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In den drei Tagen, die Ulrike ihren Freunden fern geblieben war, hatte man zweimal bei ihr nachfragen lassen, ob sie krank sei. Am letzten Tag hatte sich auffallenderweise auch Herr Mylius durch den blaubebrillten Herrn Schmidt erkundigt. Ulrike sah, daß sie eine wichtige Person geworden war, und verstattete sich um so mehr Muße. Jetzt durfte nichts überstürzt werden.
Um die Stimmung vorzubereiten und den Boden zu ebnen, hatte sie sich entschlossen, zuerst die älteren Schwestern und Lothar einzuweihen. In allgemeinen Umrissen bloß. Völlige Aufklärung, soweit sie nicht durch die Ereignisse herbeigeführt wurde, konnte später erfolgen. Einstweilen hatten sie nur die für den Feldzug erforderliche Rückendeckung zu bilden.
Josephe war auszuschließen, das stand fest. Auf Josephe war kein Verlaß. Man hatte Eingriffe von ihr zu fürchten, die das Unternehmen gefährden konnten. Man mußte vor ihrer Gewissenhaftigkeit auf der Hut sein. Am besten war es, sie wurde im Lauf der Entwicklung von Christine belehrt, natürlich erst, wenn Christine endgültig gewonnen war und die Gewalt der Tatsachen ihr keine Umkehr mehr erlaubte.
Am Sonntag vormittag bestellte sie Esther, Aimée und Lothar in den Burggarten. Da es schönes Wetter war, nahmen sie selbviert auf einer abgelegenen Bank Platz, und die Geschwister, durch das mit Absicht geheimnisvolle Wesen Ulrikes erregt, warteten, was da kommen würde. Ulrike saß zwischen beiden Mädchen, hielt in jeder Hand eine ihrer Hände, und die Augen hielten Lothar.
Sie sagte, daß sie sich nicht wundern sollten, wenn sich jetzt die Umstände für sie bedeutend veränderten; durch einen langgehegten Verdacht geleitet, habe sie die Entdeckung gemacht, daß die Vermögensverhältnisse ihres Vaters den bürgerlichen Durchschnitt weit unter sich ließen und es ihnen daher ermöglicht werde, das Leben von nun ab in ganz anderer Form zu führen, freier, sorgloser und glücklicher. Der traurigen Kleineleut-Engigkeit enthoben, dürften sie an die Befriedigung ihrer Herzenswünsche denken, und was gestern noch ein unerfüllbarer Traum gewesen, könne morgen oder übermorgen schon Wirklichkeit sein. Mehr könne sie ihnen zur Stunde nicht verraten, und auch für dies müsse sie strenge Verschwiegenheit verlangen; ein vorschnelles Wort, und alles sei zunichte. Schritt um Schritt nur, mit äußerster Vorsicht, könne sie, niemand auf der Welt als sie, das Große für sie alle erreichen und sie rechne auch, wie der verantwortliche Leiter einer schwierigen Expedition, auf ihren Gehorsam.
Die drei hörten mit leuchtenden Augen zu, aber Ulrikes Eröffnung war zu unbestimmt, als daß sie sich ein Bild hätten machen können. Es war ein wenig zu märchenhaft. Ulrike wollte sie auch im Unbestimmten lassen. Es genügte die Erwartung und die Fügsamkeit. Was sie forderte, wurde versprochen und mit Handschlag bekräftigt. Sie trug ihnen auf, der Mutter zu sagen, daß sie gegen drei Uhr zu einer Unterredung käme, die wahrscheinlich lang dauern würde, sie solle sich also nichts anderes vornehmen. Auch diese feierliche Ankündigung geschah mit Absicht. Zudem war ihr bekannt, wie Mylius den Sonntagnachmittag zu verbringen pflegte; um drei unternahm er einen zweistündigen Spaziergang, und von fünf bis sieben saß er in seinem Kaffeehaus. Sonach hatte man Spielraum und war ungestört.
»Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt, liebste Ulrike?« rief ihr Christine zu, als sie ins Schlafzimmer trat.
»Sind wir hier sicher?« fragte Ulrike. Sie verriegelte beide Türen und ging dann, ohne Hut und Mantel abzulegen, die Hände im Muff, dessen Pelzhaare Spuren von Mottenfraß aufwiesen, mit Schritten wie ein Mann auf und ab. Sie hatte Lampenfieber. Endlich warf sie Muff, Hut und Mantel auf einen Sessel, setzte sich Christine gegenüber und begann mit dunkelgurrender Stimme, die starken und wichtigen Momente scharf hervorhebend, wortgetreu zu erzählen, was zwischen ihr und Mylius vorgegangen war.
Aus Christines Gesicht wich langsam alle Farbe. Sie saß am Fenster und rührte sich nicht. Die hübschen kleinen Hände hielten die Stuhllehne umkrampft. Mit runden Augen, in denen sich Entsetzen, Unglauben, kindliches Staunen spiegelte, lauschte sie. Als Ulrike fertig war, brach sie plötzlich in anhaltendes Schluchzen aus. Sie preßte die Hände vors Gesicht und bemühte sich, draußen nicht gehört zu werden.
Ulrike ließ sie eine Weile weinen. »Schön«, sagte sie dann, »genug damit. Das haben wir hinter uns. Das verschluckte Elend hat sich Luft verschafft. Jetzt beginnt eine neue Zeit. Nach Regen kommt Sonnenschein. Schluß mit den Tränen.«
Sie erhob sich und indes sie wieder durch das Zimmer marschierte, fuhr sie fort: »Man hat nun den wünschenswertesten Einblick. Man ist beispiellos betrogen worden. Betrogen um alles, was das Leben an Annehmlichkeiten und Erleichterungen bietet; betrogen um den tröstlichen Blick in die Zukunft, um tausend und aber tausend geringe Freuden, die harmlos sind, aber die Seele jung erhalten und den Geist kräftig. Betrogen um Freundschaft mit Menschen, um unbefangene Geselligkeit, um Geben und Schenken und Beschenktwerden und Heiterkeit und Lachen und Licht und Wärme. Man war ein geschundenes und geduldetes Lasttier, wegen jeder schäbigen Differenz im Wirtschaftsbuch verdächtigt, mußte seine bessere Erziehung und Abstammung verleugnen, mußte bittstellig werden, wenn ein Kind erkrankte, ob man auch den Doktor rufen dürfe, hat sich und den Seinen jeden billigen Wunsch versagt, weil man doch geglaubt hat, daß es auf den Kreuzer ankam, und ist unter der häuslichen Plackerei vor der Zeit zusammengebrochen und gealtert. So liegen die Dinge, und das ist ja schließlich zum Weinen. Ein Mann, der seine Frau mit andern Frauen hintergeht, handelt vielleicht schuftig; ich sage vielleicht, weil man nicht wissen kann, ob die Frau nicht auch ihr Teil Schuld trägt oder ob sie nicht am Ende froh ist, Ruhe vor ihm zu haben. Jedenfalls ist es ein Schmerz, den man verwindet, und ein Verbrechen, das man verzeihen kann. Was aber Ihnen dieser Mann angetan hat, dafür gibt es meiner Ansicht nach kein Verzeihen und kein Vergessen, denn es ist eine Summe von kleinen Erniedrigungen, von kleinen hämischen bösartigen fortgesetzten Quälereien, die überflüssig waren; und nur ein ausgemachter Teufel kann Menschen überflüssig quälen. Und warum überflüssig? Weil ein Tausendstel, ein Zehntausendstel seines erhamsterten Reichtums genügt hätte, Ihnen die jämmerlichen täglichen Nadelstiche zu ersparen und das Gefühl dazu, ausgenutzt worden zu sein bis aufs Knochenmark und mit fünfzig Jahren und vier Kindern dazustehen wie eine arme, geplünderte Närrin.«
Christine hatte sich wieder gefaßt und sah regungslos in die Luft. »Schreckliche Worte, die Sie da sprechen, Ulrike«, sagte sie, »und wie ich fürchten muß, wenn alles sich so verhält, wie Sie es schildern, leider auch wahre. Es dämmert mir nun manches, aber so Ungeheuerliches zu glauben fällt mir natürlich schwer. Man entschließt sich ungern, das ganze gelebte Leben wie einen schmutzigen Fetzen hinter sich zerstampft zu sehen. Die Augen wollen nicht. Daß ich an der Treue Ihres Berichts nicht zweifle, brauch ich nicht zu versichern, aber der Tatbestand selbst ist so unfaßlich, daß meine Vernunft sich weigert, ihn aufzunehmen.«
»Das ist es ja eben!« rief Ulrike und hob verzweifelt die Arme; »man kann es nicht fassen, man kann es nicht glauben. Ich hatte eigentlich vorgehabt, nicht mehr ins Haus zu kommen, sondern abzureisen, Ihnen ein Briefchen zu schreiben und zu verschwinden. Denn, was sich hier abspielt, noch länger mitansehen, das konnt ich nicht, und die Familie sozusagen in zwei feindliche Parteien spalten, das wollt ich nicht. Drei Nächte hab ich schlaflos zugebracht. Für eine Stimme, die mich warnte, mir die Finger nicht zu verbrennen, waren zehn, die mich an meine Pflicht mahnten. Durft ich Sie denn im Stich lassen? Ich sah Ihr liebes süßes versorgtes Gesicht vor mir, und die Mädchen erschienen jedes einzeln, und der Bub, der mir wie ein Bruder geworden ist; da wars entschieden, und ich sagte zu mir: Ulrike, keine blümeranten Ausreden, begib dich auf den Platz, wo dich dein Herz hinweist. Und da bin ich.«
Christine streckte ihr schweigend die Hand hin. »Wie ist es zu verstehen?« grübelte sie halblaut; »wie soll man es erklären und zurechtdenken?«
Ulrike ließ sich zutraulich auf den Schemel neben ihr nieder, ergriff ihre Hand, und indem sie die zart streichelte, sagte sie, daß ihr schon beim ersten Betreten des Hauses dies und das nicht habe gefallen wollen; alle hätten ihr sonderbar leid getan, die Frauen samt dem bis zum Ersticken gefesselten Knaben; dann habe sie Argwohn gegen Mylius geschöpft, habe ihn planmäßig beobachtet und sei aus Freundesliebe zur Spionin geworden, um den Mann soweit zu bringen, daß er sich ihr verriet. Nun wisse sies und habe es schwarz auf weiß gesehen, und die einzige Frage, die jetzt zu erörtern wäre, sei die, was Christine zu tun gedenke.
Christine wunderte sich. Was solle, was könne sie denn tun? Wenig. Nichts. Solange Mylius lebe, und sie wünsche ihm wahrlich nicht den Tod, und solange er sei, wie er sei, könne man nichts tun. Da Ulrike mit gesenktem Kopf schwieg und sie dies Schweigen fürchtete, fügte sie hinzu, es könne ihr doch kein Mensch auf Erden zumuten, daß sie nun vor ihn hintrete, um Geld von ihm zu fordern. Das ginge gegen allen Stolz. Dessen sei sie nicht fähig. Außerdem: auf welches Recht solle sie sich dabei stützen? Gäbe es ein solches Recht, so verschmähe sie es, sich seiner zu bedienen. Und was er Ulrike Aug in Aug und in einer wunderlichen Verblendung eröffnet, könne er ihr gegenüber rundweg leugnen; davor werde er gewiß nicht zurückschrecken, schon aus Zorn über Ulrikes Vertrauensbruch. Seiner ganzen Natur nach wie auch nach ihrer Erzählung sei anzunehmen, daß er auf ihre Verschwiegenheit felsenfest baue.
»Wer wird auch so dumm sein, Ihnen so was anzuraten«, entgegnete Ulrike, die den Ärger über die moralische Schwerfälligkeit der Freundin nur schlecht bemeistern konnte, »ein so reines Gemüt wie Ihres denkt bloß an die geraden Wege, wo die verschlungensten und listigsten kaum zum Ziel führen.«
»Welche also führen zum Ziel?« fragte Christine trüb lächelnd.
»Da muß ich zuerst wissen, ob Sie nach alledem noch gesonnen sind, dem Oger fünf lebendige Existenzen auf dem Altar seines Geizes zu opfern. Ob Sie ihm noch weiterhin die getreue unbezahlte Magd abgeben wollen. Noch jahrelang still zusehen wollen, wie er die Töchter um ihr Lebensglück bringt und den Sohn ans Halseisen schmiedet. Auch ich wünsch ihm nicht den Tod, Gott bewahre mich vor solcher Sünde; schon deswegen nicht, weil es wenig Zweck hat und der Tod in derlei Fällen schwerhörig zu sein pflegt. Davon kann ich ja ein Liedchen singen. Aber wenn Sie meinen, daß ich, während Sie vor Gram zerfließen, untätig dabeistehen und die Daumen drehen oder mitheulen soll, da kennen Sie eben Ulrike Woytich nicht. Da geh ich lieber auf und davon.«
»Man stirbt nicht an Gram, man lebt sich damit ein wie mit vielem andern«, erwiderte Christine resigniert. »Was hätte also nach Ihrer Ansicht zu geschehen?«
»Das will ich Ihnen erklären«, sagte Ulrike ruhig. Und sie begann, Christine die Ergebnisse ihres bisherigen Nachdenkens auseinanderzusetzen. Sie sprach mit der doppelt so alten Frau wie eine Lehrerin mit einem unerfahrenen Kind. Sie blieb zunächst vorsichtig und wagte nur anzudeuten, was in ihrem Geist schon umrissenes Gebilde war. Den kühneren und weiter hinausgreifenden Teil ihres Planes unterdrückte sie. Die Wirkung dessen, was sie zu fordern für gut fand, war ohnehin heftig genug. Der Satz, Geld sei in jeder beliebigen Menge leicht zu beschaffen, zumindest in der den Bedürfnissen angemessenen, stieß nicht bloß auf Christines Zweifel, sondern auch auf ihre Abneigung gegen Schuldenwirtschaft. Sie fürchtete Verwirrung, Zwist, falsche Maßregeln und Unrecht da und dort. Erlittenes konnte ihr Handeln nicht bestimmen. Ulrike kam nicht sehr weit mit ihr, aber sie hatte es vorausgesehen. Hier lag der schwierigste Teil der Aufgabe. Der Kampf wider die Anständigkeit verlangte tausend Finten und eine beständige Geistesgegenwart.
Als sie sich um halb sieben zum Aufbruch anschickte, war Christine durch all das Vernommene und nicht zu Ende Besprochene in einen Zustand nervöser Reizbarkeit und Ratlosigkeit versetzt. Ihr Blick, an Ulrike hängend, suchte sie zurückzuhalten; auf den Lippen lag eine Bitte. Ulrike sah es, zögerte, fragte. Da faßte sie Mut; ob Ulrike nicht bleiben, nicht im Hause nächtigen wolle. »Warum das?« erkundigte sich Ulrike verwundert, doch innerlich erfreut, denn eben das hatte sie angestrebt; sie hatte damit gerechnet und, ohne daß es Christine gemerkt, darauf hingearbeitet.
Christines hatte sich eine krankhafte Angst vor der ersten Begegnung mit Mylius bemächtigt. Sie hatte Angst, ihm alles ins Gesicht schreien zu müssen und die Beherrschung einzubüßen, die ihr zur zweiten Natur geworden war. Sie gestand es offen; zugleich begriff sie, daß es um jeden Preis verhütet werden mußte, der Kinder wegen, Ulrikes wegen, ihrer selbst wegen.
»Ich weiß, daß ich Sie dann verlieren würde, und ich will Sie nicht verlieren; alles, nur das nicht«, sagte sie, indem sie mit ruheloser Hand bald nach dem, bald nach jenem langte, einer Nadel, einer Schachtel, einem Stück Papier, oder die Finger an die Schläfen preßte; »alles, nur das nicht. Tun Sie, was Ihnen gut dünkt, aber bleiben Sie da, bleiben Sie in meiner Nähe, dann kann ich wenigstens im Notfall zu Ihnen flüchten. Wenn Sie da sind, lenken Sie auch die Aufmerksamkeit der Kinder von mir ab; die dürfen nicht ahnen, was jetzt in mir vorgeht.«
Ulrike nickte. Sie werde es einrichten, daß sie in den nächsten Tagen ganz im Haus wohnen könne, erwiderte sie, auch ihr scheine es das beste; Platz werde sich finden. Christine atmete auf. Mit liebevollen Mienen und treuherzig-ungestümen Gebärden sagte Ulrike, all dies Vorhaben brauche Zeit, Ausdauer und kaltes Blut. Es dürfe nichts versäumt, nichts überstürzt werden.
»Herr Mylius darf gar nicht auf den Gedanken kommen, daß etwas gegen ihn im Werk ist. Auf Auseinandersetzungen wird man sich erst einlassen, wenn man ihn vor unwiderrufliche Tatsachen stellen kann, denen er sich beugen muß. Ihn zu beleidigen, zu reizen, zu kränken, ist nicht der geringste Grund vorhanden, aber Kraft muß gegen Kraft stehen.«
Mit jedem Wort, das sie sprach, verfiel ihr Christine mehr. Es war eine angenehme Empfindung von Willensablösung, die sich in ihr vollzog. Quälende Spannungen lockerten sich und es schien ihr verstattet, sich einer langgespürten Müdigkeit endlich hinzugeben, weil ein starker Arm sich zu ihrem Schutz erhob.
Dennoch zeigte sie sich verstört, als ihr Ulrike zum Schluß wie beiläufig mitteilte, daß sie Esther, Aimée und Lothar schon unterrichtet habe, und sie mußte von neuem beginnen, sie zu beschwichtigen und eine Handlung zu rechtfertigen, die Christine unüberlegt und verderblich dünkte. Ulrike bestritt es. Sie sagte, sie habe gewußt, was sie getan, und könne es verantworten. Josephe habe sie wohlweislich nicht ins Vertrauen gezogen. Mit Josephe stehe es anders.
»Ja, mit Josephe steht es anders«, wiederholte Christine und senkte den Kopf.
»Nie wird sie begreifen, daß Aufrichtigkeit gut für die Aufrichtigen ist, daß sie aber den Winkelzüglern lauter Trümpfe in die Hand spielt«, sagte Ulrike.
»Sie meinen also, daß man gegen sie schweigen muß?«
»Es ist das einzige Mittel, sinnlose Redereien zu vermeiden. Bei der ersten schicklichen Gelegenheit wollen wirs ihr mundgerecht machen, aber dann müssen wir die grobe Arbeit schon hinter uns haben. Für Plaidoyers mit ihr ist jetzt keine Zeit.«
Christine war nicht überzeugt. Bei dem Verhältnis natürlicher Offenheit, das zwischen ihr und Josephe herrschte wie zwischen Altersgenossinnen, bedrückte sie der Zwang zur Heimlichkeit. Aber Ulrike zu widerstreben, war ihr bereits so unmöglich, wie sich dem Lauf einer Lokomotive entgegenzustellen.
Esther, Aimée und Lothar standen erwartungsvoll da, als Ulrike und Christine Arm in Arm das Zimmer verließen. Der gleiche gespannte, bewundernde Blick aus drei Augenpaaren war auf Ulrike gerichtet, der gleiche fragende dann auf die Mutter. Christine fühlte, da gab es kein Entrinnen mehr; diese wünschenden Herzen zogen sie ins Unabänderliche. Die Mitteilung Ulrikes, sie werde einige Tage im Hause wohnen, wurde mit Jubel aufgenommen. Josephe kam dazu, hörte es und bot Ulrike ihre Kammer an, in welcher ein zweites Bett bequem untergebracht werden konnte. »Sie sind ein Engel, Josephe«, rief Ulrike aus und umarmte sie; »aber Engel muß man duzen, also wollen wir uns du sagen.«
Lachend wies sie auf die eifersüchtigen Mienen von Esther und Aimée, auch Lothar senkte schmollend die Unterlippe. Es fand daher sogleich eine improvisierte Feierlichkeit des allgemeinen Duzens statt, die Christines Beifall hatte und sogar in Josephes ernste Züge ein liebliches Lächeln zauberte. Im Küchenkasten wurde eine Weinflasche mit einem Restchen Rotwein aufgestöbert, davon nippte jedes, und dann besiegelte Ulrike die Verschwisterung mit einem vierfachen Kuß.
Als Mylius zum Abendessen erschien, saßen schon alle um den Tisch. Eine heitere Unterhaltung war im Gang, und mit großer Geschicklichkeit verstand es Ulrike, die gute Laune nicht abflauen zu lassen, durch allerlei Erzählungen, Fragen, Witze, kleinen Klatsch aus der Gesellschaft die Aufmerksamkeit ununterbrochen auf sich zu sammeln und dabei Mylius' Gegenwart völlig vergessen zu machen. Sie richtete nicht die Rede an ihn, sie streifte ihn mit keinem Blick oder, noch verschlagener, sie schaute in die Richtung, wo er saß, als wäre er durchsichtig. In Wirklichkeit ließ sie ihn nicht eine Sekunde aus den Augen und hatte auch mit Genugtuung wahrgenommen, daß er bei seinem Eintritt, als er sie im Zimmer gesehen, zufrieden geschmunzelt hatte.
Ein forschender Ausdruck war in seinen Mienen; dann der Beginn eines leutseligen Entgegenkommens; dann wurde er durch die unbefangene Fröhlichkeit, die er antraf, in hohem Grade stutzig, da er an respektvolles Verstummen gewöhnt war. Sein Gesicht verfinsterte sich; er zerkrümelte Brot zwischen den Fingern; als Lothar einmal in lautes Gelächter ausbrach, schoß ein zorniger Blitz unter seinen dünnen roten Lidern hervor. Dann kam eine unverkennbare Bedrücktheit über ihn; er zog die Uhr, zerrte an seiner Krawatte, hörte zu essen auf, setzte eine Virginia in Brand und erhob sich, indem er einen Blick kränklicher Mißbilligung in die Runde schickte. Jetzt endlich wandte sich Ulrike an ihn.
»Es scheint, nun hab ich Aussicht, Karriere zu machen, Herr Mylius«, sagte sie fröhlich; »mit Onkel Klemens hab ich mich verkracht, und Frau Christine hatte die Güte, mir eine Zuflucht anzubieten. Ich habe die Ehre, mich Ihnen als Hausgenossin vorzustellen. Ich fühle mich wie neugeboren, und wenn wir Ihre Einwilligung erhalten, woran ich nicht zweifle, bleibt mir nichts mehr zu wünschen übrig.«
Mylius drehte den Kopf kreisförmig im Hemdkragen, wie er stets zu tun pflegte, wenn er verlegen war. »Sieh da«, erwiderte er mit einem Versuch, liebenswürdig zu sein, »das nenn ich mir eine Überraschung. Ein Gast unter meinem bescheidenen Dache, und ein so seltener noch dazu. Denn seit einigen Tagen haben Sie sich ja selten gemacht, mein Fräulein; oder täusche ich mich?«
»Zu reizend, daß Sie es bemerkt haben«, versetzte Ulrike; »aber ich war ein paar Tage krank, ernstlich krank. Ich hatte große Aufregungen zu überstehen und schwerwiegende Entschlüsse zu fassen. Jetzt bin ich wieder obenauf. Sie haben also nichts dagegen, daß ich mich wie ein armer Vogel auf der Flucht in Ihrem Nest ein wenig ausruhe?« Sie heftete einen seltsam langen und scharfen Blick auf ihn.
»Nichts, durchaus nichts«, beeilte sich Mylius zu antworten; »hoffentlich behagt es Ihnen auch in dem Neste und Sie rauben ihm nicht seinen Frieden.«
»Amen«, sagte Ulrike; »seien Sie versichert, daß ich nicht ohne Ölzweig im Schnabel zugeflogen bin; ich weiß, was sich gehört. Auch mit löblichen Grundsätzen bin ich gekommen: tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste.«
»Na, na«, wehrte Mylius etwas erschrocken ab, »Gäste, Feste, das ist gut gereimt, aber schlecht gemeint. Davon will ich nichts wissen.« Sein Blick ruhte jedoch mit Wohlgefallen auf Ulrike.
Diese verbeugte sich. »Ganz nach Befehl, mein Herr«, sagte sie.
»Was haben Sie denn nun für Ihr Fortkommen im Auge?« erkundigte sich Mylius mit allzu deutlich hervortretender Besorgnis; »eine so praktische und fähige Dame wie Sie denkt doch sicherlich auch an die Zukunft.«
Ulrike lachte. »Auch da kann ich mit einem Verschen aufwarten«, entgegnete sie; »ich habs einmal vor vielen Jahren wo gelesen«. Sie stellte sich in Positur, Hände in den Hüften, den Kopf schräg geneigt, und rezitierte langsam, die Silben skandierend:
»Des Froschfangs, wie es scheint, vergaß
der Storch und stolzet durch das Gras.
Er setzt mit Lust ein rotes Bein
ums andere bedächtlich ein
und lehrt dich durch sein Beispiel nun
die Kunst, mit Anstand nichts zu tun.«
»Aber nur keine Angst, Herr Mylius«, fügte sie mit bittend gefalteten Händen hinzu, »es sind wiederum bloß leichtsinnige Reime, in Wirklichkeit leg ich mich schon ins Zeug, das werd ich Ihnen bald beweisen.«
Das schillernde und hintergründige Gespräch erweckte bei allen eine peinliche Empfindung, aber Ulrikes Witz und Schlagfertigkeit verursachte ihnen zugleich ein Entzücken, das sie vor Mylius nur nicht zu äußern wagten. Christine lächelte wie jemand, der einem Seiltänzer zusieht, und auf ihrer Stirn standen kleine Schweißperlen.
Um zehn Uhr ging Mylius zur Ruhe. Christine schickte auch die Kinder zu Bett, dann saß Ulrike noch stundenlang flüsternd mit ihr bei der Lampe. Und am Morgen gingen sie zusammen auf den Markt, und am Nachmittag zogen sie sich in eine Kammer zurück, und am Abend saßen sie wieder bis spät bei der Lampe; und Unterredung folgte auf Unterredung, Erörterung auf Erörterung.
Ulrike ließ alle Register spielen. Hatte sie die eingeschlummerte Empörung frisch entfacht und zornige Anklagen gegen Mylius geschleudert, so malte sie die Zukunft in verlockendsten Farben, nannte Pflicht, was Christine Verrat dünkte, predigte List und Täuschung, berief sich, um das Schicksal der Kinder sorgend, auf ihr Herz und ihre Gerechtigkeitsliebe, vermischte unversehens eins mit dem andern, gab sich schroff und ungeduldig, schmeichlerisch und scheinbar unschlüssig und erzeugte so eine eigentümliche Verwirrung in Christines Gemüt. Indem sie diese Taktik ausbildete und steigerte, immer verfänglichere Schlingen knüpfte, von Mal zu Mal kühner, herrischer, selbstbewußter, siegessicherer wurde, beseitigte sie Christines letzte Bedenken und Einwände und brachte sie endlich soweit, daß sie sich bereit erklärte, den Hofrat Woytich zu empfangen und ihm gegen Auszahlung von achtzehntausend Gulden, einer Summe, die ihr beängstigend hoch erschien, eine Schuldverschreibung auszustellen.
»Sie riskieren nicht das mindeste«, beruhigte sie die fieberhaft erregte Freundin; »erstens ist es Ihr gutes Recht und das Gesetz steht auf Ihrer Seite, zweitens mach ich mich zu Ihrem Sachwalter und trete für Sie ein.«
Eine Arbeit, härter als Steineverladen, sagte sie wütend zu sich selbst, als sie in die Dorotheergasse eilte, um den Hofrat in Aktion zu setzen. Danach packte sie in der Mansarde oben ihre Habseligkeiten in das Holzköfferchen, das sie auf allen ihren Fahrten mitgeführt hatte, und ließ es durch einen Dienstmann zu Mylius schaffen. Mit dem stritt sie eine Weile heftig wegen der achtzig Kreuzer herum, die er verlangte, dann ging sie zu Christine, teilte ihr mit, der Hofrat käme um fünf Uhr, und belehrte sie schulmeisterlich, wie sie sich zu verhalten habe. Da sie genau vorauszusagen wußte, was er sprechen und wie er auftreten würde, konnte wie in einer Schauspielstunde festgelegt werden, was Christine zu antworten hatte und mit welcher Miene und Gebärde. Ulrike entwickelte dabei die Gaben und die szenische Phantasie eines gewiegten Regisseurs und Christine hatte bei aller Beklommenheit etwas zum Lachen.
Zu Mittag war Ulrike nicht zu Hause und als sie zurückkehrte, erfuhr sie, daß Mylius zu einer großen Auktion nach Genf gereist sei. Seine Abwesenheit sollte eine Woche dauern. Sie äußerte lebhaftes Vergnügen über diese Nachricht. Nun mußten alle Maßregeln beschleunigt werden. Man konnte mit einem Schritt eine gewaltige Strecke vorwärtskommen.
Mit dem Schlag fünf erschien der Hofrat. Gehrock, geblümte Samtweste, Schnallenschuhe, Zylinder, Stock mit Elfenbeinkrücke: Bild aus verflossener Ära.
Er war frostig, galant und gemessen. Er studierte das Haus, er studierte die Frau. Er besichtigte die Räume und nahm mit den Augen ein Inventar auf. Das Ergebnis befriedigte. Es folgte ein Verhör, bei dem Ulrike die Einflüsterin machte und hinter seinem Rücken mit Stirnrunzeln, Nicken und Kopfschütteln nachhalf. Bei der Formalität der Namensunterschrift wurde er zum aufgeregten Pedanten. Zwei Finger breit, nicht mehr, nicht weniger, mußte Spatium bleiben zwischen Text und Unterschrift; ein Finger breit zwischen Datum und linkem Rand. Als Christine die Feder ansetzte, rief er Halt und forderte ihr Taufzeugnis und den Trauschein zur Überprüfung. Christine willfahrte, Ulrike kochte.
Endlich zählte er das Geld auf den Tisch: zehntausend Gulden in Banknoten, fünftausend Gulden in Lombarden, dreitausend Gulden in Gold. Er stutzte und verzog die Brauen, als Christine, zitternd wie Espenlaub, keine Anstalten traf, es nachzuzählen. Ulrike murmelte etwas Unzartes und tat es für sie mit dem gebotenen Ernst: Blatt für Blatt und die Goldstücke fünf um fünf. Es war ebenso eine Ehrfurchterweisung im Sinne des Hofrats, der streng und unbeweglich dabeistand, als eine übliche Handlung beim Abschluß eines Geschäfts.
Somit lief alles gut ab und Ulrike konnte ihre Tätigkeit beginnen. Zeit durfte nicht verloren werden.