Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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5

Frank Milner war nicht gerade sehr gesellig und sah selten Gäste bei sich, aber er hatte durch seine früheren geschäftlichen Beziehungen und durch die Mitgliedschaft bei verschiedenen Klubs doch einige gesellschaftliche Verpflichtungen, denen er nachkommen mußte. Er gab daher alljährlich drei bis vier Herrenabende, zu denen er immer mehrere seiner näheren Bekannten einlud, und er setzte einen gewissen Stolz darein, daß von diesen seinen Abenden gesprochen wurde.

Für heute hatte Milner in dieser Hinsicht ganz besondere Anstalten getroffen, da er außer seinem Anwalt Crayton und seinem Hausarzt Dr. Warner, mit denen er sonst keine weiteren Umstände gemacht hätte, Robert Vane, den Chef des bekannten Londoner Bankhaus Praighton & Wellman, ferner den reichen Großkaufmann Thomas Flesh und schließlich als besonderes Dekorationsstück den Oberst Roy Gregory zu Tisch hatte, dessen Name fast täglich in der Mitgliederliste irgendeines Komitees zu lesen war.

Gleich dem Hausherrn waren alle Gäste Junggesellen – nur Vane war verwitwet –, und das Klubleben hatte zwischen ihnen eine gewisse oberflächliche Bekanntschaft geschaffen, die Milner durch den heutigen Abend etwas intimer zu gestalten hoffte. So wenig er auch von gesellschaftlichen Formen hielt, so wohl fühlte er sich im Kreise ehrenwerter Leute, und es schien ihm aus gewissen Gründen höchst vorteilhaft, mit Persönlichkeiten, die etwas galten, auf vertrauterem Fuß zu stehen.

Da ihm also an seinen heutigen Gästen sehr gelegen sein mußte, war er wütend darüber, daß der geschwätzige Crayton darauf versessen war, das große Wort zu führen. Der hagere Mann mit dem stoppeligen Faungesicht, dem leicht gekrümmten Rücken und den spindeldürren Armen und Beinen war zwar für gewisse Fälle ein ausgezeichneter Anwalt, aber er war kein Gesellschafter, den jeder vertragen konnte. Dazu hatte er zu viel von seiner Klientel angenommen, die sich nicht aus Lords und sonstigen Gentlemen zusammensetzte, sondern aus schlichten Leuten, die das Malheur gehabt hatten, in irgendeinen der vielen Fallstricke des Gesetzes zu geraten. Diesen Bedauernswerten galt die Lebensarbeit von Mr. Ernest Crayton, und ihnen gehörte auch sein ganzes Denken und Fühlen außerhalb der Schranken des Gerichtes und der schmierigen Wände seines Büros. Er verteidigte seine Klientel überall und bei jeder Gelegenheit; und wenn man ihm zuhörte, so durfte sich eigentlich nur derjenige für einen makellosen Ehrenmann halten, der dies durch einen gerichtlichen Freispruch dokumentarisch nachweisen konnte.

Milner war über alles das außer sich, und das Geschwätz Craytons ging ihm so auf die Nerven, daß ihm nicht nur jeder Bissen im Halse steckenblieb, sondern daß ihm sogar das Trinken verleidet wurde, was bei ihm sehr viel heißen wollte.

Das konnte auf die Dauer nicht so weitergehen, und deshalb begann er, Crayton höchst mißbilligend mit seinen vorstehenden, wasserblauen Fischaugen zu fixieren, aber es währte eine geraume Weile, bis der Anwalt dies bemerkte. Er klappte verwundert den Mund zu, kaute den großen Bissen, den er eben zwischen die Zähne geschoben hatte, ausnahmsweise zu Ende und sah Milner groß an.

»Ich glaube, Frank, Sie sind mit dem, was ich sage, nicht ganz einverstanden«, meinte er bissig. »Von Ihnen hätte ich das am wenigsten erwartet. Denn wenn Sie heute ein so ehrenwerter Mann sind und eine so ehrenwerte Gesellschaft bei einem so guten Essen bei sich haben können, so ist dies doch eben nur eine Bestätigung für die Richtigkeit dessen, was ich gesagt habe. Wenn Sie sich erinnern, wie oft wir beide vor Gericht gestanden haben . . .«

In diesem Augenblick entdeckte Crayton, daß Nick ihm eine prächtige Gansleberpastete unter die Nase hielt, und das gab seinen Gedanken glücklicherweise eine andere Richtung.

Milner trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn, goß ein Glas Whisky hinunter und warf einen ängstlichen Blick auf seine vornehmen Gäste. Aber diese hatten wohl die anzügliche Bemerkung des Anwaltes überhört, denn sie unterhielten sich sehr eifrig über andere Dinge.

Der Oberst war ein ausgezeichneter Erzähler, und er war überhaupt die interessanteste Persönlichkeit der Tafelrunde. Er mochte mit seinem leicht angegrauten Haar etwa fünfzig Jahre zählen, aber die dunklen Augen in seinem schmalen, tiefgebräunten Gesicht hatten einen stählernen Glanz, und seine mittelgroße, sehnige Gestalt verriet in allen ihren abgemessenen Bewegungen eine fast jugendliche Geschmeidigkeit. Er hatte bis vor wenigen Monaten in der indischen Armee gedient, war kreuz und quer durch das Land gekommen und hatte dabei manche aufregende Episode erlebt, die er nun in ungemein lebendiger und spannender Form einzuflechten wußte. Er sprach langsam und sehr gewählt, aber seine Stimme hatte wie sein ganzes Wesen etwas Herrisches, das nicht sehr sympathisch berührte.

Milner aber war von diesem seinem Gast entzückt, und nun, da die Gefahr einer bedenklichen Entgleisung Craytons vorüber schien, widmete er sich ihm mit ganz besonderer Aufmerksamkeit.

Oberst Gregory fühlte, daß er ihm dafür etwas Angenehmes sagen mußte.

»Ich bin Ihnen für Ihre liebenswürdige Einladung außerordentlich verpflichtet, Mr. Milner. Es ist einer der reizendsten Abende, die ich seit langem verbracht habe, denn man fühlt sich bei Ihnen wirklich behaglich. Ich liebe diese alten englischen Häuser, denn so unschön sie aussehen mögen und so bescheiden ihre Räume sind, es lebt eine wunderbare Stimmung in ihnen.«

Ein solches Lob war dem alten Hause noch nie gesungen worden, und sein Besitzer war darüber so selig, daß er sich immer wieder gegen den Oberst verbeugte und ihm zutrank.

Crayton aber hatte anscheinend auch das Bedürfnis, etwas dazu zu sagen, denn er kicherte sehr belustigt, wischte sich umständlich den Mund und sah dann Milner mit einem so boshaften Blick an, daß es diesem eiskalt über den Rücken lief.

»Sehen Sie, Frank«, meinte er und blinzelte Milner vielsagend an, »dasselbe habe ich Ihnen auch immer gesagt, wenn Sie über das Haus schimpften. Sie hätten es gar nicht besser treffen können. Das Haus paßt zu Ihnen, und Sie passen zu ihm. Es sieht zwar außen und innen aus wie ein Zuchthaus, ist aber keines, und es hätte für Sie viel schlimmer ausfallen können, wenn ich nicht gewesen wäre.«

Milner fand es plötzlich geraten, die Tafel aufzuheben, und bat die Herren in das anstoßende Rauchzimmer, wo Nick, steif wie ein Ladestock, schwarzen Kaffee und verschiedene Drinks servierte. Milner reichte schwere Zigarren herum und geriet allmählich in so gehobene Stimmung, daß er sich unbedingt einen Rausch angetrunken hätte, wenn er nicht an das Geschäft gedacht hätte, das ihm noch bevorstand. Vor Geschäften aber war seine Parole »Nüchternheit«, und er durfte sich diese Parole leisten, denn er konnte immerhin so viel trinken, daß zwei andere davon unter den Tisch gefallen wären.

Seine Gäste hatten es sich in den Klubsesseln bequem gemacht, und nachdem man länger als eine Stunde die obligaten Themen aller Herrenabende durchgesprochen hatte, trat endlich eine kleine Pause ein.

Der Oberst blickte als erster nach der Uhr.

»Sie werden mich nun wohl entschuldigen, Mr. Milner, aber ich habe leider noch eine sehr dringende Verabredung. Sonst wären Sie mich aus Ihrem gemütlichen Heim so bald nicht losgeworden. Wollen Sie die Freundlichkeit haben, meinen Chauffeur benachrichtigen zu lassen, und gestatten Sie, daß ich mich für die Fahrt etwas umkleide? Die Nächte sind bereits sehr kühl, und ich kann mich an das englische Klima nach den langen indischen Jahren noch immer nicht recht gewöhnen.«

Der Hausherr sprang wie ein Gummiball auf und hüpfte unter fortwährenden Bücklingen um den Oberst herum.

»Wie Sie befehlen, Oberst Gregory. Ich bin zwar sehr unglücklich, daß Sie uns schon verlassen wollen, aber ich hoffe, nun öfter die Ehre zu haben, Sie bei mir zu sehen. Ich werde sofort den Chauffeur rufen.«

Er rollte wie eine Kugel davon, und der Oberst ging langsam in dem etwas dürftigen Zimmer umher. Die Tür zum Speisezimmer stand offen, eine zweite gegenüberliegende Tür war geschlossen.

Neben dieser Tür stand Oberst Gregory eben und besah sich einen ziemlich gewöhnlichen Stich, als der Hausherr wieder hereinstürzte.

»Bitte, Oberst, hier bringe ich Ihnen Ihren Chauffeur.«

Der Oberst lächelte verbindlich.

»Sie sind außerordentlich liebenswürdig, Mr. Milner. Darf ich nun irgendwo ein bißchen Toilette machen?« Er legte die Hand auf die Klinke der Tür und sah Milner fragend an.

»Oh, hier ist nur mein bescheidenes Arbeitszimmer, Oberst Gregory«, wandte dieser lebhaft ein. »Wenn Sie mir in meinen Ankleideraum folgen wollten . . . Er ist auf der anderen Seite.«

Der Oberst winkte dankend ab.

»Ich möchte Sie nicht allzusehr bemühen. Ich will ja nur eine stärkere Weste und einen anderen Rock anlegen.«

Gregory klinkte die Tür auf und trat in den Nebenraum; sein Chauffeur folgte ihm in respektvoller Haltung mit einem eleganten kleinen Lederkoffer.

Frank Milner rieb sich die Hände und warf dann einen Blick auf die Uhr. Es ging bereits auf halb eins, und es war ihm daher angenehm, daß auch die übrigen Gäste sich zum Aufbruch, rüsteten. Nur Crayton traf keine Anstalten, aber mit diesem brauchte er ja nicht viele Geschichten zu machen.

Nach etwa einer Viertelstunde erschien Oberst Gregory wieder. Er trug statt des Smokings einen zweireihigen dunklen Sakko und darunter eine moderne Wollweste.

Wenige Augenblicke später fuhren die Autos ab, die den ganzen Abend über vor dem Hause gewartet hatten, und Milner konnte noch eine ganze Weile ihre Hupensignale hören.

Auch Crayton hatte sich zum Gehen entschlossen. Er wollte eigentlich erst den Nachtzug, der um zwei Uhr durchfuhr, benützen, aber Vane hatte ihm einen Platz in seinem Auto angeboten, und da konnte er nicht widerstehen.

Im letzten Augenblick zog ihn Milner unbemerkt beiseite.

»Sie werden immer unmöglicher, mein Lieber«, zischte der kleine zappelige Mann. »Man muß es sich wirklich überlegen, Sie mit anständigen Leuten zu Tische zu laden.«

Crayton verzog seinen breiten Mund zu einer höhnischen Fratze und klopfte Milner auf die Schulter.

»Ich werde nur von meinen Klienten eingeladen, Frank«, lallte er unverschämt, »und da trifft man keine anständigen Leute.«

*

Wenn sie mit ihren häuslichen Arbeiten fertig war, pflegte Ann ihre Abende mit der Instandhaltung ihrer Garderobe oder mit irgendeiner guten Lektüre zu verbringen, aber heute hatte sie weder zu dem einen noch zu dem andern Lust.

Sie entschuldigte das vor sich selbst damit, daß sie zu müde und abgespannt sei, aber in Wirklichkeit beschäftigte sie das Erlebnis des heutigen Nachmittags zu sehr, als daß sie zu irgend etwas die nötige Ruhe und Sammlung hätte finden können.

Die ganze Bedeutung dieses Vorfalles erschöpfte sich für sie allerdings in der Frage: Wer ist Harry Reffold?

Sie hatte sich diese Frage in den letzten Stunden immer wieder gestellt, ohne eine Antwort darauf zu finden, die sie befriedigt hätte. Bis heute mittag war er für sie ein sehr gut aussehender und sehr netter junger Mann gewesen, den sie vor kurzem auf der Heimfahrt von London kennengelernt und seitdem sowohl morgens wie nachmittags wiederholt getroffen hatte. Sie hatte bisher in ihm lediglich einen amüsanten Begleiter gesehen, der sie allerdings durch seine etwas spöttische Überlegenheit zuweilen in Harnisch brachte. Wer er war und was er trieb, das hatte sie bislang nicht beschäftigt.

Nun aber grübelte sie unausgesetzt darüber nach, und es wurde ihr schwer, sich über das zu beruhigen, was sie heute nachmittag gesehen hatte. Sie war in allen ihren Ansichten und Grundsätzen von einer fast peinlichen Korrektheit, und was er vor ihren Augen getan hatte, erschien ihr einfach unfaßbar. Dabei war er mit einer Ruhe und Geschicklichkeit vorgegangen, wie sie nur die Übung schaffen kann. Ann Learner preßte die Hände an die klopfenden Schläfen, als wolle sie die Kette der peinlichen Gedanken, die einander rastlos jagten, unterbrechen.

Sie schlenderte mechanisch zum Fenster des Eckzimmers, und nun lag der ziemlich große, verwahrloste Garten vor ihr, der von einem verrosteten Eisengitter eingefriedet war. Die uralten Kastanienbäume, die seinen einzigen Schmuck bildeten, waren bereits alle kahl, und das abgefallene vergilbte Laub bedeckte den Boden. Aus einer Entfernung von etwa fünfzig Schritt schimmerten die Lichter des Nachbarhauses herüber, und an der Rückseite des Gartens führte zwischen hohen Pappeln ein öder Fahrweg zur Themse.

Plötzlich war es Ann, als ob einer der schwarzen Baumschatten lebendig geworden und weitergehuscht wäre. Sie schauerte zusammen, und ihre Blicke starrten in ängstlicher Spannung in die Finsternis.

Da löste sich von einem der mächtigen Stämme eine Gestalt und schoß mit raschem Sprung dem nächsten Baum zu, mit dem sie sofort verschmolz.

Das junge Mädchen zitterte an allen Gliedern und suchte nach einem Halt.

Und nun sah sie eine hohe, breite Gestalt dem Hause zuschleichen, die sie unter Hunderten sofort erkannt hätte, weil ihre Gedanken sich seit langem mit ihr beschäftigten.

Mit lautloser Geschmeidigkeit schob sich der Schatten immer näher heran, und Ann ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.

Plötzlich stürzte sie zur Tür, und es schien, als solle im nächsten Augenblick ein gellender Hilfeschrei durch das Haus hallen. Aber an der Schwelle machte Ann jäh halt, der schöne blonde Kopf sank auf die schwer atmende Brust, und mit einem tiefen Wehlaut brach sie zusammen.


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