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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Im Nachtzug

Conway Wallack war mit den Perlen gefaßt worden. Er beklagte sich nicht, sondern tröstete sich damit, daß er der Polizei bei soviel anderen erfolgreichen Raubzügen ja entwischt war. Als er jedoch auf der Polizeistation hörte, wie der triumphierende Inspektor dem Namen »alias der Würger« hinzufügte, kam ihm erst die volle Bedeutung der schwarzen Maske zum Bewußtsein. Dann wandte er sich mit Todesangst im Gesicht an den Inspektor und leugnete es hartnäckig ab, der »Würger« zu sein. Er beteuerte, kein anderer als der internationale Juwelendieb Conway Wallack zu sein.

»Wir wissen Bescheid,« sagte der Inspektor beruhigend; denn einen Menschen, der sein Todesurteil erwartet, kann man nicht für normal nehmen.

»Erzählen Sie es morgen früh Ihrem Verteidiger!«

Man brachte ihn in die stärkste Zelle und stellte eine dreifache Wache vor die Tür. Man traute der unheimlichen Klugheit des »Würgers« scheinbar das Unmöglichste zu, und die Polizei wollte diesmal kein Risiko eingehen.

Bromley Kay war durch das Klingeln des Telefons aus einem gesunden Schlaf geweckt worden, er kam mit noch unordentlichem Haar an, das Ankleiden hatte ihm schon zuviel Zeit genommen. Aus einer anderen Richtung kam Emmerson herbeigeeilt, auf seinem Gesicht lag offene Bestürzung, als er die Nachricht erhielt. Die flüchtige Beschreibung, die man ihm telefonisch gegeben hatte, beunruhigte ihn außerordentlich.

»So, das ist also der Mann! Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt,« sagte Bromley Kay, als er durch das Gitter der Zellentür den ersten Blick auf ihn warf.

»Das ist meistens so!« meinte der Inspektor triumphierend.

Kay betrachtete den Gefangenen neugierig, und Wallacks offene Augen erwiderten freimütig den Blick des anderen.

»Guten Abend, Mr. Kay,« grüßte er kühl, »man hat mich endlich gefaßt, aber hieran bin ich ganz unschuldig.«

»Sieht nicht so aus. Sie sind doch mit dem Schmuck gefaßt worden,« erwiderte Kay gleichmütig.

»Hole der Teufel den Schmuck!« sagte der Gefangene. »Ich will zugeben, daß ich hinging, um das Halsband zu stehlen, aber ein anderer ist mir zuvorgekommen und hängte ihn mir an, als der Alarm ertönte – um seine Haut zu retten. Das ist unfair!«

»Diese Geschichte habe ich schon oft gehört,« meinte Bromley Kay, und er sprach die Wahrheit. Kein Einbrecher, der mit dem Diebesgut gefaßt wird, stahl dasselbe selbst, irgendein Unbekannter steckte es ihm zu.

Wallack nickte. »Ich weiß das, der Unterschied ist nur der, daß es in diesem Falle tatsächlich so ist. Dann bezeichnet mich dieser Inspektor als den ›Würger‹. Das ist ein anderer Irrtum. Sie können sich ja meine Strafregister aus New York und Paris kommen lassen – Berlin und Scotland Yard will ich gar nicht erwähnen. Sehen Sie sie sich an! Sie werden finden, daß ich diesen Namen niemals in meinem Leben geführt habe.«

»Ihre übrigen Straftaten haben mit diesem Falle gar nichts zu tun,« sagte Kay fest, »Sie werden jetzt zu verantworten haben, was Sie hier getan haben: drei Morde und eine Anzahl anderer Verbrechen.«

Conway Wallack erblaßte. »Ich habe niemals in meinem Leben einen Menschen getötet, ich bin wohl Taschendieb, aber kein Mörder.«

»Das wird das Gericht entscheiden,« sagte Kay mit grimmigem Humor.

Er wandte sich bei dem Klang schnell nahender Schritte um, und sein Gesicht hellte sich auf, als er Emmerson erblickte.

Unser Freund, der ›Würger‹,« murmelte er.

»Das hat man mir schon gemeldet,« sagte Emmerson, »und es klingt mir so unwahrscheinlich, daß ich sofort hergekommen bin.«

Etwas in seiner Stimme veranlaßte Kay, ihn erstaunt anzublicken.

»Daran kann kein Zweifel sein. Er hatte die schwarze Maske bei sich, als er durchsucht wurde.«

»Das ist ebensowenig zwingend wie irgendein anderes zufälliges Beweisstück. Erzählen Sie mir doch ausführlich, was sich ereignet hat!« bat Emmerson.

Der Inspektor erzählte es ihm kurz.

»Die Lampen gingen also aus, und während sie aus waren, wurde das Halsband geraubt,« stellte Emmerson zum Schluß fest.

Er wandte sich an Kay. »Können Sie mir sagen, wozu er eine Maske gebraucht hat, wenn die Lampen aus waren?« fragte er.

Kay zuckte die Schultern. »Wer kann das wissen? Vielleicht hatte er zwei verschiedene Pläne, damit er, falls der eine mißlingen sollte, den anderen ausführen könnte. Ich kann es ja nicht wissen, bin ja schließlich kein Gedankenleser,« sagte er.

»Das ganze war bestimmt ein Schwindel. Wenn das Halsband und die Maske in Wallacks Taschen gefunden worden wären, hätte ich keine Zweifel gehabt, dann könnten Sie mit Ihren Vermutungen vielleicht recht haben. Aber warum sollte er beides unter den Schößen seines Frackes verstecken, an einer Stelle, wo er außerdem sehr schwer hinlangen konnte?«

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern sagte im gleichen Atem: »Kann ich in die Zelle gehen und den Mann sehen?«

»Natürlich,« erlaubte Kay, »vorausgesetzt, daß wir mitkommen.«

Als der Verbrecher sich bei ihrem Eintritt erhob, begann Emmerson: »Wallack, was wollten Sie gestern abend bei Gridley-Burril?«

»Ich war natürlich hinter dem Halsband her,« gab der andere ehrlich zu.

»War das alles?«

»Gewiß, mehr wollte ich nicht. Das Halsband hätte die Arbeit eines Abends gelohnt.«

»Das sehe ich ein,« sagte Emmerson ernst, »wollen Sie mir einmal Ihre Hände zeigen?«

Wallack hielt sie ihm etwas erstaunt hin. Emmerson nahm sie und studierte sie einige Minuten, besonders eingehend betrachtete er die Zeigefinger jeder Hand.

»Sie sind übrigens auch ein geschickter Taschendieb,« sagte er, und Wallack schaute ihn überrascht an.

»Woher wissen Sie das?« fragte er, und Emmerson lächelte. »Von der Form Ihrer Zeigefinger, sie haben den richtigen Schwung. Nun öffnen Sie ihren Mund!« fügte er hinzu.

Wallack tat es und zeigte zwei Reihen gleichmäßiger, weißer Zähne. Dann studierte Emmerson die Ohren, und zum Schluß tastete er den Schädel des Mannes ab.

Kay und der Inspektor beobachteten ihn neugierig und konnten sich eines leisen, spöttischen Lächelns nicht erwehren.

Emmerson trat einige Schritte zurück und betrachtete Wallack nachdenklich.

»Haben Sie Camden Hale erwürgt?« fragte Emmerson plötzlich.

»Nein,« antwortete Wallack fest.

»Warum töteten Sie Bill Scarfe?«

»Das tat ich nicht. Ich kannte ihn überhaupt nicht.«

»Dann haben Sie aber Comstock erstochen?«

Conway Wallack schüttelte den Kopf. »Sie haben den Falschen gefaßt,« sagte er ruhig und richtete die Augen auf Emmerson.

Emmerson lächelte: »Comstock wurde nicht erstochen, er wurde erschossen. Sie scheinen das nicht bemerkt zu haben.«

»Das ist alles,« wandte er sich an Bromley Kay.

Erst als sie im Zimmer saßen, beantwortete Emmerson die Fragen des erstaunten Inspektors und des skeptischen Kommissars.

»Wenn Sie glauben, daß Sie den ›Würger‹ gefaßt haben, sind Sie sehr im Irrtum. Der hier hat niemals einen Mord begangen. Das kann ich beschwören. Er hat nicht die Zähne danach, ebensowenig die passende Schädelform.«

»Warum richteten Sie denn die Fragen über die Morde an ihn?« erkundigte sich der Inspektor aufmerksam.

»Um zu sehen, ob er unbefangen die Wahrheit sagen könne.«

»Und konnte er es?« Es lag leichter Spott in Bromley Kays Frage.

»Ja, Sie haben es ja mit angehört, Sie hätten es selbst wahrnehmen müssen. Haben Sie seine Hände beobachtet? Sie krampften sich zusammen, als ich ihn des Mordes an Camden Hale bezichtigte. Das ist ein gutes Zeichen. Es ist unmöglich, daß ein Mensch eine Lüge spricht, während er seine Hände zusammenpreßt.«

»Vielleicht haben Sie recht,« schloß Bromley Kay gleichgültig. Er glaubte nicht an all dies Zeug, und außerdem hatte er zu George Emmerson überhaupt kein Vertrauen.

Aber er bekam den ersten großen Schreck, als er am nächsten Tage einen Brief erhielt. Er war in der gleichen unbestimmbaren Schrift geschrieben, die er schon so gut kannte. Der Brief lautete:

»Sie haben den Falschen gefaßt. Conway Wallack ist auf keinen Fall mit mir zu verwechseln.«

Er war unterschrieben: Der Würger.

*

Zu jedem Amerikadampfer, der einen Hafen an der Südküste Englands verläßt, bringt ein bestimmter Zug spät abends die letzten Passagiere aus London.

Häufig führt dieser Zug große Goldsendungen mit sich, die aus irgendeinem Grunde nach New York verschifft werden sollen. Der Transport ist meistens nicht stark bewacht; denn die Gefahr ist nicht sehr groß. Schwere Kisten mit Gold können nicht so schnell fortgeschafft werden. Der Transport findet ganz unregelmäßig statt, und selten weiß außer denen, die unmittelbar daran beteiligt sind, jemand das Datum des Transportes im voraus.

Diesmal wurde die Verschiffung ebenso unauffällig ausgeführt wie sonst. Man war durch Erfahrung zu der Überzeugung gekommen, daß die offene Art des Transportes am wenigsten Aufsehen erregte. Die Kisten standen bewacht an ihrem gewöhnlichen Platz im Gepäckwagen. Der ganze Unterschied bestand darin, daß sich außer dem Zugführer ein bewaffneter Detektiv im Wagen befand.

Auf der siebzig Meilen langen Strecke hatte der Zug keinen Aufenthalt. Als der Zug jedoch ungefähr den halben Weg zurückgelegt hatte, wurde er angehalten; man entdeckte, daß Zugführer und Detektiv tot am Boden des Wagens lagen. Die Goldkisten waren verschwunden.

Der Mann, der den Zug angehalten hatte, sprang hustend von der Tür des Wagens zurück, er war vollkommen mit einem beißenden Gas angefüllt. Obgleich die Tür offen gewesen war, hatte es noch nicht genügend Zeit gehabt abzuziehen.


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