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Ulrike Woytich trug ihre Jahre schwer. Zwar leugnete sie sich und andern keines ab; dazu war kein Anlaß. Vor allem befriedigte der Rückblick: sie war weit gegangen, gut gegangen, schön gegangen. Man spürte eine angenehme, anständige und natürliche Müdigkeit des Leibes. Sie hätte nichts vom Wege missen mögen; sie hätte ihn nicht abwechslungsreicher und nicht friedlicher haben wollen; sie hegte keine Reue, keine Scham, keine Trauer, keine verspäteten Wünsche; sie philosophierte nicht über die Vergangenheit, sie mäkelte nicht an ihr, sie färbte sie nicht süßlicher und verfiel bei ihrer Betrachtung weder in Bigotterie noch in die allenthalben aufgespannten Netze der Theosophie; sie ließ sie bestehn und schaute sie an wie ein Maler das vollendete Bild, das keines Pinselstrichs mehr bedarf und auch keinen mehr verträgt.
Es war nichts versäumt worden. Es war alles zur richtigen Zeit und am richtigen Ort geschehn, was hatte geschehn müssen; es war alles vollbracht worden, wie es die Umstände und Fügungen erfordert hatten.
Aber: daß es gewesen war, ein für allemal gewesen, nie wieder möglich, nie wieder erlebbar, das konnte sie nicht verwinden, dagegen haderte sie, das beseufzte sie, damit konnte sie nicht ins reine kommen. Da genügte kein: schade, daß es vorüber ist, da gab es Stunden, wo Ungeduld und Groll die Dämme brachen. Das Blut wurde kühler, die Sinne schliefen ein, aber der Geist flammte noch; längst war das Taggestirn erloschen, längst war aus Abend Nacht geworden, aber ruhen konnte sie nicht, vergessen konnte sie nicht. Ja, man verhängt die Fenster, schimpft über das schlechte Wetter und die Kälte, wirft sparsam ein paar Scheite in den Kamin, drückt den Kopf in das Polster des Lehnstuhls und träumt: unvollkommene Vergnügungen des Alters; kläglicher Abschein des Gewesenen.
Verdrängt aus der Erinnerung hatte sie die Jahre des Übergangs aus der Fülle in die Dürre, aus der Glut in die Dämmerung, aus Menschenschwarm und Menschenjubel in Einsamkeit und Stille, darum verdrängt, weil mit ihnen die Unerfreulichkeit begonnen hatte. Den allein untrüglichen Spiegel hatte sie nie aus der Hand gelassen, der: Wissen um sich selber heißt. Sie hatte nicht gewartet, bis man ihr freundlich-grausam bemerkbar gemacht hatte: es ist eine zuviel dahier, eine mit Krähenfüßen um die Augen und Runzeln am Hals, eine, der die Zähne im Mund zu wackeln und die Knie beim Schreiten zu wanken beginnen, die schrille Mißtöne hervorbringt, wenn sie lacht und ihre fünf Dezennien mühselig auf viereinhalb herunterhandelt. Nein; sie hatte sich erhoben, hatte nach allen Seiten verbindlich gegrüßt und in aufrechter Haltung, wenn auch mit vergiftetem Herzen den Festsaal verlassen. Und während die muntre Versammlung des Glaubens war, sie werde zurückkehren, um der zu Ende gespielten Rolle noch einen lächerlichen Schnörkel anzuhängen, während man sich wunderte und nach ihr fragte, denn die Welt will verstoßen, sie will nicht, daß man sich ihr entzieht, hatte sie sich in die vorsorglich bereitete Klausur begeben, um dort den restlichen, minder ergötzlichen Teil des Programms zu erledigen. Ein dornenvoller Gang, zu dem Entschlossenheit nötig gewesen war. Eine Weile noch dauerte der Lärm im Ohr fort; die gleichlaufenden Tage lasteten; Aufbäumen und Zähneknirschen; dann trat Ruhe ein.
Und: Du hast gelebt, Ulrike Woytich! du hast genossen und abergenossen; du hast den vollen Becher an die Lippen gepreßt und um- und umgestülpt, bis kein Tropfen mehr drinnen war; jauchzend bist du durch ihre Städte gezogen und hast mit geschäftiger, im Empfangen niemals lässiger Hand die Gaben entgegengenommen, die sie dir gespendet haben, dir und deiner Jugend und deiner Tüchtigkeit und deiner Fröhlichkeit und deinen beweglichen Sinnen. Das stand unverrückbar fest. Man hatte seine Trophäen. Es war nichts, aber auch nichts versäumt worden.
Damals, als sie mit reicher Beute beladen dem Hause Mylius Valet gesagt, hatte sie bald das Sprungbrett gefunden, um in die Mitte des Lebens zu gelangen. Sie sprang, sah sich furchtlos um, erblickte eine Leiter und begann Sprosse um Sprosse hinaufzuklettern; nicht zu langsam, nicht zu schnell. Sie war nacheinander: Reisebegleiterin; Vorleserin; Gesellschafterin; befreundeter Gast zweier Prinzessinnen; unentbehrliche Stütze einer Herzogin; Palastoberste eines russischen Fürsten von legendärem Reichtum; Vergnügungsreisende auf eigene Faust; und schließlich und vor allem: Dame; Dame von Stand, Vermögen und Einfluß; Generalstochter (der Vater war im Tode avanciert), Liebling der aristokratischen Zirkel, Gnadenperson bei allen, die etwas galten und bedeuteten in der Welt.
Sie hatte stets Empfehlungen wie der geehrteste Abkömmling eines alten Geschlechts. Keine Tür blieb vor ihr verschlossen. Öffnete sie sich nicht beim erstenmal, so doch beim zweiten; war der Schlüssel nicht da, so fand sich ein Dietrich. Ihr widerstand kein Pförtner, kein Lakai, keine Vorschrift, keine Exklusivität. War sie einmal da, so gab es keinen Zweifel mehr, daß sie berechtigt war, da zu sein. Sie hatte die Form, sie wußte das Wort, und sie war überall im Lauf von fünf Minuten akklimatisiert. Sie sprach mit Italienern italienisch, mit Franzosen französisch, mit Engländern englisch und beherrschte die Sprachen bis in die entlegensten Winkel ihrer Argots und Dialekte. Sie hatte die Melodie einer jeden im Ohr und ihre Finessen in den Fingerspitzen. Sie fesselte den Politiker auf seinem Feld, den Industriellen auf seinem, den Soldaten, den Seemann, den Gelehrten, den Journalisten. Sie kombinierte Zusammenhänge wie eine Wahrsagerin aus flüchtigsten Beobachtungen. Sie besaß die Phrase, bevor sie gewöhnlich wurde und schöpfte aus nie versagendem Gedächtnis. Sie lernte Lebensläufe auswendig und wenn sie sie beschrieb, bog sich alles vor Lachen. Sie kannte fünfhundert Anekdoten und erzählte sie so, daß dies allein schon genügt hätte, sie zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft zu machen. Wenn sie Familienverhältnisse schilderte oder Ereignisse aus ihrem Kreis, immer am Rand des Möglichen, der letzten Bosheit und Indiskretion, zitterten und kicherten die Zuhörer zugleich. Ihre eigentümlichste Kunst in der Menschenbehandlung bestand darin, derbe Wahrheiten zu sagen und dabei auf eine durchtriebene Weise zu schmeicheln, sich als Naturkind zu geben und dabei peinlich die Grenze zu beobachten, jenseits deren sie alles verscherzt haben würde. Je heimischer sie wurde, je kühner wurden die Verwirrungen, die sie anrichtete, die Ränke, die sie spann, die Abenteuer, in die sie sich stürzte. Sie brachte Menschen zusammen und Menschen auseinander, ohne daß man nur auf die Vermutung geriet, sie habe ihre Hand im Spiel. Sie knüpfte Ehen und zerstörte Ehen, schuf Freundschaften und sprengte Freundschaften, säte Mißtrauen in alte Beziehungen und zerrte Geheimnisse ans Licht, die bisher unangetastet geblieben waren. Traten dann die verhängnisvollen Folgen ein, Zerwürfnis, Haß und Streit, so machte sie den Friedensboten und Versöhnungsengel, war die bedankte Mittlerin und wusch ihre Hände in Unschuld. Eine Andeutung genügte oft, um den Giftstoff zu erzeugen, eine schlau gestellte Frage, um das lauernde Verderben in Fluß zu bringen. Bewegung mußte sein, Spannung, Wechsel, Entladung, Entfaltung. Ihre Lust war es, die Geister zu erhitzen und gegeneinander zu treiben, die Trägheit aufzurütteln, die Eigenliebe zu kitzeln, die Schwäche auszunützen und dabei ihre Macht zu erproben.
Die Gestalt und Beschaffenheit der europäischen Gesellschaft der letzten fünfundzwanzig Jahre ihrer Altersblüte war ihr so vertraut wie dem Botaniker eine bestimmte Gruppe von Pflanzen vertraut wird, wenn er ihr seine Teilnahme ausschließlich widmet. Sie kannte ihre Zusammensetzung, ihre Gliederung, ihre Lebensweise, ihre Interessen, ihre Laster und ihre Tugenden von Grund aus. Sie war von nichts anderem beansprucht als mit ihr zu schwelgen und zu schwärmen, zu tafeln und zu tanzen, zu meditieren und zu lachen, sich zu schmücken und zu betäuben. Sie teilte ihre Neigungen und Liebhabereien, machte ihre Moden mit, huldigte ihren Göttern und Götzen, diente ihrer Eitelkeit und bestärkte sie in ihrer Hoffart und in ihren Vorurteilen. Sie war eine Art von Marketenderin in ihren Lagern, aber treulich und vollkommen angepaßt ihren Umgangsformen, ihren Anschauungen und ihrer Tracht. Dies wußte sie; darum der Sturm, darum der Lärm, darum die wilde Jagd. Wenn alles auf dem Kopf stand, konnte sie um so geruhiger auf ihren beiden Beinen stehn und sich die Sache betrachten. Nichts blieb ihrem durchdringenden Blick von dem verborgen, was diese Leute trieben, die sie bewunderte und verachtete: ihre Geschäfte, ihre Pläne und ihre Sünden nicht. Verriet sie eine Partei an die andre, so hatte sie sich nicht bloß ihres Vorteils fest versichert, sondern war auch unangreifbar wie unter einer Tarnkappe. Nach und nach wurde sie Richterin in allen Dingen des Geschmacks, und ihr leichtentzündlicher Enthusiasmus, ihre österreichisch-slawische Schmiegsamkeit und Sinnhaftigkeit, eine mitgeborene Empfindung für Bild und Klang und Spiel und Rhythmus verschafften ihr Stimme, Anerkennung und Gefolgschaft. Bald war es ein Maler, bald ein Musiker, bald ein Schauspieler, für den sie sich einsetzte und ihre Freunde mitriß; es reichte nie weit und griff auch nicht hoch, aber sie gab die Rolle der Beschützerin und Förderin mit Anmut und Temperament; sie warb und blies die Fanfare und sorgte für den Ruhm und den Säckel ihrer Lieblinge und wurde von ihnen zum Dank gefeiert und als moderne Aspasia begrüßt. Sie reiste nach Weimar, um Liszt zu sehen, und nach Bayreuth, um Richard Wanger anzubeten, und nach Wien, um Makart kennen zu lernen, und nach London, um Adelina Patti zu treffen und nach Paris, um Rodin zu besuchen, und auf dem Weg waren überall Mittlere und Kleine, das Spatzenvolk, wie sie es nannte, das sie mit Lobeskörnern fütterte und dem sie einen Begriff von Welt, einen Geruch von Erlebnis und einen Eindruck von geprägter Persönlichkeit hinterließ.
Wie viele unvergeßliche Begegnungen; wie viele fremde und im Vorübergehen aufgeflammte Wunder des Geistes und Herzens; wieviel Ehrgeiz und stolzes Blut und zögernder Verzicht und junger Sieg und Rede und Widerrede und mutige Tat und echoendes Wort; wie das durch die Länder bebte und von Stadt zu Stadt schüchternen Wunsch nach Neuem und Werdendem trug, und wie sie, die Kluge, alles ein wenig unter sich ließ und ein wenig neben sich schob, ungläubig, wie man die Phantastereien von Kindern aufnimmt, und als wisse oder ahne sie, daß mit ihrer eigenen Herrlichkeit auch die der ganzen Zeit hinabsinken würde.
An allem genippt und den Kern von allem geschmeckt, die Süßigkeit und die Bitterkeit, Reiz und Verlust. Gegeneinandergewogen tauschten Süßes und Bitteres ihre Art und wurden als Würze eines. Halb träumend konnte sie sich in ein imaginäres Mausoleum versetzen, mit Mauernischen, in deren jeder eine Urne stand mit Aschenresten einer gelebten Leidenschaft. Hob man den Deckel, so kam zuerst ein leiser Duft von Verwesung, der dennoch betäubte, dann erschien Gestalt um Gestalt, Antlitz um Antlitz. Weit entfernt die einen, rührend nah die andern, schwach glühend diese, verblaßt und schon verkrustet jene. Sie drängten sich nicht auf, sie mußten gesucht werden und antworteten auch nicht immer dem Ruf der Erinnerung. Es war ein Totendienst.
Nichts war Last geworden; Schmerz und Kummer waren da nicht zu finden, nicht Leiden der Seele und unfruchtbare Sehnsucht. Es ging um die Stunde. War der Rausch vorüber, so war die Lust vorüber. Glück war wie ein Scherzen; Wagnis jedenfalls; in der Vielfalt war die Lockung, Meisterin war die Gelegenheit. Ohne Gefahr und Heimlichkeit kein Genießen; nur an praktischen Lebensgütern durfte nichts verloren gehen; Besitz und Habe mußten wachsen, und dafür den Instinkt zu schärfen, mit steter List und Berechnung beides in Sinn und Blick zu behalten, verlieh der Existenz eine erregende Doppelheit. Es gab einen bestimmten Abschnitt in ihrem Leben, zwischen dem achtundzwanzigsten und sechsunddreißigsten Jahr etwa, der eine ununterbrochene Folge romanhafter Ereignisse gewesen war: intime Beziehung zu zwei Brüdern, die in tödlicher Feindschaft zueinander standen; unter den verblendeten Augen einer Jungvermählten, deren innigste Vertraute sie war, den Mann ins Netz verstrickt, der dann nicht mehr von ihr lassen wollte, so daß sie Hals über Kopf hatte flüchten müssen, um Skandal und Ärgernis zu verhüten. Geliebte eines Diplomaten und aufs bedrohlichste kompromittiert, ja nahe daran verdächtigt zu werden durch das nie aufgeklärte Verschwinden wichtiger Papiere, aus welcher Bedrängnis sie sich nur hatte retten können, indem sie den Sohn dieses Mannes behext und zu ihrem überzeugten Anwalt gemacht hatte; wochenlange tolle Fahrt durch halb Europa mit einem Opernsänger, den sie einer vor Eifersucht rabiaten Gräfin entführt; dazwischen Tändeleien, um die leere Zeit zu füllen; Verwicklungen ohne Tragik; so leicht wie sie geschürzt waren, lösten sich die Knoten; ein Wort war Kuppler, ein Blick beendete das Spiel.
Wenn sie durch ihre Zimmer schritt, diese Räume der Erinnerung, grüßte ihr Auge lauter Zeugen der unwiederbringlichen Vergangenheit. So viel Dinge, so viel Weiser. Eine mit Halbedelsteinen besetzte Silberschale: das war die Juninacht in Venedig, umrahmt von Sternenglanz und Lichterglanz, wiedergekehrtes Bild aus sorgloseren Jahrhunderten. Das Porträt eines Jünglings im Pelz: die Schlittenfahrt in der russischen Steppe und abendliche Ankunft vor dem beleuchteten Herrenhaus; freudiges Gebell der Wachthunde und flimmernde Schneekappen auf den Zaunpfählen wie die Kronen von Winterelfen. Da ein silbergefaßter Handspiegel, an dem zärtlichstes Gedenken hing; dort ein Marmorfigürchen, umhaucht von südlicher Luft; die elfenbeinerne Briefschatulle; der geschmückte kleine Altar; die Vitrine mit der Schreibgarnitur; die griechische Lampe. Und all das war nur das Geringe, die Vor- und Nachernte, die Anzahlung gleichsam; aber jedes mahnte, jedes erzählte, in jedem spürte sie sich selbst. So und so war sie gestanden, gegangen, gesessen; in die und die Gesichter hatte sie geschaut; Augen waren wohlwollend und erwartungsvoll auf sie gerichtet, deutlich erkennbar noch alle, so schimmernd feucht, so sprechend. In Tanz und Umarmung erblickte sie sich, begehrt, gebietend; aber auch in Geschäften und Verhandlungen, als energische Mehrerin ihres Guts, später, in den Jahren, wo man nur noch die Scheune füllt.
So war sie gewesen, Ulrike Woytich, die jetzt in stillen Stuben herumging und die Inventur ihrer Schätze vornahm. Und war sie es noch? Wer war es, die da zurücksann, zurückspähte, zurücklauschte? Ulrike Woytich noch immer? Die Verfallene und halb Zahnlose, die Kindlose, Freundlose und in Fetzen Schlurfende: war das Ulrike Woytich? Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte beinahe zweifeln.
Es war gewiß der logische und unerbittliche Lauf der Natur. Kein Fehler war im Tun und Geschehen zu entdecken, nichts was hätte anders sein sollen. Gesättigt war sie vom Leben. Sie hatte rechtschaffen gedient und war belohnt entlassen worden. Nichts schuldig geblieben, keinem seine Schuld geschenkt. Ausgiebig gezecht, anständig gezahlt, und wenn sie selber die Wirtin gewesen, jegliche Sache zu ihrem Preis angesetzt. Sie hatte niemals überfordert, sie hatte niemals leichtsinnig gehaust. Ausschweifung war ein Begriff, den sie nur in der Anwendung auf andere kannte. Der Sturm der Leidenschaften und Gemütserschütterungen jeglicher Art hatte sie nicht besonders tief angerührt. Man mußte frisch bleiben, man mußte jeden Morgen wissen, was der Tag bringen würde, man mußte seine Leute in Atem halten. Sie dachte nicht hoch von der Entäußerung im Gefühl, denn sie wußte fast nichts davon. Eine Empfindung über die Jahre ausdehnen, das war die Sache der ewigen Abc-Schützen, die aus der Bibel lernten, daß man mit einem einzigen Goldstück Roß und Reiter vergolden kann. Sich in Abhängigkeit von Herzensregungen begeben, war töricht und nachteilig. Was sie da draußen in der Welt Liebe nannten, war eine gängige Münze, mit der einander zu täuschen die Menschen übereingekommen waren und an deren Wert und Echtheit außer ein paar Romantikern niemand recht glaubte. Es war eine hübsche, bisweilen nützliche, bisweilen unbequeme und in jedem Fall einfältige Lüge. Ein Augen- und Ohrentrug, eine äffende Spiegelung, eine Attrappe. Das hatte Ulrike Woytich ergründet, und diese Überzeugung konnte durch nichts wankend gemacht werden, durch kein Buch, kein Beispiel und keine Beteuerung.
Sie besaß eine wächserne Frucht, eine Birne, größer als ihre Faust und so meisterhaft dem Leben nachgeahmt, so verführerisch in Form und Flaum und Farbe, daß schon mancher danach gegriffen hatte, fragend und verlangend, um sie alsbald, fast erschreckt von der Kälte und Starrheit des Produkts, wieder an ihren Platz zu legen und sich beschämt abzuwenden. Sie lag auf einem Meißener Teller im französischen Zimmer, und es geschah zu Zeiten, daß Ulrike sie in die Hand nahm, sie mit spöttisch-erfahrenem Lächeln betrachtete und sich an dem weichen Kontur und goldigen Schimmer der toten Frucht vergnügte wie an einer glücklich gelungenen List.
Das Lächeln wollte besagen: darauf bin ich nie hereingefallen und damit kann man mich gottseidank auch weiterhin nicht ködern.