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Als sie in das Arbeitszimmer zurückkehrte, war ihr Entschluß gefaßt. Sie drückte auf die elektrische Klingel und blieb unbeweglich stehen, bis Fräulein Schönpflug erschien, ihre Haus- und Gesellschaftsdame, Faktotum auch in äußeren Angelegenheiten.
Sie schrieb die Adresse auf einen Zettel und sagte mit ihrer erloschenen Stimme und dem hilflos irrenden Blick: »Ich bin benachrichtigt worden, daß dort ein von seinen Eltern verlassenes Kind ist. Es muß heute noch abgeholt werden. Ein neunjähriges Mädchen. Fahren Sie also gleich hinaus, Elisabeth, und nehmen Sie es mit. Es kann einstweilen beim Hausverwalter unten einlogiert werden. Morgen früh rufen Sie das Dornbacher Heim an und fragen Sie, ob ein Platz frei ist.«
Das Dornbacher Heim war eine der großen Stiftungen Josephes, Asyl für die Töchter ehemaliger Offiziere, reich dotiert, mit Gymnasialunterricht. Außerdem hatte sie noch ein Invalidenheim und ein Waisenhaus eingerichtet und erhielt diese Anstalten mit bedeutenden Geldopfern. Infolge der wachsenden Teuerung wurden aber alle ausgesetzten Mittel zu knapp, und hiedurch war sie unablässiger Sorge preisgegeben.
Da Fräulein Schönpflug zögerte und verstohlen auf die Uhr sah, es war schon spät, fügte Josephe hinzu: »Gut. Das ist alles. Berichten Sie mir in jedem Fall, wie Sie das Kind angetroffen haben. Ich werde warten.«
Fräulein Elisabeth wagte keinen Widerspruch. Hätte sie nicht den größten Teil der verflossenen Nacht damit zubringen müssen, ihrer Gebieterin vorzulesen, so hätte sie den Auftrag williger befolgt. Derlei Gänge zu abendlicher Stunde waren nichts Seltenes, und die Baronin stellte bisweilen schwierige Anforderungen an die in ihrem Dienste Stehenden. Es handelte sich meist um Kinder in gefährdeter Lage. Von verlorenen und verlassenen Kindern war die Stadt voll. Wie ein Orkan Schiffstrümmer an die Küste, so spülte die Zeit aus ihrem gurgelnden Strudel die jungen Seelen aufs Pflaster.
Als Elisabeth den Namen Heinroth las, stutzte sie. Zwar wußte sie nichts Bestimmtes; sie war erst vier Jahre im Haus; um die Vergangenheit der Herrin war Schweigen; doch von irgendwelchem Hörensagen war ein erinnernder Schall geblieben. Sie beschloß, den alten Kasimir auszuforschen, der, mehr Majordom als Diener, zu dessen Frau sie auch das Kind bringen sollte, bereits fünfundzwanzig Jahre und noch zu Lebzeiten des Barons seinen Posten versehen hatte.
Die Gespanntheit und der ruhlos flackernde Blick der Herrin veranlaßten Fräulein Schönpflug zu der sanften Mahnung: »Frau Baronin sollten schlafen gehn. Frau Baronin sind übermüdet. Ich werde gewiß alles aufs beste besorgen.«
»Ach schlafen«, warf Josephe tonlos hin; »vielleicht wäre es gut, zu schlafen, aber wie ist es möglich? Wie können Menschen schlafen in einer solchen Welt!«
Eigentümlich verstummt innen, während Stunde auf Stunde abklang, wartete sie auf die Rückkehr des Fräuleins, und es war nahe an Mitternacht, als es an der Tür pochte und Elisabeth eintrat, schüchtern und belebt. Ihr unschönes Gesicht war förmlich aufgefrischt, in den sonst farb- und ausdruckslosen Augen war ein heiterer Glanz. Sie sah aus wie nach einem eifrigen und lustigen Gespräch, wie nach einer ungewöhnlich aufmunternden Erfahrung. Josephe wandte den zaghaft-prüfenden Blick rasch von ihr ab, denn sie fürchtete jedes der noch nicht gesprochenen Worte. Sie mißtraute aller freudigen Bewegung; sie glaubte an Freude nicht, und in dem Geschehnis dieses Abends lag für sie nur Drohung und lebensalter Schmerz.
Elisabeth meldete zunächst, sie habe das Kind mitgebracht und, wie befohlen, bei Kasimirs Frau, die sie vorher verständigt, abgegeben. Frau Baronin habe zu wissen verlangt, wie sie die kleine Fanny angetroffen habe. Durchaus nicht, wie man vielleicht denken sollte, als das unglückliche Wesen, das sich in Gram über seiner Eltern Flucht verzehrt, durchaus nicht. Hier winkte Josephe scheu ab, als sei sie nicht darauf erpicht, mehr zu hören, aber Elisabeth übersah die Gebärde und verfiel in ein kleines, vom Untergebenenstandpunkt aus unanfechtbares Lachen. Es scheine nicht, fuhr sie fort, als ob das Verhältnis zu Vater und Mutter ein besonders inniges sei, namentlich zur Mutter nicht; im Gegenteil scheine das Kind weder Zärtlichkeit und Sorgfalt erfahren, noch Liebe und Zutrauen geschenkt zu haben.
»Ich verstehe Ihre gehobene Stimmung nicht, Elisabeth«, sagte Josephe stirnrunzelnd, »ich verstehe das wirklich nicht.«
»Es war so seltsam, Frau Baronin«, entschuldigte sich das Fräulein und bemühte sich, die mißfällig bemerkte Angeregtheit zu dämpfen; »alles war so überraschend; ich war nicht darauf vorbereitet. Ein seltsames Kind, eigentlich ein wunderbares Kind, wenn ich mir ein Urteil erlauben darf. Frau Baronin sollten das Kind unbedingt zu Frau Baronin kommen lassen. Ich sage nicht zu viel.«
Josephe erwiderte kalt: »Nein. Ich will es nicht sehen. Es hat auch keinen Zweck. Und nun gehen Sie zur Ruhe, Elisabeth. Sie können mir morgen erzählen, was Sie noch zu erzählen haben. Bei Tag nehmen sich die Dinge nüchterner aus.« Und sie dachte geringschätzig: solche muß ich um mich dulden, die weder Takt, noch Geist, noch Nerven besitzen; welche Pein. Dennoch hatte sie die treue und bescheidene Dienerin gern.
Was war es aber, wovon das etwas angesäuerte Fräulein Schönpflug zu Ausbrüchen einer für ihre Verhältnisse lärmenden Verwunderung und Heiterkeit getrieben worden war? Es kam nur nach und nach ans Licht, nur stückweise konnte sie der Herrin das Erlebte mitteilen, das am folgenden Tag, vor und während der Fahrt in die Anstalt, noch um einige charakteristische Einzelheiten vermehrt wurde. Josephe gab sich den Anschein der Gleichgültigkeit oder verstand es jedenfalls, ein Interesse, das sich widerwillig einstellte, zu verbergen. Hie und da lenkte sie ab, als sei sie gelangweilt von dem Thema, aber wenn Elisabeth, immer mit demselben Lächeln leisen Staunens, wieder davon zu sprechen begann, bequemte sie sich zum Zuhören, ohne daß sich in ihrem fahlen Antlitz eine Miene veränderte.
Es war halb elf gewesen, als Elisabeth in das bezeichnete Haus kam. Sie bat die Frau, die ihr öffnete, sie hinauf zu begleiten, denn sie dachte, das Kind schlafe bereits, und sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte. Aber als sie oben vor der Stubentür stand, schallte helles Gelächter heraus. Es waren die beiden Nachbarfamilien von links und rechts darin versammelt, ein Briefträgerehepaar mit zwei Mädchen und ein Setzer mit seiner Frau und drei Kindern. Fanny hatte den Abend abwechselnd bei ihnen zugebracht und war über die Maßen lebhaft und ausgelassen gewesen. Die Eltern Heinroth waren am Vormittag abgereist, und um dem Kind die Vorbereitungen zu verhehlen, hatten sie es am Abend vorher in die Wohnung einer Bekannten geführt, einer in der Nähe wohnenden Wäscherin. Als Fanny dann am Mittag zurückkehrte, fand sie einen Brief des Vaters mit etwas Geld darin und der Mahnung, sich nicht zu ängstigen, sie werde alsbald abgeholt werden und in ein schönes Haus kommen. Da weinte sie ein wenig, war aber gleich wieder ruhig. So der Bericht der Leute.
Als Elisabeth ins Zimmer trat, saß Fanny auf dem Tischrand, die Füße auf einem Stuhl, um die Schultern einen verschlissenen grünen Schal, den ihre Mutter zurückgelassen, und über den grünen verblaßten, löcherigen Schal fiel in quellender Flut das aufgelöste Haar wie ein blonder Katarakt herab. War schon dieser Anblick, vereint mit dem zarten ovalgeschnittenen, rosig überhauchten Gesichtchen in solcher Umgebung aufs äußerste überraschend, in der ärmlichen Stube waren nämlich bloß noch die nackten Wände und das Dürftigste an Mobiliar, so war es noch vielmehr die Korona der lauschenden und lachenden Zuhörer, darunter vier Erwachsene, denn Fanny, anstatt zu Bett zu gehen, wozu man sie endlich überredet und herübergebracht hatte, erzählte ihnen, was sie zu tun gedenke und daß es ihr Plan sei, nach der Insel Schweden sich durchzuschlagen, wo, wie man ihr gesagt habe, die Sonne das ganze Jahr nicht untergehe und den Kindern jeder Wunsch, kaum daß sie ihn genannt, erfüllt würde. Zum Beispiel gebe es dort Prinzen in Hülle und Fülle, die man heiraten könne, auch büken die Bäcker jeden Tag Semmeln, Fleisch sei im Überfluß vorhanden und kein Mensch trage zerrissene Schuhe. Sie wisse einen Ort, von welchem aus man mit dem Luftschiff hinfahren könne; um den zu erreichen, müsse man aber zehn Tage und zehn Nächte unaufhörlich wandern, und der Luftschiffer, der selber ein heimlicher Schwede sei, näme einen nur dann als Passagier auf, wenn man drei Fragen beantworten könne. Diese Fragen lauteten: wie sieht der liebe Gott aus? wo hat die Welt ein Ende? wie wächst ein Baum?
Dies alles begleitete sie mit erregten Gesten, der frische Mund lächelte über schneeweißen Zähnchen, die dunkelgrauen Augen sprühten wie Leuchtfeuer, und indes Elisabeth noch verblüfft auf der Schwelle stand, erhob sich Fanny, stellte sich auf den Stuhl und rief spöttisch: »Könnt ihr das beantworten? Wißt ihr nur eins von den drei Sachen? Seht ihr, wie ungebildet ihr seid. Da könnt ihr auch niemals auf die Insel Schweden kommen.« Es war nicht ganz leicht zu ergründen, weshalb die beiden Männer und beiden Frauen und außerdem die fünf Sprößlinge in wahre Salven von Gelächter ausbrachen; vielleicht dünkten sie sich in ein Theater versetzt; vielleicht war ihnen in ihrer Naivität dies alles so kitzelnd-fremdartig, Wort, Gebärde, Sinn und der ganze Zauber, der von der kleinen Person ausströmte; genug, sie wollten sich ausschütten vor Lustigkeit, und die Weiber quietschten förmlich. Elisabeth machte aber dem schnell ein Ende, indem sie den Zweck ihres Kommens verkündete. Fanny sträubte sich nicht im mindesten, mit ihr zu gehen. Sie nahm es als etwas Selbstverständliches, streifte den armseligen Prunkschal ab, stellte sich vor Elisabeth hin, sah ihr ernsthaft ins Gesicht und schlüpfte dabei in das dünne Stoffmäntelchen, das ihr die Tochter des Setzers reichte. Die Leute waren auf einmal wie beschämt still geworden, der jähe Abschied ging ihnen sichtlich nah, Fanny winkte allen zu, versprach, sie bald zu besuchen und trippelte munter mit ihrer Führerin die Treppe hinab. Es erwies sich, daß die Straßenbahn nicht mehr fuhr; sie mußten den weiten Weg zu Fuß gehn. Da begann Fanny zu fragen und zu plaudern, unermüdlich, voller Zutraulichkeit, das Klügste und Drolligste durcheinander, versuchte, es war eine helle Nacht, die Sterne über der Häuserschlucht zu zählen, nannte Namen von Menschen, Orte, wo sie gewesen, wollte wissen, ob man sterben müsse, wenn man drei Tage lang nichts esse, ob es dort schöne Geschichtenbücher gebe, wohin sie jetzt komme, schien dann doch müde zu werden und sagte halb lachend, halb seufzend, als sie eine etwas abschüssige Gaffe hinuntergingen: »Wie komisch; die Erde will, daß ich schnell gehe, und die Füße wollen, daß ich langsam gehe.«
Die Hausverwalterin hatte am Morgen händezusammenschlagend zu Elisabeth gesagt: »Was ist denn das für eine närrische kleine Hexe, die Sie mir da gebracht haben!« Bis gegen zwei Uhr war Fanny munter gewesen, hatte tausenderlei zu wissen begehrt und immer wieder neugierig nach der Frau Baronin gefragt, der das schöne Haus gehörte; wie sie aussehe, was sie tue und wie alt sie sei. Als das Kind endlich eingeschlummert, habe sie ihren Mann gerufen, damit er es im Schlaf betrachten könne, denn sie lag in den Kissen wie ein Engel. Da die Vorsteherin des Heims sich erbötig gemacht hatte, den Schützling Josephes sogleich aufzunehmen, hatte Elisabeth ungesäumt alles dafür vorbereitet. Von dem Bad und der Ankleidungsszene konnte sie nicht genug erzählen; der wunderbare schlanke kleine Körper; Schultern, Hände, Füße einer Miniaturvenus; dies Plätschern, Lachen und Zwitschern; die erstaunliche Pracht der mattgoldenen Haare, als sie mit vieler Mühe gewaschen und getrocknet waren; der Jubel dann über die neue Wäsche, das neue Kleid, dieses Glück, unter dessen Wucht sie auf einmal still und andächtig wurde. Draußen im Heim hatte Elisabeth sie der Oberin besonders ans Herz gelegt; sie hoffte, damit den Absichten der Frau Baronin nicht vorgegriffen zu haben. Sie sagte, sie habe sich schwer von Fanny getrennt, und legte bei diesen Worten ein Gefühl an den Tag, das Josephe übertrieben finden wollte; sie bat sogar um Erlaubnis, das Kind von Zeit zu Zeit besuchen zu dürfen. Josephe konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen, blieb aber zurückhaltend; sie dachte: Strohfeuer hat kurzen Bestand, und äußerte, man müsse erst warten, wie sich das Mädchen in der Anstalt führe und welche Auskunft man bekomme, übrigens habe man sein Augenmerk noch auf viele andere zu richten und an Geschäften sei kein Mangel. Elisabeth schüttelte den Kopf; sie fand ihre Herrin auffallend hart.
Doch so war es natürlich nicht in Wirklichkeit. Josephes Stimmung war unendlich gedrückt. Allgemeine Trauer über den Zustand der Dinge, von dem sie bessere Kenntnis hatte als irgendeine Frau ihrer Klasse, war vermehrt durch ein Besonderes, von dessen Beschaffenheit und Einfluß auf ihr Leben sie sich nicht Rechenschaft zu geben getraute und das ihr Gewissen beunruhigte. Die Vorstellung des Geschehenden ging bei ihr über die Grenze der Selbstbewahrung, und sie stand eigentlich in der Welt mit einem vor Angst und Abscheu zerfleischten Herzen. Es war ein Fehler des Schauens und Empfindens dabei; durch die vielfachen Erfahrungen menschlicher Bedrängnis, bei denen sie täglich helfend eingriff, obgleich sich täglich die Aussicht auf Beseitigung auch nur kleiner Übel verminderte, war ihr Gemüt überlastet. Sie hatte in ihrem Dasein bloß seelische Not gekannt, allertiefste freilich: die physische summierte sie nun dazu und schloß sie in dumpfer Verantwortlichkeit in ihre Brust mit ein. Sie unterschied nicht mehr, verteilte nicht mehr, und der Niederbruch der Existenzen, die beständige Zeugenschaft von Zerstörung und Verzweiflung in diesen letzten Jahren räderte sie gleichsam bei lebendigem Leibe, so daß sie sich kein Aufatmen mehr gestattete, auch wenn sie hätte aufatmen dürfen, keinen lichten Gedanken, kein inneres Erschlaffen und außer der Musik, die sie mit der ganzen Kraft ihrer hoffnungslosen Einsamkeit liebte, auch keinen Genuß.
Ihre Leute bekamen es zu spüren, und jetzt doppelt in ihren zerrüttenden Zweifeln. Sie war hinter jedem einzelnen her und hatte hundert Dinge anzuordnen, die im Grunde überflüssig waren. Nur tätig sollten sie sein, ihre Plicht erfüllen, zur Verfügung stehn. Dabei vergaß sie oft die Gesichter, die Eigenschaften, die Befugnisse, die Namen dieser Menschen, widerrief Befehle, die sie gegeben, befahl, was sie eben widerrufen, klagte, wie schlecht sie bedient sei, während alle sich auf ihren Wink die Füße abliefen, und war von allen zugleich gefürchtet und verehrt, verwünscht und bemitleidet.
Fräulein Schönpflug ließ keinen Tag verstreichen, ohne sich nach Fannys Befinden und Verhalten zu erkundigen, und wenn sie ein paar Stunden erübrigen konnte, fuhr sie selbst hinaus oder verschaffte sich listig einen Vorwand, um in Josephes Auftrag das Heim zu besuchen. Josephe durchschaute ihre Beweggründe wohl, hütete sich aber, von Fanny zu sprechen. Sie verließ sich auf Elisabeths Mitteilsamkeit, doch diese, sei es, daß sie sich ärgerte über den von ihrem eigenen Enthusiasmus so grell abstechenden Teilnahmemangel der Baronin, sei es, daß sie in ihrer betonten Bescheidenheit des Guten zuviel zu tun fürchtete, sei es schließlich, daß sie die Herrin reizen und es darauf ankommen lassen wollte, zum Reden aufgefordert zu werden, verfiel von einem gewissen Tag ab in beharrliches Schweigen. Sie beobachtete, aber sie war nicht sehr klug und zog falsche Schlüsse; Kasimir hatte ihre Neugier nicht zu befriedigen vermocht oder, gewiegter Diplomat, der er war, schützte in betreff des Namens Heinroth Unwissenheit vor.
Eines Abends geschah es dann, daß Josephe in beiläufigem Ton fragte, ob Fanny Verwandte in der Stadt besitze, ob ihr davon etwas bekannt sei und ob sie sich darüber geäußert habe. Elisabeth verneinte, und zwar so rasch und unbefangen, daß in Josephe kein Zweifel war, man habe das Kind wirklich über seine Abstammung im Dunkel gelassen. Das erleichterte sie sehr.
Eine Weile verging, dann fragte sie weiter, wie es Fanny gehe? O, es gehe ihr vortrefflich, war Elisabeths hurtige Antwort. Ob sie gern im Heim sei? Sehr gern, Frau Baronin, wenigstens soviel man urteilen könne. Was die Majorin, was die Lehrerinnen, was die Kameradinnen über sie sagten? Das Verschiedenste, Frau Baronin, wirklich das Allerverschiedenste, man könne sich keine weiter auseinandergehenden Meinungen denken. Wieso das? fragte Josephe verwundert, sei sie also doch kein solcher Ausbund prächtiger Eigenschaften, wie Elisabeth zu Anfang geglaubt? habe sich die Enttäuschung bereits eingestellt? Gewiß nicht, Frau Baronin, da irrten Frau Baronin gewaltig; aber Fanny sei ein Wildfang; sie ertrüge Fesseln schwer; wenn jemand seine Würde oder sein Recht ihr gegenüber zu stark hervorkehre, bemächtige sich ihrer eine respektlose Spottsucht; lernen wolle sie, aber frei; gehorchen wolle sie, aber aus Einsicht; alle liebten sie, aber manchmal bringe sie die ganze Anstalt durcheinander, und sie habe schon empfindliche Strafen erdulden müssen, demütigende Strafen, unter denen sie leide.
Damit war das Gespräch zu Ende, und Josephe schaute vor sich hin mit dem nervösen Zucken der Lider, von dem Elisabeth wußte, daß es auf angestrengte Gedankenarbeit deutete. Es war genug weiblicher Instinkt in ihr, daß sie eine mit Willensmacht verschlossene Qual spürte. Sie forschte und forschte und sann und sann, doch der richtigen Fährte, die sich ihr mehr als einmal bot, folgte sie nicht, vielleicht aus Rücksicht bloß. Sie schreckte davor zurück, den Vorhang zu heben, den Josephe, sie mußte wohl wissen warum, vor ihr Leben gezogen hatte. Denn sie vergötterte ihre Herrin im Grund ihrer einfachen Seele.
An einem andern Abend, beim Tee, begann Josephe abermals zu fragen; ziemlich unerwartet. Sie hatten beide die Verrechnungen der drei Anstalten geprüft, und Josephe hatte zum Schluß schmerzlich bewegt ausgerufen, wenn es so weitergehe mit den Preisen und Löhnen, müsse sie in einigen Monaten die Zuschüsse einstellen. Elisabeth hatte zaghaft erwidert, Frau Baronin habe ja jetzt mit Herrn Valerian de Groot korrespondiert, und er habe ihr zugesichert, sein Konzert zugunsten ihrer Institute abzuhalten; man könne doch erwarten, daß ein so berühmter Künstler sich als hinlänglich zugkräftig erweisen würde, um dem wohltätigen Zweck eine beträchtliche Summe zu gewinnen. Josephe sagte achselzuckend, das sei alles zu wenig; sei es heute viel, morgen sei es zu wenig; ihr sei zumut wie einem, der sich aus dem Sumpf herausarbeiten wolle und bei dieser Anstrengung immer tiefer drin versinke. Darauf hatte sie geschwiegen, und dann hatte plötzlich wieder das seltsame, bohrende, eigensinnige Fragen über Fanny angefangen.
Elisabeth habe doch nun Zeit und Gelegenheit gehabt, sich ein Urteil über Fanny zu bilden (nie sprach Josephe den Namen Heinroth aus, das war Elisabeth schon aufgefallen); ob sie ihr nun etwas Stichhältiges über die Charakterbeschaffenheit des Kindes zu sagen vermöge, etwas Abschließendes, woraus man sich ein Bild machen könne.
Elisabeth überlegte. Das einfachste wäre, sie ginge selbst hin und sähe sich das Mädchen an und verschaffte sich an Ort und Stelle Klarheit, dachte sie; warum tut sie das nicht? was hindert sie? Der Unwille zwang sie, mit gesenktem Kopf zu antworten. Was Frau Baronin von ihr verlange, sei nicht leicht; sie verstehe sich nicht so genau auf Menschen, sie könne kaum ihre Eindrücke wiedergeben.
»Nun, ich will Ihnen helfen«, sagte Josephe; »finden Sie sie leichtsinnig?« Elisabeth preßte den silbernen Teelöffel an ihre Wange und stotterte. »Oder eitel und flatterhaft?« Elisabeth zog ratlos die Brauen hoch. »Lügt sie?« fragte Josephe auf einmal herrisch und ungeduldig. Da errötete Elisabeth und versetzte erschrocken: »Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, sie ist zu stolz dazu.« Josephe lehnte sich im Sessel zurück, blickte zur Decke und fuhr hartnäckig in ihrem Verhör fort. »Ist sie bildungsfähig?« Elisabeth erwiderte unsicher: »Meinen Frau Baronin, ob sie fleißig lernt? Ja, ganz ungewöhnlich fleißig, obwohl sie zuweilen mal mit offenen Haaren auf einen Baum klettert und sich recht ungebärdig oben aufführt, recht disziplinwidrig, wie Frau Majorin behauptet; die Haare offen zu tragen, hat man ihr streng verboten, und jeden Tag übertritt sie das Verbot; leider.« Elisabeth, aus einem ihr selbst nicht faßlichen Grund, war dem Weinen nah. Josephe beachtete es nicht; sie beugte sich vor, ergriff Elisabeths linke Hand beim Gelenk, drückte sie so heftig, daß jene erblaßte, und fragte eindringlich: »Hat sie Herz? Ist alles was sie treibt und was Sie mir so redselig anpreisen amüsante Komödie, Sie wissen, auch Kinder spielen Komödie, oder hat sie Herz?«
Elisabeth fing den Blick der unruhigen glanzlosen Augen wie hypnotisiert auf und antwortete ängstlich: »Ich weiß es nicht, Frau Baronin. Lieber würde ich aus dem Fenster springen, als daß ich Frau Baronin wissentlich etwas Falsches sage. Ich weiß es bei Gott nicht. Ich weiß nur, es ist ein richtiges blühendes lebendiges Menschenwesen, bei dem man fühlt, daß man selber ein Herz hat.«
Josephe erhob sich und ging zum Fenster. Die Antwort hatte ihr gefallen. Sie stand lange stumm, dann kehrte sie zum Tisch zurück und sagte: »Schön. Wir werden sehen. Ich will hinausfahren und sie kennen lernen. Aber noch nicht sogleich«, wehrte sie schwach lächelnd eine freudige Bewegung Elisabeths ab, »noch nicht morgen und übermorgen. Ende nächster Woche ist de Groots Konzert, dafür haben wir noch manches zu regeln; danach will ich mich entschließen.« Sie machte eine Pause und fügte mit eigentümlich durchzitterter Kälte hinzu: »Vielleicht, meine liebe Elisabeth, ist es überflüssig, Ihnen zu erklären, warum das alles so sonderbar und unnatürlich ist. Ein wenig Scharfsinn und ein Wort von irgendeinem, und es liegt offen zutage. Darüber reden kann ich nicht. Und schauen Sie mich auch nicht so an, wie Sie mich jetzt anschauen; das ist schon zuviel. Man muß genau das verbergen können, was man Schmerzliches vom andern weiß.«
Da schlug Elisabeth die Augen nieder.