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Malluch begann nach seiner Ankunft in Jerusalem seine Nachforschungen in kühner Weise, indem er sich geradeswegs an den kommandierenden Tribun selbst um Auskunft wandte. Er erzählte die Geschichte der Familie Hur sowie alle Einzelheiten des Unfalles, der Gratus zugestoßen war, und zeigte, daß an demselben niemand ein Verschulden traf. Der Zweck seiner jetzigen Nachforschung, sagte er, sei, falls jemand aus der unglücklichen Familie lebend entdeckt würde, eine Bittschrift dem Kaiser zu Füßen zu legen und um die Rückerstattung des Vermögens und Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte anzusuchen. Eine solche Bittschrift würde, daran zweifle er nicht, den Erfolg haben, daß auf kaiserlichen Befehl eine neuerliche Untersuchung eingeleitet werde, deren Ausgang die Freunde der Familie nicht zu fürchten hätten.
In seiner Erwiderung berichtete der Tribun umständlich die Entdeckung der Frauen in der Burg und ließ Malluch die Aufzeichnung lesen, die er nach der eigenen Aussage der Frauen gemacht hatte. Ja selbst die Bitte, sich davon eine Abschrift machen zu dürfen, wurde ihm gewährt. Malluch eilte nun zu Ben Hur zurück.
Der Eindruck, den die Nachricht auf Ben Hur machte, war entsetzlich. Lange Zeit saß er stumm, mit bleichem Antlitz und pochendem Herzen da. Dann und wann murmelte er, wie um die Gedanken zu offenbaren, die ihn am meisten folterten, vor sich hin:
»Aussätzige, Aussätzige! Sie – meine Mutter und Tirzah, – sie Aussätzige! Wie lange, o Herr, wie lange!«
Einen Augenblick schnitt der rasendste Schmerz des Mitleids ihm in die Seele, dann wieder quälte ihn glühender Rachedurst. Endlich erhob er sich.
»Ich muß sie aufsuchen. Sie sind vielleicht dem Tode nahe.«
»Wo willst du sie suchen?« fragte Malluch.
»Es gibt nur einen Ort, wohin sie gehn konnten.«
Malluch machte Einwendungen und erreichte endlich so viel, daß die Führung der weiteren Nachforschungen ihm übertragen wurde. Sie gingen mitsammen zum Tore, das dem Berg des bösen Rates gegenüber lag, denn dies war seit unvordenklicher Zeit für die Aussätzigen der Ort zu betteln. Dort blieben sie den ganzen Tag, gaben Almosen, fragten nach den beiden Frauen und boten für ihre Entdeckung reiche Belohnungen. Das wiederholten sie Tag um Tag sechs Wochen lang. Aber alle Bemühungen waren umsonst. Und jetzt, am Morgen des ersten Tages des siebenten Monats, der unserem Oktober entsprechen würde, bestand der ganze Erfolg ihrer Nachforschungen in der jüngst erhaltenen Nachricht, daß vor nicht langer Zeit zwei aussätzige Frauen von Dienern der Obrigkeit mit Steinen vom Fischtor verjagt worden seien. Diesen Anhaltspunkten weiter nachgehend und damit die Zeit vergleichend, gelangten sie zur traurigen Gewißheit, daß jene Unglücklichen die Gesuchten seien. Die Frage war jetzt dunkler als je. Wo waren sie? Was war aus ihnen geworden?
»Es war nicht genug, daß die Meinigen zu Aussätzigen gemacht wurden,« sagte der Sohn wieder und wieder – mit welcher Bitterkeit des Herzens mag der Leser sich vorstellen – »das war noch nicht genug, o nein! Sie mußten aus ihrer Vaterstadt hinausgesteinigt werden! Meine Mutter ist tot! Sie hat sich in die Wüste geflüchtet! Sie ist tot! Tirzah ist tot! Ich allein bin übriggeblieben! Und warum? Wie lange, o Herr, du Gott meiner Väter, wie lange soll dieses Rom noch bestehn?«
Zornerfüllt, hoffnungslos und rachebrütend, trat er in den Hof der Herberge und fand ihn dicht mit Menschen angefüllt, die während der Nacht gekommen waren. Während er sein Frühstück aß, horchte er auf die Gespräche, die einige derselben führten. Besonders eine Gesellschaft zog ihn an. Es waren zumeist junge, kräftige, lebhafte und wetterharte Männer, deren Sprache und Benehmen auf ländliche Herkunft wiesen. Bald hatte er erfahren, daß es Galiläer seien, die aus verschiedenen Ursachen in die Stadt gekommen waren, hauptsächlich aber, um am Feste des Posaunenschalles, das an jenem Tage gefeiert wurde, teilzunehmen.
Indes er sie beobachtete und fein in die Zukunft eilender Geist an die Waffentaten dachte, die eine Legion solcher Männer, wenn sie nur einmal an die strenge römische Mannszucht gewöhnt waren, vollbringen konnte, erschien ein Mann mit hochgerötetem Gesicht und vor Erregung funkelnden Augen im Hofe. »Warum seid ihr hier?« fragte er die Galiläer. »Die Rabbiner und Ältesten kommen eben in einem Zuge vom Tempel, um zu Pilatus zu gehn. Kommt, beeilt euch, schließen wir uns ihnen an!«
Sie umringten ihn im Augenblick.
»Zu Pilatus! Warum?«
»Man hat eine Verschwörung entdeckt. Des Pilatus neue Wasserleitung soll mit Geld aus dem Tempel bezahlt werden.«
»Wie, mit Geld aus dem heiligen Schatze?«
»Kommt!« rief der Bote. »Der Zug hat bereits die Brücke überschritten. Die ganze Stadt strömt nach. Vielleicht benötigt man uns. Beeilt euch!«
Da redete sie Ben Hur an.
»Männer von Galiläa,« sprach er, »ich bin ein Sohn Judas. Wollt ihr mich in eure Gesellschaft nehmen?«
»Es wird vielleicht zum Kampfe kommen,« erwiderten sie.
»Oh, in diesem Falle werde ich nicht der erste sein, der davonläuft!«
Sie nahmen die Entgegnung gutmütig auf und der Bote sprach: »Stark genug scheinst du. Komm mit!«
Auf dem Wege zum Prätorium, wie die Römer den Palast des Herodes nannten, stießen die Männer auf viele andere, welche die Nachricht von der beabsichtigten Entweihung des Tempels gleichfalls in Aufregung versetzt hatte. Als sie endlich das Tor des Prätoriums erreichten, war der Zug der Ältesten und Rabbiner bereits eingetreten. Eine große Menge war ihnen gefolgt, eine noch größere lärmte draußen.
Ein Hauptmann bewachte mit einem Trupp Soldaten, die in voller Rüstung unter den schönen marmornen Zinnen aufgestellt waren, den Eingang. Die Sonne schien glühend heiß auf Helm und Schild, aber die Soldaten blieben in der Reihe, ebenso unbekümmert um die brennenden Sonnenstrahlen wie um das Geschrei der Menge. Durch das offene Bronzetor wogte ein Menschenstrom hinein, ein kleinerer heraus.
»Was geht drinnen vor?« fragte einer der Galiläer einen Heraustretenden.
»Nichts!« war die Antwort. »Die Rabbiner stehn vor der Tür des Palastes und verlangen Pilatus zu sehen. Er hat sich geweigert herauszukommen. Sie haben einen hineingeschickt, ihm zu sagen, sie würden nicht fortgehn, bis er sie gehört habe. Nun warten sie.«
»Gehn wir hinein,« sprach Ben Hur in seiner ruhigen Weise. Er erkannte, wie wohl keiner seiner Gefährten, daß es sich hier nicht um eine bloße Meinungsverschiedenheit zwischen den Bittstellern und dem Landpfleger handle, sondern um einen schroffen Gegensatz und um die ernste Frage, wer von beiden seinen Willen durchsetzen werde.
Innerhalb des Tores schritt die Gesellschaft eine kurze Strecke weiter bis zu einem geräumigen Platze, an dessen Westseite sich die Wohnung des Landpflegers befand. Eine aufgeregte Menge füllte den Platz. Aller Augen waren nach einer Säulenhalle gerichtet, die sich über einem breiten, geschlossenen Tore erhob. Unter der Halle war eine zweite Abteilung Legionäre aufgestellt.
Das Gedränge war groß. Um die Säulenhalle herum erblickte man die hohen Turbane der Rabbiner, deren Ungeduld sich von Zeit zu Zeit der rückwärts wogenden Menge mitteilte. Öfters wurden Rufe laut, wie: »Pilatus, bist du ein Landpfleger, so komm heraus! Komm heraus!«
Eine Stunde verging, und obschon Pilatus die Rabbiner keiner Antwort würdigte, so blieben sie und die Volksmenge dennoch. Der Mittag kam und brachte einen Regenschauer von Westen her, aber keine Änderung in der Lage, nur daß die Menge noch zunahm, der Lärm größer und die Stimmung erregter wurde. Fast ununterbrochen erschollen, bisweilen mit beleidigenden Bemerkungen untermischt, die Rufe: »Komm heraus, komm heraus!« Inzwischen hielt Ben Hur seine galiläischen Freunde zusammen. Er war der Ansicht, daß der Stolz des Römers in der Folge den Sieg über seine Klugheit davontragen werde und daher das Ende nicht mehr fern sein könne. Pilatus wartete nur, daß das Volk ihm einen Anlaß gebe, mit Gewalt einzuschreiten.
Und endlich kam der Schluß. In der Mitte des Gedränges hörte man den dumpfen Hall von Schlägen, gleich darauf folgten einzelne Schmerzens- und Wutschreie und ein unbeschreiblicher Lärm entstand. Es waren verkleidete Römer auf die Menge eingedrungen und schlugen mit Knüppeln auf sie los.
Ben Hur wandte sich jetzt an seine galiläischen Freunde. ›Männer aus Galiläa,‹ sprach er, ›es ist eine List des Pilatus. Nun, wenn ihr tun wollt, was ich euch sage, so werden wir mit den Knüttelmännern abrechnen.‹
Der galiläische Geist regte sich. ›Ja, ja!‹ riefen sie.
›Gehn wir zurück zu den Bäumen am Tore und wir werden finden, daß die Pflanzung des Herodes, wenn sie auch gesetzwidrig ist, am Ende doch etwas Gutes hat. Kommt!‹
Sie eilten, so schnell sie konnten, zurück, stürzten auf die Bäume zu und rissen mit vereinten Kräften die Äste von den Stämmen. In kurzer Zeit waren auch sie bewaffnet. Unter Ben Hurs Führerschaft bahnten sie sich entschlossen einen Weg durch die Menge, und als die Römer mitten in der wilden Lust, mit der sie ihre Knüppel auf das Volk niederfallen ließen, plötzlich mit den gelenkigen, von Kampfbegierde brennenden, gleichbewaffneten Galiläern zusammenstießen, waren sie ihrerseits überrascht. Ein wildes Kampfgeschrei erscholl, Schlag fiel auf Schlag und mit todbringender Wucht; der Ansturm war so ungestüm, wie ihn nur der Haß machen konnte. Alle übertraf Ben Hur, dem seine Schulung wunderbar zustatten kam. Er verstand es nicht nur, Hiebe auszuteilen und abzuwehren; sein langer Arm, seine große Gewandtheit und unvergleichliche Kraft halfen ihm jeden Gegner überwinden. Sein Kampfesruf erweckte Begeisterung in seinen Anhängern und erfüllte seine Feinde mit Schrecken. So überrascht und von ebenbürtigen Gegnern angegriffen, wichen die Römer anfänglich langsam zurück und ergriffen endlich die Flucht nach der Säulenhalle. Die hitzigen Galiläer wollten sie bis zur Treppe verfolgen, aber Ben Hur hielt sie klugerweise zurück.
»Halt, ihr Männer!« rief er. »Dort kommt der Hauptmann mit der Wache. Sie haben Schwerter und Schilde, gegen sie können wir nicht kämpfen. Wir haben uns tapfer gehalten; kehren wir nun um und suchen wir den Ausgang, so lange es noch möglich ist.«
Der Hauptmann rief ihnen Schmähungen nach, als sie abzogen. Ben Hur verlachte ihn und erwiderte in seiner eigenen Sprache: »Sind wir Hunde von Israel, so seid ihr römische Schakale. Bleibt hier und wir kommen wieder zurück!«
Die Galiläer brachen in Beifallsrufe aus und zogen lachend weiter. Außerhalb des Tores hatte sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt, wie Ben Hur sie noch nie, selbst nicht im Zirkus zu Antiochien, gesehen hatte. Auf den Dächern, auf den Straßen, am Bergesabhang drängte sich das Volk Kopf an Kopf, heulend und betend. Die Luft erzitterte von seinem Geschrei und seinen Verwünschungen.
Die Galiläer schritten durch das Tor, ohne von der Wache angehalten zu werden. »Brüder,« sprach Ben Hur, als sie außer Gefahr waren. »Ihr habt euch tapfer gehalten, erwartet mich heute nacht in der Herberge zu Bethanien. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen, der für Israel von großer Wichtigkeit ist.«
»Wer bist du?« fragten sie ihn.
»Ein Sohn Judas,« antwortete er einfach. Dann bahnte er sich mit Gewalt einen Weg durch die noch immer wachsende Menge und verschwand eiligst.
Auf Befehl des Pilatus erschienen Abgeordnete des Volkes vor dem Palaste und schafften ihre Toten und Verwundeten hinweg. In Israel erhob sich laute Klage. Den Schmerz des Volkes linderte indes der Sieg des unbekannten Helden, überall suchte man nach ihm und sein Lob war in aller Mund. Der schlummernde Geist der Nation wurde durch die tapfere Tat wieder geweckt. Auf den Straßen und selbst in den Hallen des Tempels, mitten unter den gottesdienstlichen Feierlichkeiten, wurden die alten Heldentaten der Makkabäer wieder erzählt, und Tausende wiegten die Köpfe und flüsterten verständnisvoll:
»Eine kurze Zeit, nur noch eine kurze Zeit, und Israel wird zu seinem Rechte kommen. Haben wir Vertrauen auf den Herrn und Geduld!«
So gewann Ben Hur bei den Galiläern Einfluß und ebnete sich den Weg zu größeren Taten im Dienste des Königs, der da kommen sollte.
Er folgte ihnen in ihre Heimat, und bevor der Winter zu Ende war, hatte er drei Legionen gesammelt und nach römischem Vorbild geordnet. Er hätte noch einmal so viel zusammenbringen können, denn der kriegerische Geist jenes tapferen Volkes war nie ganz eingeschlafen. Die Sache erforderte indes die äußerste Vorsicht gegenüber Rom sowohl wie Herodes Antipas. Er begnügte sich vorläufig mit den drei und trachtete sie abzurichten und zu einem planmäßigen, einheitlichen Handeln heranzubilden. Zu diesem Zwecke begab er sich mit den Anführern in die Lavabette von Trachonitis und lehrte sie dort den Gebrauch der Waffen, besonders des Wurfspeeres und des Schwertes, und alle Bewegungen eines nach Legionen geordneten Truppenkörpers. Dann sandte er sie als Lehrer in die Heimat zurück. Und bald wurden die soldatischen Übungen dem Volk ein Zeitvertreib.
Es versteht sich von selbst, daß diese Aufgabe viel Geduld, Geschicklichkeit, Eifer, Vertrauen und Hingebung von seiten Hurs forderte. Doch trotz alledem wäre seine Anstrengung umsonst gewesen ohne Simonides' und Ilderims Unterstützung, von denen der erstere ihn mit Waffen und Geld versorgte, während der letztere Wache hielt und Proviant herbeischaffte. Und immer noch wären seine Bemühungen fruchtlos geblieben ohne den regsamen, kriegerischen Geist der Galiläer.
Auf ein so lebhaftes, stolzes, tapferes, phantasiereiches und begeisterungsfähiges Volk mußte eine Erzählung wie die von der Ankunft eines neuen Königs den mächtigsten Eindruck machen. Daß er kommen werde, um Rom zu stürzen, hätte hingereicht, sie für den Plan Ben Hurs zu gewinnen. Und als ihnen gar versichert wurde, daß er über die Welt herrschen werde, mächtiger als Augustus, ruhm- und glanzvoller als Salomo, und daß sein Reich für immer bestehn werde, da konnten sie dem Rufe nicht widerstehn und widmeten sich der Sache mit Leib und Seele. Sie fragten Ben Hur um seine Gewährsmänner für die Behauptung, und er verwies sie auf die Propheten und erzählte ihnen von Balthasar, der drüben in Antiochien auf sein Erscheinen wartete. Und sie waren zufrieden, denn es handelte sich um die alte, ihnen liebgewordene Hoffnung des Messias, dessen Name ihnen fast ebenso vertraut war wie der des Herrn, und jetzt war die Zeit gekommen, daß der langgehegte Traum in Erfüllung gehn sollte. Der König sollte nicht erst kommen, er war da.
So vergingen für Ben Hur die Wintermonate, und der Frühling kam mit seinen lebenerweckenden Regenschauern, welche die warmen Winde vom westlichen Meere herüberwehten. Um diese Zeit hatte sein Eifer bereits solche Erfolge erzielt, daß er zu sich und seinen Anhängern sagen konnte: »Der gute König mag kommen. Er braucht uns nur zu sagen, wo er seinen Thron aufrichten will. Wir haben das Schwert bereit, ihm denselben zu behaupten.«
Und die vielen Männer, unter denen er so tätig war, kannten ihn nur als einen Sohn Judas und nannten ihn nach diesem Namen.