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Die von den Jahren 1870 und 1920 umschlossene Geschichtsepoche bietet ein ungeheures Gemälde deutschen Daseins und bürgerlicher Welt. Aufstieg und Fall, Glück und Zerstörung, Verwirrung und Schuld, Sieg, Übermut und Niederlage. Das Auge ist erschreckt von der Verschlungenheit und Breite des Geschehens, und die Hand, die es formen will, erschlafft mutlos, denn welche Figur immer sie zu greifen, welches Gesicht immer sie sich anschickt festzuhalten, es bleibt beim Einzelnen und Zufälligen. Das gültige Zeugnis, der aufschließende Sinn des Verlaufes scheint hier wie nirgends in den Zusammenhängen zu liegen, eben in der Wirrsäligkeit der Schicksale und gedrängten Vielfältigkeit der Bilder.

Vielleicht zu keiner Zeit sind Menschen so wissend und zugleich so ahnungslos, so zweckbeladen und so entherzt, so von Täuschungen umgittert und ohne Stern den Lebensweg entlang gerast wie die zwei oder drei Generationen dieses halben Jahrhunderts. Es ist, als stürmten sie mit Anspannung aller Nerven- und Geisteskraft, in erbittertem Wettlauf steil gegen einen Gipfel hinauf, und oben, von der wütenden Bewegung weitergetrieben, obgleich sie den tödlichen Abgrund vor den Füßen erblicken, gibt es kein Halten mehr: die Vordersten schaudern noch, die entfesselte Menge hinter ihnen hört nicht einmal den Angst- und Warnungsschrei, und alles stürzt in die Tiefe.

Wer zurückschaut von den Überlebenden, dem erstarrt das Blut in den Adern. Noch bindet ihn die Nähe, das Echo zittert noch, aus dem Todeskessel steigen Seufzer auf, er will die Fügung ergründen, um jeden Preis, er möchte seine unsterbliche Seele hingeben für einen Augenblick der Erleuchtung, es ist wie ein flehendes Hinauflangen zu Gott, seine Lippen flüstern das ewige unbeantwortete Warum.

Der Chronist, über seinen Dokumenten grübelnd und entschlossen sich demütig zu beugen vor der Unerforschlichkeit der Rätsel, die die Gesamtheit der menschlichen Dinge darbietet, um so einschüchternder, wenn sie in seinen Tag und seine Gegenwart spielen und er den Leidensweg selbst gegangen ist, auf den er den besinnenden Blick zurückwendet, glaubte sich durch eine Erscheinung von jener deutenden Art begnadet. Es erschien ihm eine Gestalt, in der er etwas wie einen Kronzeugen sah oder spürte. Sie zog ihn an und er folgte ihr besessen; zuerst nur trüber Schatten, kaum unterschieden von Tausenden, gewöhnlich, niedrig, dumpf und höchst erdenhaft, strahlte sie plötzlich in einer Glut, die die ganze Sphäre erhellte, den Gang der Begebenheiten verständlich und geheime Verkettungen offenbar machte. Sie selbst erklärte nichts; das ist nicht die Art solcher Gebilde; sie verharren auch als weisende Geister in ihrem einmal für immer angewiesenen Lebenskreis; sie entfalten sich nur durch ihr Tun und Sein.

Ein Seltsames lag in der Verkündigung dadurch, daß es ein zweigeteilter Spiegel war, in dem sie dem Beschauer sich und ihr Schicksal und ihre Zeit und ihre Welt zeigte; im einen Spiegelteil die Jugend, im andern unvermittelt und ohne Zwischenbilder das Alter. Eine Brücke in der Finsternis verband die beiden; dreieinhalb Jahrzehnte waren wie ein Hauch; dieselbe Sonne stand noch am Himmel, derselbe Leib wandelte noch, aber das Geschick erfüllte sich.


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