hölzerne Tafel mit einer Inschrift war ihm um den Hals gehängt. Eine Dornenkrone hatte man tief in sein Haupt gepreßt, so daß aus den dadurch verursachten grausamen Wunden Ströme jetzt getrockneten und schwärzlichen Blutes ihm über das Antlitz und den Hals geflossen waren. Das lange, in den Dornen verwickelte Haar war dicht vom geronnenen Blute bedeckt. Die Haut war, soweit man sie sehen konnte, geisterhaft weiß. Die Hände waren ihm vor der Brust gebunden. Irgendwo in der Stadt war er unter der Last des Kreuzes, das er als Verurteilter nach alter Sitte selbst auf die Richtstätte tragen mußte, erschöpft zusammengesunken. Jetzt trug es an seiner Stelle ein Landmann. Vier Soldaten gingen an seiner Seite, um ihn vor Mißhandlungen des Pöbels zu schützen, der sich trotzdem bisweilen durchdrängte, ihn mit Stöcken schlug und ihn anspie. Doch kein Laut kam von seinen Lippen, weder ein Vorwurf noch eine Klage. Er blickte auch nicht auf, bis er dem Hause nahe war, das Ben Hur und seinen Freunden Zuflucht bot. Diese waren vom tiefsten Mitleid bewegt. Esther schmiegte sich an ihren Vater, und dieser, willensstark wie er war, zitterte heftig. Balthasar sank sprachlos zu Boden. Selbst Ben Hur rief aus: »Mein Gott, mein Gott!« Da wandte der Nazarener, als ob er ihre Gefühle kenne oder den Ausruf gehört habe, sein bleiches Antlitz gegen die Gruppe und blickte jeden einzelnen aus derselben an, so daß sie diesen Blick durch ihr ganzes Leben in der Erinnerung mit sich trugen. Sie konnten sehen, daß er an sie, nicht an sich selbst denke, und daß seine brechenden Augen ihnen den Segen gaben, den er mit Worten nicht sprechen durfte.

Dem Nazarener folgten zwei andere Männer, die auch Kreuze trugen.

»Wer sind diese?« fragte Ben Hur die Galiläer.

»Verbrecher, die mit dem Nazarener sterben sollen,« antworteten sie.

Als Nächster im Zuge schritt würdevoll eine tiarageschmückte Gestalt, die ganz in die goldenen Gewänder des Hohenpriesters gekleidet war. Eine Abteilung der Tempelwache umgab ihn. Hinter ihm kamen nacheinander der Hohe Rat und eine lange Reihe Priester, letztere in ihren einfachen weißen Gewändern mit den faltigen, farbenprächtigen Gürteln.

»Der Schwiegersohn des Annas,« sagte Ben Hur leise.

»Kaiphas! Ich habe ihn gesehen,« erwiderte Simonides, und nach einer Pause, während welcher er den stolzen Hohenpriester nachdenklich betrachtete, fügte er hinzu: »Und jetzt bin ich überzeugt. Mit jener Gewißheit, die von einer plötzlichen hellen Erleuchtung kommt – mit unfehlbarer Gewißheit – weiß ich jetzt, daß der Mann mit der Inschrift um den Hals, der dort vorn geht, wirklich das ist, was die Inschrift besagt – König der Juden! Ein gewöhnlicher Mensch, ein Betrüger, ein Verbrecher hatte nie ein solches Gefolge.«

Da sprach Esther: »Ich sehe dort einige Frauen, die weinen. Wer sind sie?«

Nach der Richtung blickend, wohin sie mit der Hand zeigte, sahen sie vier Frauen in Tränen. Eine derselben stützte sich auf den Arm eines Mannes, der dem Nazarener nicht unähnlich sah. Ben Hur antwortete:

»Der Mann ist der Jünger, welchen der Nazarener am meisten liebt. Die Frau, die sich auf seine Arme stützt, ist Maria, des Meisters Mutter, die anderen sind befreundete Frauen aus Galiläa.«

Esther sah den Trauernden mit feuchten Augen nach, bis sie in der Menge ihren Blicken entschwanden.

»Kommt,« sprach dann Simonides, als Balthasar bereit war, »kommt, machen wir uns auf den Weg!«

Ben Hur hörte die Aufforderung nicht. Der Anblick der eben vorüberziehenden Horde, ihre Wildheit und Mordlust erinnerte ihn an die Sanftmut des Nazareners und an die vielen Liebeswerke, die er ihn für die leidende Menschheit hatte tun sehen. Dann kam ihm plötzlich in den Sinn, zu wie großem Danke er verpflichtet sei. Er gedachte des kühlenden Trunkes am Brunnen zu Nazareth und des himmlisch-milden Antlitzes dessen, der ihn gereicht hatte. Er gedachte der letzten großen Wohltat, des Wunders vom Palmsonntage, und dabei erfüllte ihn der Gedanke, daß er nicht imstande sei, Hilfe mit Hilfe zu erwidern oder Wohltat mit Wohltat zu vergelten, mit bitterer Wehmut und er machte sich selbst Vorwürfe. Ein wohlgeführter Angriff würde nicht nur den Pöbel zerstreuen und den Nazarener in Freiheit setzen, sondern auch wie ein Trompetenstoß für Israel wirken und den langgeträuumten Freiheitskrieg beschleunigen. O Gott Abrahams! Ließ sich wirklich nichts, gar nichts tun? In diesem Augenblicke fiel sein Auge auf eine Gruppe von Galiläern. Er drängte sich durch die Menge und holte sie ein. »Folgt mir!« sagte er. »Ich habe mit euch zu sprechen.«

Die Männer gehorchten, und als sie wieder unter dem Schutze des Hauses waren, sprach er:

»Ihr seid aus der Zahl jener, die mein Schwert nahmen und sich mit mir vereinigten, um für die Freiheit und den kommenden König zu kämpfen. Ihr habt eure Schwerter bei euch und jetzt ist es Zeit, sie zu gebrauchen. Geht, sucht überall nach unseren Brüdern und sagt ihnen, daß sie auf der Kreuzigungsstätte sich um mich sammeln, bereit, den Nazarener zu verteidigen. Der Nazarener ist der König und die Freiheit stirbt mit ihm.«

Sie blickten ihn ehrerbietig an, rührten sich aber nicht. Endlich antwortete einer:

»Sohn Judas« – unter diesem Namen kannten sie ihn – »Sohn Judas, der Nazarener ist nicht der König, er hat auch nicht den Geist eines Königs. Wir waren mit ihm, als er in Jerusalem einzog, wir sahen ihn im Tempel. Er wurde sich selbst untreu und enttäuschte uns und Israel. Er ist nicht der König und Galiläa ist nicht mit ihm. Er soll des Todes sterben. Doch höre, Sohn Judas! Wir haben deine Schwerter, und wir sind jetzt bereit, sie zu ziehen und für die Freiheit zu kämpfen. Wir werden uns beim Kreuze um dich sammeln.«

Der entscheidende Augenblick im Leben Ben Hurs war gekommen. Hätte er es vermocht, das Anerbieten anzunehmen, und das Wort ausgesprochen, so möchte die Weltgeschichte sich anders gestaltet haben, als sie jetzt ist. Eine plötzliche Verwirrung kam über ihn, er wußte nicht, wie. Aber später schrieb er sie dem Nazarener zu, denn als dieser von den Toten auferstanden war, sah er ein, daß sein Tot notwendig war zur Begründung des Glaubens an die Auferstehung, ohne welche das Christentum ein Gebäude ohne festen Grund wäre. In der Verwirrung konnte er zu keinem Entschlüsse kommen, er stand ratlos, ja wortlos da. Das Gesicht in die Hände bergend, zitterte er unter dem Kampfe zwischen seinem Willen, dem er gerne gefolgt wäre, und einer höheren Macht, die auf ihn wirkte.

»Komm, wir warten auf dich!« mahnte Simonides zum vierten Male.

Willenlos schritt er jetzt hinter dem Sessel und der Sänfte her. Esther ging an seiner Seite. Wie Balthasar und seine Freunde, die Weisen, an dem Tage, da sie in der Wüste zusammenkamen, wurde auch er von einer höheren Macht geführt.


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