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Am zwanzigsten Mai fand im Palais Mylius, wie es jetzt hieß, der festliche Einweihungsabend statt, mit Diner für fünfzig Personen, Zigeunerkapelle, Tanz, Gartenillumination und Entfaltung von Luxus jeder Art.
»Der Anfang ist das wichtigste«, sagte Ulrike; »wenn ein Komödiant ein erfolgreiches Debüt hat, kann er sich gelegentlich auch mal erlauben, schlecht zu spielen; das Publikum beklatscht dann nicht mehr die Leistung, sondern die Firma.«
Das weitläufige Haus hatte große, mittlere und kleine Gesellschaftsräume, die man zum Teil mit den schönen alten Chamfortschen Möbeln übernommen hatte. An jenem Abend war auch der Marmorsaal, eine stadtberühmte Sehenswürdigkeit, den Gästen geöffnet.
Es war bei der Kürze der Frist und dem Umstand, daß die Familie Mylius überhaupt keinen Anhang hatte, eine schätzbare Leistung Ulrikes gewesen, so viel Teilnehmer von Rang und Stand für die Veranstaltung zu gewinnen, und nicht nur das, auch zu bewirken, daß sie sich förmlich dazu drängten. Aber einmal ist zu bedenken, daß es die erste Gesellschaft doch nicht war, die sich einstellte, sondern nur diejenige, die sich und andern glauben machen wollte, es zu sein; und dann verstand sich Ulrike gründlich auf den Köder. Es gab drei bewährte Angeln: eine für die Neugier, eine für den Ehrgeiz, eine für die Langeweile. Ulrike verlieh ihrem Weltverstand treffenden Ausdruck, indem sie sagte: »Wenn ich der Frau von Berber mitteile, daß die Frau von Gerber kommt, wird die Frau von Scherber eifersüchtig, und die Frau von Sperber bittet mich, ebenfalls kommen zu dürfen. Sind sie alle vier dagewesen, so wissen sie, was sie bei uns finden, und kommen wieder, weil sie da waren. So wirds gemacht, so entsteht Verkehr.«
Eingeleitet hatte sie das große Unternehmen mit Hilfe des Grafen Ler und seiner Freunde Pillersdorf und Althann. Bei Picknicks, Ausfahrten, Ausflügen und im Theater lernte man die Mütter, Tanten, Schwestern, Vettern und Kusinen kennen; man wurde aufgefordert, Besuch zu machen; der Besuch wurde erwidert; kein Standesvorurteil war dem Zauber der Millionen gewachsen. Ahnengesegnete Aristokratinnen ließen den Dunkelgeborenen Gnade angedeihen, und was dann an Kaste sprossenabwärts kam, hatte dem großmütigen Beispiel bloß zu folgen. »Nichts zu wundern«, sagte Ulrike, »wir haben den Speck und fangen die Mäuse.«
Es redete sich bald herum, daß man bei Myliussens auf seine Rechnung käme. Kostbarkeit, Echtheit, Fülle sei zu finden, letztere namentlich im Hinblick auf die kulinarischen Genüsse. Die Frau des Hauses mache Figur, hieß es; man sehe ihr die gute Erziehung und Herkunft an; die älteren Töchter (die jüngste, wie auch der Hausherr, blieb meist unsichtbar) seien interessante und anmutige Geschöpfe, weit über Erwarten bei den Erbinnen solchen Reichtums. Daß Ulrike es an sachgemäßer Unterweisung nicht hatte fehlen lassen und ihre beiden Zöglinge und Freundinnen wochenlang vorher wie ein Tanzmeister gedrillt hatte, verdient erwähnt zu werden. Sie brachte ihnen die Posen bei, die Kunst zu stehen und zu gehen, sich anzuziehen und den Kopf zu tragen, mit vielen Worten nichts und mit wenig Worten alles zu sagen. Es zeigte sich, daß sie in diesen Dingen eine außerordentliche Einsicht und Weisheit besaß und mehr noch Instinkt.
So sagte sie etwa: »Die Hauptsache ist, daß ihr die Vokabeln lernt. Ihr könnt mir glauben, daß es alles in allem nicht mehr als fünfhundert sind, die man braucht. Darin unterscheiden sich die Weltmenschen nicht von den Briefträgern und Marktweibern. Es sind nur andre Vokabeln, mehr sinds nicht. Aber man muß sie kennen.«
Oder: »Zweierlei an euch müßt ihr in eurer Gewalt haben: das Lächeln und die Augen. Eine verheiratete Frau lächelt nicht wie ein junges Mädchen und einem General zeigt man ein anderes Gesicht als einem Leutnant. Wenn ihr bei jedem Witz eines unserer Unwiderstehlichen den Mund auseinanderzieht und die Nasenlöcher aufblast, wird man von euerm Geist nicht viel halten. Eine Dame muß aber, auch wenn sie keine Spur von Geist hat, sich so zu inszenieren verstehen, daß der verstockteste Bücherwurm nicht eine Sekunde an ihrer tiefgründigen Bildung zweifelt. Wenn ihr nichts wißt, so schweigt, und wenn ihr eine Albernheit zu reden fürchtet, leiert im stillen das Einmaleins herunter und nehmt im übrigen eure Augen zu Hilfe, dazu habt ihr sie. Ich habe dumme Gänse gekannt, die hatten Blicke, als wäre ihnen die gesamte Philosophie mit der Muttermilch eingetrichtert worden.«
Esther und Aimée, gelehrige Schülerinnen, handelten danach, jede in ihrer Weise. Bis ein Tag kam, wo sie sich der Bevormundung entschlugen, der Zentrifugalkraft statt der zentripedalen gehorchten und wie phantastische Kometen das gebundene System verließen, um in den gesetzlosen Raum zu schweifen.
Eine wesentliche Anziehungskraft des Myliusschen Salons war der Vizekonsul Woytich, dessen glänzendes Klavierspiel fast täglich die Bewunderung der Zuhörer war. Außerdem schufen ihm seine Unterhaltungsgabe, seine Unerschöpflichkeit im Geschichtenerzählen eine wachsende Beliebtheit. Er kannte alle bedeutenden und berühmten Personen Europas, oder behauptete sie zu kennen, denn der Verdacht war manchmal nicht ganz abzuweisen, daß er ein wenig schwindelte. Doch es war amüsant. Selten geriet der Name eines großen Mannes zwischen das Gehege seiner Zähne, ohne daß er irgendwie lächerlich wurde; ja, Franz Woytich huldigte dem Grundsatz, daß große Menschen eigentlich immer lächerlich sind, wenn man nur den richtigen Blickpunkt findet, der sie verständlich macht und die gespannte Ehrfurcht der Menge wohltätig lindert. Das war wirklich erheiternd; alles atmete auf, wenn wieder ein bestaunter Koloß auf seinem Piedestal zu wackeln anfing. Waren zufällig Unwillige anwesend, so bot die Musik ein probates Mittel, ihnen den Mund zu schließen. Was können Virtuosenhände nicht alles übertünchen!
Vielfach erhob sich die Frage: wer sind denn nun diese Woytichs? Auskünfte über Familie, Landsmannschaft, militärischen Grad des Vaters beruhigten die Gemüter nicht, auch nicht die anheimelnde Tatsache, daß es einen Hofrat des Namens gab, von verschollenem Kanzleiruhm zehrend. Dieses Fräulein Woytich, die ein so schwer bezeichenbares Amt im Hause Mylius versah, Verweserin, Freundin, Gebieterin, geheime Mittlerin, wer war sie? Weder durch Schönheit, noch durch Eleganz geradezu hervorragend, lenkte sie unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich. Offen bis zur Derbheit, bizarr bis zum Abstoßenden oft, hatte sie beständig einen Schwarm junger und alter Verehrer um sich, die ihr ergötzt und angeregt lauschten und keine Mühe scheuten, einen Blick aus den orientalisch funkelnden Augen zu erhaschen. Worin bestand der Reiz? was war die Besonderheit?
So ungefähr raunten die Bedenklichen, und die Stimmen drangen natürlich zu Ulrike. Sie lachte. »Die guten Leute wissen nicht recht, was sie aus mir machen sollen«, sagte sie; »ich kann es ihnen nicht verübeln, denn bei Licht betrachtet, bin ich der Fuchs im Hühnerstall und darf mich nicht beschweren über das besorgte Gegacker und erschrockene Flügelschlagen. Hätt ich Zeit, so wollt ich mich mit ihnen auseinandersetzen, aber zum Glück für sie hab ich was Besseres zu tun.«
In der Tat füllten ihre Obliegenheiten den achtzehnstündigen Tag bis zum Rand. Sie hatte zwei Diener, drei Hausmädchen, eine Zofe, einen Küchenchef, eine Köchin, zwei Küchenmädchen, einen Hauswart, einen Gärtner und zwei Gärtnerburschen zu lenken und zu beaufsichtigen. Als sie es nicht mehr allein bewältigen zu können erklärte, ließ sie mit Christines Erlaubnis ihre Schwester Anastasia kommen, die einen schlecht bezahlten Erzieherinnenpoften in der Provinz bekleidete. Anastasia Woytich war eine schweigsame, höfliche, leidlich hübsche, aber etwas sauertöpfische junge Dame, die den leeren Blick eines Vogels hatte und wie auf einer Übeltat ertappt zusammenschreckte, wenn man sie anredete. Ob sie die Schwester liebte, fürchtete oder beneidete, war nicht zu erforschen, aber sie nahm ihr die Hauptlast der Verwaltung ab, und Ulrike konnte sich mit mehr Freiheit den repräsentativen Pflichten und inneren Aufgaben widmen.
Sie verhandelte über den Kauf eines Landhauses und brachte ihn zustande. Sie schrieb die Einladungskarten zu den abendlichen Veranstaltungen und besprach mit Esther und Aimée die abzustattenden Visiten. Sie hatte die Rechnungen zu zahlen, die Wirtschaftsbücher zu führen, die großen Einkäufe zu überwachen, die Korrespondenz zu erledigen. Dies und das an Möbeln fehlte noch im Hause; ein Chippendale-Schrank für die Bibliothek; die Einrichtung für den Pavillon im Park; Pflanzen für den Wintergarten. Sie beschaffte es. Einige Stücke holte sie frech aus dem Myliusschen Geschäft, dessen Leitung einstweilen Herr Schmidt übernommen hatte, so zum Beispiel eine köstliche Uhr von Leroy und eine wunderbare englische Puppe, einen Meter groß, die sie, nicht ohne verschwiegene Absicht für später, denn das seltene Werk erregte bei jedem Betrachten ein heftiges Besitzverlangen in ihr, in Esthers Zimmer aufstellte.
Sie mußte sich ferner um Mylius kümmern, der in den beiden entlegensten Räumen des Hauses in eigensinniger Abgeschlossenheit lebte und nur ihre Nähe duldete.
Am Tage des Umzugs war er plötzlich verschwunden. Er kam zu Mittag nicht nach Hause, er ließ sich am Nachmittag nicht sehen und blieb am Abend fort. Am folgenden Morgen erkundigte sich Ulrike, trotzdem sie vor Arbeit nicht aus noch ein wußte, im Laden. Herr Schmidt war verlegen und gab vor, nichts zu wissen. Aber Ulrike merkte ihm an, daß er den Aufenthaltsort seines Prinzipals wohl kannte, und es dauerte keine Viertelstunde, so hatte sie erfahren, wo der Alte sich verborgen hielt, nämlich in der Wohnung des Herrn Schmidt selbst. Ulrike nahm einen Wagen und fuhr zu dem Haus in der Vorstadt. Sie stieg über finstere Treppen drei Stockwerke hoch, läutete an einer Tür, wartete, zog abermals an dem rostigen Glockenknopf, dann scharrten Schritte drinnen, die Tür wurde vorsichtig geöffnet, nur zu einem Spalt, und Mylius' mißtrauisch-spähendes Gesicht zeigte sich. Er erschrak, als er Ulrike gewahrte, doch ließ er sie ein. Sie fragte barsch, was er da mache. Er erwiderte, das gehe keinen Menschen was an. Das gehe sie aber sehr an, polterte sie, denn die Absicht, über sie und seine Familie Schande zu bringen, sei nicht zu verkennen, und sie werde nicht eher von der Stelle weichen, als bis er dieses Jammerquartier mit ihr zusammen verlasse.
Mit spöttischer Genugtuung spürte sie, daß sein Widerstand durch ihr bloßes Erscheinen gebrochen war. Und sie spürte auch, daß der Klang ihrer Stimme auf ihn wirkte wie ein Zauber. Er fühlte sich unbehaglich und lag in Feindschaft mit sich selbst. Er war froh, daß sie gekommen war, und indem er in Miene und Schweigen bissigen Trotz hervorkehrte, verbarg er das heimliche, schaurige Entzücken, das ihm ihr Anblick verursachte. So ließ er sich von ihr fortführen wie ein Knabe, der entlaufen ist und von seiner Erzieherin wieder heimgebracht wird.
Und damit war die Abhängigkeit besiegelt und das Verhältnis ein für allemal bestimmt. Eines alten Mannes Leiden; eines alten Mannes Scham; er wußte nun, was ihn widerstandslos machte. Die Stimme, die Stimme; er konnte an der Tür stehen, das Ohr ans Holz pressen und mit pochendem Puls lauschen, ob von irgendwoher die Stimme zu ihm drang. Er hatte sich unter das Dach des riesigen Prunkpalastes geflüchtet und zitterte vor Glück, wenn die Stimme schalt und sich über sein Verkriechen mokierte. O, der Spott, wie er traf und Wunden riß und wie er zugleich das Öl war, das über die Schwären rieselte! Gab es ein unwiederbringliches Versäumnis? Die Jahre, wie Zentnersteine, lagen in einem Brunnenschacht und hatten etwas Blühendes da unten zermalmt. Und nun stand man an der Tür, hielt das Ohr ans Holz gepreßt und horchte, horchte …
Keinen Menschen ließ er zu sich, mit keinem sprach er. Nur Ulrike antwortete er auf Fragen, nur für ihren Zuspruch war er empfänglich, und geschah es, daß sie tagsüber nicht die Zeit zur gewohnten Kartenpartie gefunden oder gar nicht erschienen war, so kam er am Abend herunter, erschien plötzlich zur peinlichen Überraschung seiner Angehörigen wie der Gäste im Rauchzimmer, schlurrte auf seinen Filzpantoffeln über das Parkett, starrte mit den roten wimperlosen Augen mißbilligend und beinahe tückisch die fremden Leute an und ging erst wieder, wenn ihn Ulrike hinausbegleitete und oben mit Geduld die Aufzählung seiner Gebresten anhörte. Niemals erkundigte er sich nach Christine; es war, als sei sie tot für ihn und habe kein Andenken hinterlassen.
Christine ihrerseits kümmerte sich ebensowenig um ihn und hatte ihn ausgeschaltet aus ihrem Leben. Auch sie verlangte nach Ulrikes Gesellschaft und wurde verstimmt, wenn sie sie entbehren mußte. Umgeben von ihren Gästen, lachte und plauderte sie sorglos, hatte Züge einer verfeinerten geistigen Schalkhaftigkeit, war wissensdurstig, eindrucksfähig, dankbar, wenn sich ihr jemand in persönlicher Art erschloß, voll Enthusiasmus für alles Können, alles Bilden, alles kräftige Sein. Kaum aber hatten die Menschen sie verlassen, so zog sie sich auch von der Wirklichkeit zurück und gab sich ihrer wahl- und maßlosen Lektüre hin.
Ganze Stöße von Büchern waren um sie aufgestapelt, lagen auf Stühlen, Sophas, Teppichen und Tischen; die Romane der Nationen, Balzac und Dickens, Daudet und Spielhagen, Edgren-Leffler und Turgenjew, Boccaccio und Andersen; philosophische und populärwissenschaftliche Schriften, Theaterstücke und Gedichte. Tief in die Nächte hinein kauerte sie bei der Lampe und las, verwühlte sich in das vorgetäuschte Leben, hastete von Buch zu Buch, von Gestalt zu Gestalt, von Schemen zu Schemen. Der Morgen fand sie gelb und welk, allmählich verfettete ihr Körper.
Hatte sie sich in der farbigen Schattenwelt müde geirrt, oder war ein Abend still und ohne fremde Menschen, so forderte sie, daß Ulrike bei ihr sei. Ulrikes Nähe bot Ersatz für alles, für die Kinder und den Gatten, für die Bücher und die Welt. Wenn Ulrike da war, brauchte man Oper und Schauspiel nicht, Ausfahrt und abendliche Empfänge nicht, Ulrike löste alle Spannungen, beseitigte Zweifel, entknüpfte Wirrnisse, erweichte Härten, deutete Zeichen, zauberte den Schlaf herbei, wenn die Nerven aufrührerisch waren, und hieß das mattgewordene Herz wieder lebhafter schlagen. Ulrike war der Stundenweiser, das Elixier und die Seele der Dinge. Christine vergötterte Ulrike. Kein Gedanke, der nicht mit Ulrike ging und um sie webte, kein Hauch, der sich nicht auf sie bezog.
Da sie so vielen vieles sein mußte, fand es Ulrike schwer, den einzelnen gerecht zu werden. Es bedurfte oft scharfsinniger Erwägungen und wohlvorbereiteter Schachzüge, damit das Nützliche und Zweckvolle nicht vom wuchernden Tagesgetriebe verdrängt oder verdunkelt wurde. Einerseits war es das Projekt, Esther mit dem Grafen Lex zu verheiraten, das sie nicht aus den Augen ließ und das ihre ganze Geschicklichkeit und Kunst der Menschenbehandlung beanspruchte; andrerseits war es Lothar, der ihr Grund zu Besorgnissen gab und dessen Tollheiten und Übergriffe zu zügeln sie fast keine Möglichkeit mehr sah. Er hatte aus eigenem Beschluß die vorletzte Klasse des Gymnasiums verlassen und führte das Leben eines vornehmen Nichtstuers. Kostspielige Liebhabereien und nicht minder kostspielige Kameraderien füllten seine Zeit, und nicht selten verbrachte er halbe Nächte außer dem Haus. Ulrike erkannte die Entartung, die wie Brand im Fleische war; aus gesundem Bürgertum schwärte es hervor, unergründlich rachsüchtig und Stigma des absteigenden Jahrhunderts.
Verfall hatte sie vorausgesehen; er lag auch in ihrer Absicht; dies aber ging ein wenig zu schnell. Als sie sich dem Knaben hingegeben hatte, um ihn an sich zu fesseln und sein brennendes Liebesverlangen zu stillen, hatte sie gehofft, daß sie ihn eine Weile noch würde halten können. Ihre Pläne rechneten mit ihm; sie brauchte ihn. Keinesfalls durfte er abspenstig werden. Sie hatte es leicht genommen, sich leicht geschenkt, so hatte die Natur sie geschaffen. Leidenschaft der Sinne: Leidenschaft der Stunde. Sie lehrte ihn: »Ein richtiger Kerl geht durch so was durch, als wärs ein blühender Laubengang. Es ist eine Sache, die gerade nur den sehnsüchtigen Seufzer wert ist, wenn sie bevorsteht, und die angenehme Erinnerung, wenn sie vorüber ist. Zwei Sorten von Menschen sind mir verhaßt wie Spinnen und Kröten: die Schmachtenden und die Lüsternen. An denen wird alles zuschanden, was schön und vergnüglich ist auf der Welt.«
Bis zur Erfüllung stimmte die Rechnung; was sie aber nicht in den Bereich ihrer Überlegung gezogen hatte, war, daß Stroh rascher aufflammt als Kohle und auch rascher verzehrt wird. Sie mußte sich sagen, daß es unbesonnen gewesen war, den Begierden dieses schwachen und wilden Jünglings, der gleichsam an generationenaltem Hunger litt, alle Tore zu entriegeln. Die kluge und großmütige Freundin genügte ihm nicht lange; er lechzte nach andern Erregungen. Doch war Ulrike die einzige, der er sich unterwarf und die eines bezwingenden Anrufs mächtig war, wenigstens bis zu der Zeit, wo Eduard Melander in sein Leben trat. Er achtete sie; er war reif durch sie geworden und äußerst wissend; etwas wie animalische Dankbarkeit war ihm eigen. Da sie ihn weder beaufsichtigen noch ihm auf seinen Irr- und Abwegen folgen konnte, bat sie Ferdinand Lex, er möge sich seiner annehmen und ihn vor schlechter Gesellschaft behüten. Lex versprach es, aber er hatte nicht einmal die Eignung zum Wächter, geschweige denn zum Führer.
Ferry Lex, wie er in seinen Kreisen hieß, war vermögenslos und steckte bis über den Hals in Schulden. Um ihn und hinter ihm lag alles in Trümmern. Vor einigen Jahren war sein Name mehr als gut war in der Leute Mund gewesen. Er hatte ein Verhältnis mit einer beliebten jungen Schauspielerin begonnen und sie auf das mährische Schloß seiner Mutter, während diese verreist war, entführt. Dort hatte sich das lebenslustige schöne Mädchen eines Nachts im Bett erschossen. Der Vorfall hatte ein übles Licht auf den Grafen geworfen; die ehrbare bürgerliche Familie des Mädchens hatte verbreitet, er habe sie planmäßig zum Selbstmord getrieben, da sie schwanger gewesen sei und er sich von ihren lästig werdenden Ansprüchen befreien wollte. Bei dieser Gelegenheit wurden auch seine privaten Umstände einer unerquicklichen Kritik unterzogen. Die Mutter, wurde versichert, sei von anfechtbarer Geburt und habe sich als Geliebte eines sehr hohen Herrn den Adel mittels einer Scheinheirat erkauft. Hierin mochte auch die Ursache zu dem Erbschaftsprozeß liegen, den er mit einem seiner Vettern um das Majorat führte, und der Ulrike bei näherer Betrachtung wenig aussichtsreich erschien. Aber Esther sollte unter die Haube gebracht werden, je eher, je besser. »Ist sie einmal Gräfin Lex, so kräht kein Hahn mehr nach den Skandalgeschichten«, äußerte sich Ulrike, »und was die Reinheit des Bluts betrifft, möcht ich sehen, wieviel adlige Stammbäume in dem Punkt eine Prüfung aushalten können. Im ganzen Gotha kein Dutzend. Erst einmal zum Altar, das Weitere wird sich finden.«
So trieb sie Lex zu seinen Geschäften. Der Advokat, der für ihn arbeitete, war nach ihrer Meinung lau. Sie ging zu einem andern, der jung und ehrgeizig war und, von Ulrike angeeifert, das Unmögliche möglich zu machen versprach. Sie gab Lex den Rat, eine Gläubigerversammlung einzuberufen und beizeiten zu paktieren; wenn die Hyänen einmal das Myliussche Geld witterten, entkäme er ihnen nicht unter hundert Prozent.
Doch als sie im Oktober mit Christine von der Reise zurückkehrte, war alles noch beim alten, und der Prozeß schleppte sich hoffnungslos hin. Ulrike verlor die Geduld. Sie behauptete, Esther sei bereits kompromittiert, und hatte sogar einen kleinen Auftritt mit ihr, als sie mit Aimée und Anastasia von der Landvilla, wo sie den Sommer verbracht hatte, wieder in die Stadt zog. Aber die Sache war die, daß sich Esther kein Herz zu Ferdinand fassen konnte. Sie und Aimée machten sich insgeheim lustig über ihn, über seine roten Bäckchen, seine Eilfertigkeit, seine Vergeßlichkeit, die mittelmäßigen Verse, die er zu dichten, die sentimentalen Gefühle, denen er sich hinzugeben liebte. Die Unklarheit der Situation gewann aber einen gefährlichen Charakter erst, als Eduard Melander ins Haus kam.
Diesen jungen Mann hatte Ulrike einige Wochen, bevor sie zur Familie Mylius in Beziehung getreten war, bei einer eigentümlichen Gelegenheit kennengelernt.
An einem Spätherbstnachmittag war sie im Hügelgelände im Westen der Stadt spazierengegangen, hatte sich bei einem Weinbauern eine Handvoll Trauben gekauft und sich damit an einer malerischen Stelle am Bachufer niedergelasten. Die Sonne war unter den Horizont gesunken, der Himmel war von Karmin und Gold übergossen, und Ulrike, ihre Trauben verspeisend, sagte laut vor sich hin: »Wunderbarer Abend.« Da antwortete eine Stimme hinter ihr: »Besonders für jemand, der weiß, wo er die Nacht zubringen wird.« Überrascht drehte sie sich um und sah einen Menschen mit verstaubten Stiefeln und abgetragenen Kleidern im Gras liegen, dem sie trotz des rührend mißmutigen Ausrufs keine Beachtung geschenkt hätte, wäre ihr nicht das Gesicht durch eine fast mädchenhafte Schönheit aufgefallen. Sie ließ sich ins Gespräch mit ihm ein; er erzählte, daß er seit drei Tagen obdachlos sei und seit zweien nichts mehr gegessen habe; seine Quartierfrau habe ihn auf die Straße gesetzt, seine Habseligkeiten seien verpfändet, Angehörige besitze er nicht, Freunde auch nicht, kurz, er sei am Ende von allem.
Ulrike forschte ihn weiter aus, erfuhr, daß er Student war, daß er im April mit hundert Gulden aus Schlesien nach Wien gekommen und daß er, um mit den hundert Gulden, die er sich als Hauslehrer verdient, möglichst lange auszureichen, ein halbes Jahr hindurch bei Tag geschlafen und bei Nacht gearbeitet habe; denn die Nacht, fügte er bitter hinzu, sei billiger als der Tag und erspare auch zeitraubende Bekanntschaften.
Ulrike handelte als die resolute Person, die sie war. Sie ging mit ihm in die Stadt zurück, und am selben Abend noch hatte er eine Wohnung, für die sie den Mietbetrag im voraus erlegte. Er wurde infolge der Entbehrungen krank. Sie pflegte ihn. Sie brachte ihm Essen und Wein, sie räumte seine Stube auf und machte sein Bett, und die häufigen, mit seiner fortschreitenden Genesung immer intensiver werdenden Unterhaltungen überzeugten sie alsbald, daß sie Zeit, Geld und Mühe an keinen Unwürdigen vergeudet hatte.
Das war einmal ein Mensch nach ihrem Sinn. Verstand; geordneter Kopf; ruhiges Blut; eiserne Entschlossenheit zu einem Ziel. Alles doppelt erstaunlich bei einem Körper, dessen Zartheit jeder rauhe Wind zu bedrohen schien, und einer Sanftmut und Gefälligkeit des Auftretens, die etwas Indianisches hatte und niemand vermuten ließ, daß der Dreiundzwanzigjährige den ganzen Spießrutenlauf durch Not und Armut hinter sich hatte.
Aber er hatte die zusammengebissenen Zähne; die sah keiner. Gut, was ich gewollt, falsch, wie ichs gewollt, war die Erkenntnis, die ihm durch Ulrike wurde. Er hatte sich eingebildet, er könne alles auf sich allein gestellt ertrotzen und, angefüllt mit Wissen, geladen mit Energien, unter die Menschen treten, die ihn dann sogleich, bezwungen von seinem Genie, auf den Posten stellen würden, auf den er gehörte. Das war naiv, obschon es von einem starken Selbstvertrauen zeugte. Ulrike verwarf den tapferen Stolz ganz und gar. Sie bewies ihm, daß man in seiner Lage der Menschen bedurfte und daß es löblicher sei, sich der Knechtschaft und Erniedrigung auszusetzen, als die besten Jahre und die besten Kräfte in der donquichotischen Einsamkeit einer Dachkammer zu vertun. In London hatte sie die Bekanntschaft eines Finanzmannes gemacht, der ihr, als sie England verließ, seine Hilfe und seine Dienste angeboten hatte, wann immer sie sich seiner erinnern wolle; eine Beziehung, die sie im übrigen nur flüchtig erwähnte; an diesen schrieb sie und bat um seine Empfehlung für einen Freund, über dessen Bildungsgang, Neigung und Begabung sie das Zweckdienliche aussagte. Nach fünf Tagen schon erhielt sie die Antwort samt einem Empfehlungsschreiben an den Präsidenten von Wallersheim, einen der mächtigsten und einflußreichsten Geldfürsten der damaligen Zeit. Sie nahm zwei Arbeiten Melanders mit, eine »Über die Ursachen der Sterblichkeit im Zusammenhang mit der Zivilisation« und eine »Über die europäischen Währungsverhältnisse«. Der Präsident las die Schriften, faßte sogleich das nachhaltigste Interesse für den Urheber, ließ ihn kommen, wurde nicht minder stark von seiner Persönlichkeit berührt, und auf einmal hatte Melander glatte Bahn vor sich. Herr von Wallersheim verschaffte ihm ein Stipendium, übertrug ihm einige schwierige Arbeiten, die Melander zu seiner Zufriedenheit löste und die er ihm glänzend honorierte, zog ihn, von den Eigenschaften des jungen Mannes mehr und mehr bezaubert, in seine Nähe, öffnete ihm sein Haus, prophezeite ihm eine große Zukunft und sprach überall von ihm als von einem wahren Wunder.
Das alles hatte sich innerhalb eines Jahres begeben. Außer daß er seinem Beschützer zu jeder gewünschten Zeit zur Verfügung stand, hatte Melander die Vorlesungen besucht, seine Doktorarbeit gemacht, promoviert, sich um die Dozentur beworben und sie erhalten, zwei bis drei Abende in der Woche den wachsenden gesellschaftlichen Ansprüchen genügt, war Weltmann geworden, umrissene Gestalt, Augenmerk von vielen, und wenn Ulrike an ihn dachte oder von ihm hörte, hatte sie die Genugtuung eines Künstlers über ein wohlgelungenes Werk, gesteigert durch behütete Heimlichkeit. Obgleich jedes von ihnen in eine Existenz verstrickt war, die Monate hindurch keinen Fleck gemeinsamen Bodens hatte, fanden sie doch aus ihren wirbelnden Sphären immer den Weg zu einander. Es bestätigte die Ähnlichkeit in ihrer beider Natur, daß der Aufstieg des einen mit dem des andern gleichen Schritt hielt. Sie sahen sich nach Tagen oft nur eine atemraubende Viertelstunde und blieben im verschwiegenen Bund als Kameraden, die sich in harten Zeiten durch die Wildnis geschlagen haben.
Hier halten wir einen Augenblick inne, um einen entscheidenden Charakterzug Ulrikes festzustellen. Nämlich nicht bloß ihren Opfern bewahrte sie eine unbedingte Anhänglichkeit, sondern auch diejenigen wußte sie mit eisernen Klammern an sich zu fesseln, denen sie Beistand geleistet, und ihre Treue war um so stärker, je mehr sie eine Überlegenheit, sei es im Guten, sei es im Bösen, anzuerkennen hatte. Sie sammelte Leben. Sie riß die freien Kräfte an sich. Es durfte nichts verloren gehen. Es mußte sich alles bezahlen.