Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Bromley Kays Verdacht

Kommissar Bromley Kay warf einen scharfen Blick auf den Eintretenden, und der gespannte Ausdruck seines Gesichtes löste sich erst, als er ihn erkannte. »Hallo, George!« rief er, »was bringt Sie denn hierher? Sie sind doch erst morgen fällig.«

»Ich weiß,« sagte George Emmerson, als er die Hand seines Chefs ergriff, »aber ich konnte einfach nicht länger warten. Ich kam schon heute morgen zurück, und ich würde hier auch nicht vor morgen erschienen sein, wenn ich nicht die Mittagsblätter gesehen hätte. Ich dachte, daß man mich vielleicht brauche.«

»Sie sind tüchtig. Sie meinen den Mord an Camden Hale?«

»Ja, ich nehme auch an, daß er ermordet wurde. Ich weiß nur, was in den Zeitungen darüber steht.«

»So!« Der Ausruf war ganz unbestimmt. Er konnte alles und nichts bedeuten. »Übrigens ist er Ihr Nachbar, nicht wahr?«

»Ja, so ziemlich, wir wohnen in derselben Straße. Er wohnt Nummer achtundvierzig und ich vierundfünfzig. Doch wie ging der Mord vor sich?«

»Die Umstände sind ziemlich klar. Der Mann wurde heute morgen von seinem Mädchen gefunden. Er ist anscheinend erwürgt worden, der Arzt behauptet es wenigstens. Aber ein voll geladener Revolver wurde neben der Leiche gefunden, während der Putz der Decke verriet, daß eine Kugel abgefeuert worden ist. Einer der Diener erkannte den Revolver als Camden Hales. Um noch alle Zweifel zu beseitigen, trug er am Griff die Anfangsbuchstaben des Namens. Die Kugel, die wir aus der Decke herausholten, paßt zu der Waffe. Aber der Revolver war voll geladen, und alle Diener schwören, daß sie während der Nacht keinen Schuß gehört haben. Erklären Sie das, wenn Sie können!«

»Das sieht recht verwickelt aus. Soll ich den Fall übernehmen?«

Bromley Kay dachte nach. »Ich glaube nicht, daß ich recht täte, Ihnen den Fall zu übergeben,« sagte er langsam, »der Fall scheint für unsern besten medizinischen Sachverständigen nicht geeignet zu sein. Ich glaube, Sie werden ihn besser nicht übernehmen.«

»Aber es ist augenblicklich nichts anderes zu tun, und außerdem zeigt der Fall einige ungewöhnliche Züge. Würden Sie es einem alten Freunde zu Gefallen tun?« sagte Emmerson mit einem Eifer, der seinen Vorgesetzten aufblicken ließ.

»Nun, wenn Sie es so drehen,« sagte Bromley Kay zögernd, »dann weiß ich nicht, wie ich es Ihnen abschlagen soll. Aber warum sind Sie so versessen, gerade diesen Fall zu übernehmen?«

Emmerson zögerte. Endlich sagte er: »Nun, er war ja – wie ich schon sagte – in gewissem Sinne mein Nachbar, und« – seine Stimme gewann mehr an Festigkeit – »der Fall zeigt einige sehr seltsame Merkmale. Denken Sie zum Beispiel an den voll geladenen Revolver und die Kugel in der Decke! Wie erklären Sie sich diese widersprechenden Tatsachen? Außerdem – warum wurde Hale erwürgt und nicht erschossen oder erdolcht oder auf irgendeine andere Weise getötet? Erwürgen ist mehr eine östliche Sitte.«

»Wollen Sie damit sagen, daß der Mörder vielleicht ein Orientale war?« fragte Bromley Kay mit Interesse.

Emmerson schüttelte den Kopf. »Das will ich damit nicht gesagt haben, obgleich sich durch solche Überlegungen allerlei Möglichkeiten ergeben. Übrigens, wird im Hause etwas vermißt?«

»Warum fragen Sie das?« fragte der andere dagegen.

»Mein lieber Freund, ich suche nur nach einem Motiv, das ist alles,« antwortete er leichthin. Es war nicht die Art, in der man gewöhnlich einen Vorgesetzten anspricht, aber George Emmerson war in seiner Abteilung ein wertvolles und geschätztes Mitglied und setzte sich auf Grund seiner besonderen Stellung über Förmlichkeiten hinweg. Er war als Mediziner Scotland Yard zugeordnet und ebensosehr Arzt wie Detektiv, und mehr als einmal wurde die Logik des einen durch das Gefühl des anderen ergänzt.

»Ich verstehe,« sagte Bromley Kay, »um ganz offen zu sein, Ihre Frage ist eigentlich eine harte Nuß. Unsere Erkundigungen haben ergeben, daß Camden Hale gestern tausend Pfund von der Bank abgehoben hat. Es ist möglich, daß er sie mit nach Hause genommen hat. Sein Mörder hat vielleicht erfahren, daß er das Geld abgehoben hatte, und ist dann mit der Absicht, ihn zu berauben, in sein Haus gekommen.«

»Das wäre möglich,« nickte Emmerson, »kennen Sie die Nummern der Noten?«

Bromley Kay lächelte. »Die kann ich Ihnen nennen, obgleich sie uns nicht viel helfen werden. Hale ließ sich den Betrag in Einpfundnoten auszahlen und wünschte, daß sie nicht in Serien seien. Die Bankbeamten taten ihr möglichstes, er war ein guter Kunde; aber bei dem großen Betrag war es nicht zu umgehen, daß er doch einen Posten mit fortlaufenden Nummern erhielt. Er gab sich damit zufrieden und wollte sie anderwärts einwechseln. Sie sehen also: Obgleich wir die Nummern feststellen können, werden sie uns nicht viel nützen.«

»Ja,« meinte Emmerson nachdenklich, »selbst wenn wir die Noten bekämen, würden wir finden, daß sie von ganz unschuldigen Leuten gewechselt wurden. Sie mögen in der Zwischenzeit schon durch ein Dutzend Hände gegangen sein.«

»Das habe ich auch gedacht,« sagte Bromley Kay, »nein, George, Sie müssen einen andern Weg einschlagen, wenn Sie den Mörder fangen wollen.«

»– und Erpresser,« murmelte Emmerson.

Kay schaute interessiert auf. »Was meinen Sie?« Emmerson wiederholte seine Bemerkung, und Kay sah ihn gespannt an. »Woraus schließen Sie das?«

»Das ist doch klar: Der Betrag selbst, das Geheimnisvolle beim Abheben, die Unmöglichkeit, die Noten zu verfolgen – alles weist darauf hin, daß jemand Camden Hale erpressen wollte.«

»Warum ist er dann nicht zu uns gekommen? Er hat doch sicher gewußt, daß sein Name nicht genannt werden würde.«

Emmerson lächelte seltsam. »Wahrscheinlich wußte er das, er war sicher kein Dummkopf, aber ich nehme an, daß er das kleinere von zwei Übeln wählen wollte. Es gibt gewisse – nun, soll ich all die Verfehlungen nennen, an die man denken kann?«

»Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Aber warum hat man ihn erpreßt und gleichzeitig getötet? Das ist gerade so, als wenn man die Gans schlachtet, die goldene Eier legt.«

»In diesem Falle Banknoten,« sagte Emmerson, »doch wir wissen nicht, ob Erpresser und Mörder dieselbe Person waren. Außerdem können wir nicht einmal sagen, ob überhaupt eine Erpressung stattfand. Wahrscheinlich ist es so gewesen, doch bevor wir nicht einen Beweis in der Hand haben, ist es nur eine Vermutung.«

»Das sehe ich ein, doch es ist eine Vermutung, die eine gute Basis für die weitere Arbeit bilden kann. Auf jeden Fall verfolgen Sie bitte die Angelegenheit weiter, doch denken Sie daran, daß ich sie Ihnen nicht gern überlasse! Es ist kein Fall für Sie.«

»Die Hauptsache ist, daß Sie mir erlauben, den Fall zu übernehmen,« erwiderte Emmerson, »es gibt immer verschiedene Arten, das zu arrangieren.«

»Ich habe noch keine gefunden.«

»Nein, aber Sie finden noch eine,« sagte der junge Mann lachend, und bevor der andere eine passende Antwort geben konnte, war er verschwunden. Doch als er gegangen war, saß Bromley Kay eine Weile in tiefen Gedanken. Es formte sich folgendes Bild:

Camden Hale war in der vergangenen Nacht ermordet worden. George Emmerson erscheint heute, vierundzwanzig Stunden früher, als er erwartet wird, und gibt für seine frühe Rückkehr keine ausreichende Erklärung. Die beiden Männer waren Nachbarn und kannten sicher ihre gegenseitigen Gewohnheiten. Auf den ersten Blick wollte das nicht viel sagen, aber die Folgerung, die Kay daraus zog, ließ ihn die Stirne furchen und finster vor sich hin blicken.

Aus irgendeinem Grunde brannte Emmerson darauf, den Fall selbst zu übernehmen. Welches war der Grund?

Bromley Kay hatte einen Verdacht.


 << zurück weiter >>