Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einunddreißigstes Kapitel.

Die erste Person, die am nächsten Morgen nach Öffnung des Schaftores die Stadt verließ, war Amrah mit ihrem Korb am Arme. Die Torwächter stellten keine Fragen an sie, denn sie wußten, daß sie jemandes treue Dienerin sei, und das genügte ihnen.

Eiligeren Schrittes als sonst eilte sie diesmal nach dem Berge der Aussätzigen, nach der Grabhöhle ihrer Herrin, die oberhalb des Brunnens En-Rogel lag.

So früh es war, hatte die unglückliche Frau doch ihr Lager schon verlassen und saß vor dem Eingange, während Tirzah im Innern schlief. Die Krankheit hatte in den letzten drei Jahren einen erschreckend schnellen Fortgang genommen. Sich ihres Aussehens bewußt, hielt sie sich mit dem ihr eigenen feinen Gefühl gewöhnlich ganz verschleiert. Selbst ihrer Tochter gestattete sie so selten wie möglich, ihr Antlitz zu sehen.

Diesen Morgen saß sie mit unverhülltem Kopfe in der frischen Luft, denn sie wußte, daß niemand in der Nähe sei, den der Anblick des entblößten Gesichtes erschrecken könnte. Es war noch nicht Tag, aber doch hell genug, um die Verheerungen zu sehen, welche die Krankheit an ihr bewirkt hatte. Ihr schnee-weißes Haar war grob und steif geworden und fiel ihr wie Silberdraht über die Schultern und den Rücken. Die Augenlider, die Lippen, die Nasenflügel, die Wangen waren entweder verschwunden oder hatten sich in eine eiterige Wunde verwandelt. Der Hals war eine Masse aschgrauer Schuppen. Sie wußte, daß mit dem ersten Aufleuchten der Sonne Amrah kam, um die im Korbe mitgebrachten Lebensmittel niederzustellen und den Krug mit frischem Wasser für den Tag zu füllen. Dieser kurze Besuch war das einzige, was der Unglücklichen von des früheren Glückes Fülle geblieben war. Da konnte sie sich nach ihrem Sohn erkundigen und sich von seinem Wohlbefinden erzählen lassen. Gewöhnlich waren die Nachrichten spärlich genug, doch tröstlich.

Während sie heute wieder in der dämmerigen Einsamkeit dasaß und sich ihren trüben Gedanken hingab, kam ein Weib schwankend vor Müdigkeit den Hügel herauf.

Die Witwe erhob sich rasch, bedeckte ihren Kopf und rief mit unnatürlich rauher Stimme: »Unrein, unrein!«

In einem Augenblick lag Amrah, die Warnung nicht beachtend, zu ihren Füßen. Die ganze lang im Herzen verschlossene Liebe des einfältigen Wesens brach mit einemmal hervor: unter Tränen und leidenschaftlichen Ausrufungen küßte sie die Kleider ihrer Herrin. Diese gab sich eine Weile Mühe, sich von ihr loszumachen, mußte aber bald einsehen, daß dies unmöglich sei, und wartete, bis die Heftigkeit ihres Gefühlsausbruches nach-gelassen hatte.

»Was hast du getan, Amrah?« rief sie. »Willst du durch solchen Angehorsam deine Liebe zu uns beweisen? Unseliges Weib, du bist verloren! Und er – dein Gebieter – du kannst nie, niemals wieder zu ihm zurückkehren.«

Amrah lag schluchzend im Staube.

»Der Bann des Gesetzes lastet auch auf dir, du kannst nicht nach Jerusalem zurückkehren. Was wird aus uns werden?

Wer wird uns Nahrung bringen? O böse, unselige Amrah! Wir sind alle, alle verloren!«

»Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!« flehte Amrah am Boden. »Du hättest gegen dich barmherzig sein sollen, dadurch hättest du dich auch gegen uns barmherzig gezeigt. Wohin können wir jetzt fliehen? Niemand kann uns nun helfen. O treulose Dienerin! Der Zorn des Herrn liegt bereits schwer genug auf uns.«

Jetzt erschien Tirzah, durch den Lärm aufgeweckt, im Eingang der Grabhöhle. »Ist es Amrah, Mutter?« rief sie.

Amrah erhob sich auf die Knie und sagte, die Hände faltend, in gebrochenen Worten: »O gute Gebieterin! Ich bin nicht treulos, – ich bin nicht böse. Ich bringe euch gute Nachrichten.«

»Von Judah?« fragte die Witwe, ihren Kopfschleier halb zurückziehend.

»Es ist ein wunderbarer Mann erschienen,« fuhr Amrah fort, »der die Macht hat, euch zu heilen. Er spricht ein Wort und die Kranken sind gesund, ja selbst die Toten kehren zum Leben zurück. Ich bin gekommen, euch zu ihm zu führen.«

»Arme Amrah!« sprach Tirzah mitleidig.

»Nein,« rief Amrah, den in Tirzahs Worten liegenden Zweifel fühlend, – »nein, so wahr der Herr lebt, der Gott Israels, mein Gott wie euer Gott, ich rede die Wahrheit! Diesen Morgen wird er auf seinem Wege nach der Stadt vorüberkommen. Nehmet hier und esset, dann laßt uns gehn!«

Die Mutter horchte begierig. »Wer erzählte dir von ihm?«

»Judah.«

»Judah erzählte dir? Ist er zu Hause?«

»Er kam gestern abend.«

»Es war einst ein Prophet, der einen Aussätzigen heilte,« sprach die Mutter gedankenvoll zu Tirzah; – »aber er hatte seine Macht von Gott.« Dann sich zu Amrah wendend, fragte sie: »Woher weiß mein Sohn, daß dieser Mann im Besitze solcher Macht ist?«

»Er begleitete ihn auf seinen Wegen, hörte die Aussätzigen zu ihm rufen und sah sie gesund fortgehn. Zuerst kam einer allein, dann waren es ihrer zehn, und sie alle wurden gesund.«

Die Mutter verfiel wieder in Schweigen. Ihre abgezehrte Hand zitterte. Endlich sprach sie zu Tirzah: »Dieser Mann muß der Messias sein!«

»Ich erinnere mich noch der Zeit,« fügte sie nach einer Pause des Nachdenkens hinzu, »wo in ganz Judäa die Kunde verbreitet war, der Messias sei geboren. Er muß es sein, – er ist es! Ja,« sagte sie zu Amrah, »wir gehn mit dir. Bringe das Wasser, das du in einem Kruge in der Höhle finden wirst, und öffne deinen Korb. Wir wollen essen und dann gehn.«

Das Mahl hatten die drei Frauen, erregt wie sie waren, bald beendet und sie traten ihren ungewöhnlichen Weg an. Als Tirzah die zuversichtliche Stimmung der anderen gewonnen hatte, gab es nur mehr eine Sorge, die sie beunruhigte. Bethanien, sagte Amrah, sei der Ort, von wo der Mann kommen werde. Nun führten aber von dort drei Wege nach Jerusalem, einer über den ersten Gipfel des Ölberges, ein zweiter an seinem Fuße, ein dritter zwischen dem zweiten Gipfel und dem Berg des Ärgernisses. Die drei lagen zwar nicht weit voneinander, aber immerhin weit genug, um den Nazarener zu verfehlen, wenn die Unglücklichen nicht den von ihm eingeschlagenen Weg trafen.

»Wir wollen zuerst nach Bethphage gehen,« sprach die Mutter zu ihren Gefährtinnen. »Dort werden wir, wenn der Herr uns gnädig ist, erfahren, was weiter zu tun ist.«

Unterwegs verließen sie die betretene Straße aus Furcht vor der Volksmenge und erkletteten mit vieler Mühe einen Abhang. Plötzlich sahen sie vom Osten einen Mann eilig die Straße heraufkommen. Als er nahe genug war, um den vorgeschriebenen Warnungsruf zu hören, entblößte die Mutter das Haupt, wie es ebenfalls das Gesetz gebot, und rief mit schriller Stimme:

»Unrein, unrein!«

Zu ihrer Überraschung schritt der Mann trotzdem weiter.

»Was wollt ihr?« fragte er, kaum fünf Schritte vor ihnen stehn bleibend.

»Du siehst uns, habe acht!« sprach die Mutter mit Würde.

»Weib, ich bin der Bote dessen, der zu solchen, wie ihr seid, ein Wort spricht und sie sind geheilt. Ich fürchte mich nicht!«

»Des Nazareners?«

»Des Messias,« sagte er.

»Ist es wahr, daß er heute in die Stadt kommt?«

»Er ist jetzt in Bethphage.«

»Auf welchem Wege kommt er, Herr?«

»Auf diesem.«

Sie faltete die Hände und blickte dankbar zum Himmel.

»Für wen hältst du ihn?« fragte der Mann mitleidig.

»Für den Sohn Gottes,« entgegnete sie.

»So bleibe hier, oder, da eine große Menge ihm folgt, stelle dich an jenen Felsen, den weißen dort unter dem Baume, und wenn er vorüberkommt, unterlasse nicht, ihn anzurufen; rufe nur und fürchte nichts. Kommt dein Glaube deinem Wissen gleich, so wird er dich hören, und mögen alle Donner rollen. Ich gehe, es Israel in und außer der Stadt zu verkünden, daß er naht, damit alle sich bereiten, ihn zu empfangen. Friede sei mit dir und den Deinen, Weib!«

Er schritt weiter und sie gingen langsam zu dem angezeigten Felsen, der etwa Mannshöhe hatte und kaum vierzig Schritte rechts vom Wege lag. Vor demselben stehend, überzeugte sich die Mutter, daß sie von Vorübergehenden, deren Aufmerksamkeit sie erregen wollten, leicht gesehen und gehört werden konnten. Sie ließen sich dort im Schatten des Baumes nieder, erfrischten sich mit einem Trunk Wasser und ruhten. Tirzah war bald in Schlaf gesunken, und um sie nicht zu stören, verhielten sich die anderen schweigend.

Während der dritten Stunde wurde die Straße gegenüber dem Ruheplätze der Aussätzigen allmählich belebter, und immer mehr Menschen kamen in der Richtung nach Bethphage und Bethanien vorüber. Jetzt aber, zu Ansang der vierten Stunde, erschien eine große Menge Menschen auf dem Kamm des Ölberges, und als sie, Tausende an der Zahl, sich der Straße näherten, bemerkten die zwei wachenden Frauen mit Staunen, daß ein jeder einen frisch abgeschnittenen Palmzweig in den Händen hielt. Indes der seltsame Aufzug ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, lenkte der Lärm einer anderen Menge, die von Osten kam, ihre Augen dorthin. Nun weckte die Mutter Tirzah.

»Was soll das alles bedeuten?« fragte letztere.

»Er kommt,« antwortete die Mutter. »Diese hier, die wir sehen, sind aus der Stadt und gehn ihm entgegen. Die anderen, die wir im Osten hören, sind seine ihn begleitenden Freunde, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß beide Züge sich hier vor uns begegnen.«

Inzwischen kam der Zug von Osten langsam herauf. Als endlich die Vordersten in demselben sichtbar wurden, heftete sich der Blick der Aussätzigen auf einen Mann, der in der Mitte einer, wie es schien, auserlesenen Gesellschaft ritt. Die ihn Umgebenden sangen und jubelten im Übermaß der Freude. Der Reitende war unbedeckten Hauptes und ganz in Weiß gekleidet. In banger Erwartung blickten die Frauen hin, und als er näher kam, sahen sie ein blasses Gesicht, umschattet von langem, kastanienbraunem, ein wenig sonnenverbranntem Haar, das in der Mitte gescheitelt war. Er blickte weder nach rechts noch nach links. Die Sonne schien rückwärts auf sein Haupt, und in ihrem Lichte glänzend, ließ das flatternde Haar dasselbe wie von einem goldenen Strahlenkranze umgeben erscheinen.

»Er ist da, Tirzah,« rief die Mutter, »er ist da! Komm, mein Kind!«

Sie trat vor den weißen Fels und sank auf die Knie. Die Tochter und die Magd eilten an ihre Seite. Den nahenden Zug jetzt erblickend, hielten die Tausende im Westen inne, schwangen ihre grünen Zweige und riefen oder sangen vielmehr – denn es war beides zugleich –:

»Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!«

Und all die Tausende im Gefolge der Reitenden, in seiner Nähe wie in der Ferne, erwiderten den Ruf, daß die Luft erzitterte und der Schall dem Brausen eines am Bergabhang tobenden Sturmes glich. Unter dem Lärm verhallten die Rufe der armen Aussätzigen wie etwa das Gezwitscher von Sperlingen.

Der Augenblick, da beide Scharen einander begegnen mußten, war gekommen und damit auch die Gelegenheit, welche die Unglücklichen suchten. Die Mutter erhob sich und wankte vorwärts. Ihre geisterhaften Hände erhebend, rief sie mit furchtbar gellender Stimme. Die Leute sahen sie, sahen ihr abschreckend häßliches Gesicht und blieben vor Scheu und Furcht stehn – eine Wirkung, die äußerstes menschliches Elend, wie es hier sichtbar war, ebenso hervorbringt wie die in Purpur und Gold erscheinende Majestät. Tirzah, die etwas zurückgeblieben war, sank zu Boden: sie war zu schwach und erschrocken, um weitergehn zu können.

»Die Aussätzigen, die Aussätzigen! Steinigt sie!«

»Die Gottverfluchten! Tötet sie!«

Solche und ähnliche Stimmen mischten sich in die Hosiannarufe jenes Teiles der Menge, die zu weit entfernt war, um die Ursache der Störung zu sehen und zu verstehn. Es waren aber einige in der Nähe, die das Wesen jenes Mannes, bei dem die Unglücklichen Hilfe suchten, genauer kannten. Diese blickten ihm schweigend nach, indes er, weithin sichtbar, seitwärts hinaufritt und vor den Frauen anhielt. Und auch diese schauten sein Antlitz, – das ruhige, mitleidsvolle, himmlisch schöne Antlitz mit den großen Augen, die Milde und Wohlwollen strahlten. Und die Mutter begann: »Meister, Meister, du siehst unsere Not, du kannst uns rein machen! Erbarme dich unser – erbarme dich!«

»Glaubst du, daß ich es tun kann?« fragte er.

»Du bist der, von dem die Propheten gesprochen haben – du bist der Messias!« erwiderte sie.

Seine Augen erweiterten sich und strahlten, sein Wesen war würdevoll.

»Weib,« sprach er, »dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!«

Er verweilte noch einen Augenblick, der Anwesenheit der Menge sich anscheinend nicht bewußt, – nur einen kurzen Augenblick, – dann ritt er hinweg.

Alsbald schlossen sich beide Scharen, jene von der Stadt und jene von Bethphage, um ihn unter fortwährendem Jubel, unter Hosiannarufen und Palmenschwingen zu begleiten, und so schied er von den Aussätzigen für immer. Ihren Kopf bedeckend, eilte die Mutter zu Tirzah, schloß sie in ihre Arme und rief:

»Tochter, ich habe sein Versprechen. Er ist in Wahrheit der Messias. Wir sind gerettet – gerettet!« Und die beiden blieben auf den Knien, indes der Zug sich langsam weiter-bewegte und endlich hinter dem Bergrücken verschwand.

Als der Lärm der singenden Menge aus der Ferne kaum mehr hörbar an ihr Ohr drang, begann das Wunder wirksam zu werden.

Zuerst fand eine Neubelebung des Blutes in den Herzen der Aussätzigen statt. Es strömte schneller und stärker und durchschauerte ihre welken Körper mit einem unendlich süßen Gefühle schmerzloser Heilung. Jede fühlte es, wie die Krankheit von ihr wich. Ihre Kräfte kehrten zurück, sie wurden wieder sie selbst. Wie um die Reinigung vollkommen zu machen, teilte sich die Neubelebung auch ihrem Geiste mit und versetzte sie in einen Zustand seligsten Entzückens.

Diese Umwandlung – denn eine solche war es ebensowohl wie eine Heilung – hatte noch einen anderen Zeugen außer Amrah. Es war Ben Zur, der auch heute wieder in die Nähe des Nazareners geeilt war. Er hatte die Frauen gesehen und war jetzt zurückgeblieben, um staunend das schon früher erlebte Wunder zu betrachten. Nach einer Weile kam ein schwarzbrauner Araber, der zwei Pferde an der Hand führte.

»Bleib hier,« sprach Ben Hur zu ihm. »Ich will heute beizeiten in der Stadt sein und Aldebaran muß mir seine Dienste leisten.«

Er streichelte die breite Stirn des Pferdes, das jetzt in seiner besten Kraft und Schönheit stand, dann schritt er über den Weg und näherte sich den beiden Frauen.

Sie waren für ihn noch Fremde, die nur insoweit seine Aufmerksamkeit erregten, als sie Gegenstand einer übermenschlichen Tat waren, deren Erfolg vielleicht zur Lösung des ihn schon so lange beschäftigenden Geheimnisses beitrug. Im Weitergehen fiel sein Blick zufällig auf die kleine Frauengestalt, die beim weißen Felsen stand und ihr Gesicht in den Händen barg.

»So wahr der Herr lebt, es ist Amrah!« sprach er zu sich selbst. Er eilte vorwärts, an der Mutter und Tochter vorüber, ohne sie zu erkennen, und blieb vor der Magd stehn.

»Amrah,« sagte er zu ihr, »Amrah, was tust du hier?«

Sie stürzte auf ihn zu und sank, Tränen in den Augen und beinahe sprachlos vor Freude und Furcht zugleich, vor ihm auf die Knie.

»Gebieter, Gebieter, dein Gott und mein Gott – wie gütig ist er!«

Ben Hur blickte sie an, und dann überkam ihn plötzlich ein ahnendes Gefühl. Er sah auf die Frauen. Noch nie hatte er eine Fremde getroffen, die seiner Mutter so ähnlich war. Und wer befand sich an ihrer Seite, wenn nicht Tirzah? – lieblich, schön, vollkommen, nur gereifter, in allem anderen aber gerade so wie an jenem Unglücksmorgen, da sie mit ihm über die Brustwehr hinabblickte.

Kaum seinen Augen trauend, legte er der Magd die Hand auf den Kopf und fragte zitternd: »Amrah, Amrah, – meine Mutter! Tirzah! Sag' mir, ob ich recht sehe.«

»Sprich mit ihnen, o Gebieter, sprich mit ihnen!« sagte sie.

Er wartete nicht länger, sondern eilte mit ausgestreckten Armen auf sie zu und rief: »Mutter, Mutter! Tirzah! Hier bin ich!«

Sie hörten seinen Ruf und mit einem freudigen Aufschrei ebenso inniger Liebe stürzten sie sich ihm entgegen, und im nächsten Augenblick lagen sich die drei so lange Getrennten in den Armen und ließen die Tränen zusammenfließen.

Als das erste Entzücken vorüber war, sprach die Mutter: »In diesem Glücke, meine Kinder, laßt uns nicht undankbar sein. Laßt uns das neue Leben mit der Lobpreisung dessen beginnen, dem wir so sehr zum Danke verpflichtet sind.«

Sie fielen auf die Knie, Amrah mit den anderen, und das Gebet, das die Mutter sprach, erklang wie ein Psalm.

Die Mutter war begreiflicherweise die erste, die an die Sorgen des Lebens dachte.

»Was sollen wir nun tun, mein Sohn? Wohin sollen wir gehn?«

Diese Worte erinnerten Ben Hur an die Pflicht, den gesetzlichen Vorschriften zu genügen. Er führte seine Mutter und Schwester an den oberen Kidron, etwas östlich von den Königsgräbern, wo er für sie zwei bequeme Zelte aufschlug. Dort sollten sie bleiben, bis der prüfende Priester ihre vollständige Heilung bescheinigt hätte.

In Ausübung dieser Pflicht war der junge Mann selbst vor dem Gesetze unrein geworden, weshalb er an den Zeremonien des eben nahenden großen Festes nicht teilnehmen durfte. Selbst den äußersten, am wenigsten heiligen Vorhof des Tempels zu betreten war ihm versagt. So zwang ihn die Not dazu, wozu sein Herz ihn drängte, bei seinen Teuren im Zelte zu bleiben. Er hatte so vieles von ihnen zu hören und so vieles von sich selbst ihnen zu erzählen.

Aufmerksam hörte er ihre qualvollen Erlebnisse an, und ein ungeheurer Haß gegen Rom stieg dabei in ihm auf. Der Gedanke an einen Aufstand wurde in ihm immer stärker, und immer wieder dachte er dabei auch wieder an den Nazarener, als der Seele dieses Aufstandes. Wenn er aufstände und spräche: »Höre, Israel, ich bin der von Gott verheißene König der Juden. Erhebe dich und unterwirf dir die Welt!« – Wenn er so spräche, würden nicht alle ihm folgen?

Wiederholt kamen auch in der Zwischenzeit sonnengebräunte, barhäuptige, schwarzbärtige Männer von gedrungenem Körperbau zum Zelte und fragten nach Ben Hur; seine Unterredungen mit ihnen fanden stets im geheimen statt. Auf die Frage der Mutter, wer sie seien, gab er zur Antwort:

»Gute Freunde aus Galiläa.«

Durch sie erhielt er fortwährend Nachricht über das Wirken des Nazareners und über die Pläne seiner Feinde, der Rabbiner sowohl, die in ihm einen gefährlichen Neuerer und Gotteslästerer sahen, wie der Römer. Daß das Leben des guten Meisters in Gefahr schwebe, wußte er, aber daß jetzt, um die Zeit des Osterfestes, jemand einen Anschlag auf dasselbe wagen werde, konnte er nicht glauben. Es schien zu gut geschützt durch seinen Ruf und die tiefwurzelnde Liebe des Volkes zu ihm. Auch die Anwesenheit einer so großen Zahl Festpilger war eine hinreichende Gewähr für seine persönliche Sicherheit. Und doch gründete sich Ben Hurs Vertrauen vor allem auf die Wunderkraft Christi. Daß der Besitzer einer solchen Macht über Leben und Tod, die er so oft zum Heile anderer angewendet, zu seinem eigenen Schutze von derselben keinen Gebrauch machen werde, schien ihm ebenso unglaublich wie unfaßbar.

Alle diese Begebenheiten fanden zwischen dem 21. und 25. März statt. Am Abend des letzteren Tages gab Ben Hur seiner Ungeduld nach und ritt in die Stadt mit dem Versprechen, noch in der Nacht zurückzukehren.

Das Pferd war frisch und eilte, ohne angespornt zu werden, schnell vorwärts. Die Häuser, an denen er vorüberkam, waren leer, die Feuer vor den Zelteingängen erloschen, die Straße verödet, denn es war der erste Tag der Osterwoche und jene Abendstunde, da die Millionen Pilger sich in der Stadt drängten, die Vorhöfe des Tempels vom Schlachten der Osterlämmer rauchten und die in Reihen stehenden Priester das Opferblut auffingen, um es schnell zu den triefenden Altären zu bringen, – die Stunde, da alles Hast und Eile war, denn das Erscheinen der Sterne gab das Zeichen zum Braten und Essen des Lammes und zu den Lobgesängen, und die Vorbereitungen mußten zu Ende sein.

Ben Hur ritt durch das große Nordtor. Vor ihm lag Jerusalem in seiner Herrlichkeit, das Jerusalem vor dem Falle, auf dem Höhepunkte seines Glanzes und Ruhmes, festlich beleuchtet zum Preise des Herrn.


 << zurück weiter >>