Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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15

Während Webster mit Burns im Eßzimmer der ›Queen Victoria‹ das erste Frühstück einnahm, gab er deutlich zu verstehen, daß die Methode, wie sein Kollege von Scotland Yard arbeitete, nicht seinen Beifall fand.

»So werden wir nicht weiterkommen, Oberinspektor«, sagte er entschieden und schob eine geröstete Brotscheibe, die er dick mit gebratenem Speck belegt hatte, in den Mund. »Nun renne ich seit drei Tagen hinter diesem verdammten Mr. Reffold drein, aber klüger sind wir dadurch bisher nicht geworden. Ich weiß nur, daß dieser Gentleman ein besonderes Faible für das Spazierengehen hat und daß er immer wieder um das Kastanienhaus herumstreicht. Dieser Umstand ist ja gewiß verdächtig, aber daraus allein können wir ihm noch nicht den Strick drehen, den er zu verdienen scheint. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Sache ganz anders anpacken. Sie scheinen ja etwas mehr zu wissen, Burns – weshalb greifen Sie da nicht zu und stecken den Burschen kurzerhand ins Loch? Glauben Sie mir, das ist das beste Mittel, um etwas zu erreichen, und man spart damit riesig viel Arbeit.«

Burns steckte den Zettel, auf dem er sich bisher eifrig Notizen gemacht hatte, in die Westentasche und rieb sich dann gedankenvoll die Nase.

»Es ist Ihnen doch hoffentlich ernst damit, daß Sie in Pension gehen wollen, Webster?« fragte er nach einer Weile unvermittelt.

Dem Inspektor war diese Frage nicht recht verständlich und auch nicht sehr angenehm. »Wie kommen Sie jetzt darauf?« meinte er mißtrauisch. »Das ist doch schließlich meine Sache. Haben Sie wirklich keine anderen Sorgen?«

Burns wiegte melancholisch den Kopf. »O doch. Leider eine ganze Menge«, sagte er und griff wieder nach dem Zettel, den er vorher eingesteckt hatte. Er überflog nachdenklich die Notizen und überlegte. »Genauer gesagt, sechs. Wenn Sie mir da helfen können, Webster, können Sie sich als Oberinspektor zur Ruhe setzen. Dafür bürge ich Ihnen.«

»Schießen Sie los«, forderte ihn Webster lebhaft auf, denn diese Aussicht kam seinem sehnlichsten Wunsche entgegen. »Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn zwei so erfahrene Burschen wie wir sich keinen Rat wüßten.«

»Es sind sechs Fragen«, sagte Burns mit gedämpfter Stimme, indem er sich über den Tisch beugte und auf seinen Zettel sah. »Erstens: Woran sind Milner und Stone gestorben? Doktor Shipley sagt, durch ein giftiges Gas, und wenn Shipley das behauptet, so ist diese Frage für uns erledigt. Aber dann Frage zwei: Wie ist das Gas in das versperrte Zimmer gekommen, und wo ist der Behälter oder die Zuleitung nachher geblieben? Vielleicht kommen wir darauf, wenn wir auf die Frage drei eine Antwort finden: Was hat vor dem Kamin gelegen oder gestanden, wie und von wem ist es entfernt worden? Dann Frage vier: Warum haben Milner und Stone daran glauben müssen, und was ist nachher geschehen? Wer hat die Juwelen? Der erste, der da war, oder die beiden andern, die nach ihm gekommen sind?«

Webster machte ein überraschtes Gesicht. »Das ist ja wieder etwas Neues. Seit wann handelt es sich denn dabei um Juwelen?«

»Für mich von Anfang an, lieber Webster. Dieser Stone hatte solche Dinger immer billig auf Lager, und Milner scheint ein Freund von Edelsteinen gewesen zu sein, wenn sie nicht viel kosteten. Dafür fragte er auch nicht weiter danach, woher sie stammen. Ich hätte gar nicht erst die Perle unter den Papieren auf dem Schreibtisch finden müssen, um zu wissen, daß die beiden bei einem solchen Geschäft gesessen haben. Aber wo blieb die Ware, um die es ging? Wegen einer Perle hätte sich Stone nicht um Mitternacht nach Newchurch bemüht, auch wenn sie, wie ich mir habe sagen lassen, gut ihre hundert Pfund wert ist. Also dürfte noch mehr dagewesen sein.«

Der Oberinspektor brach ab und starrte wieder auf seinen Zettel. »Dann Frage fünf: Welche Rolle spielt Mr. Reffold in dieser Geschichte? Daß er sich in der kritischen Nacht im Garten des Kastanienhauses herumgetrieben hat, weiß ich – aber alles andere ist mir rätselhaft. Warum, zum Kuckuck, ist er nicht gleich ausgerissen, sondern sitzt hier herum und spielt mit uns Katze und Maus? Zeit genug hätte er gehabt.«

Burns kratzte sich hinter dem Ohr und schien sich die Frage nochmals sehr gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Das wäre zwar seltsam«, murmelte er vor sich hin, »ist aber schon dagewesen . . .«

Webster liebte es nicht, wenn man ihm mit unverständlichen Andeutungen kam.

»Wenn Sie mit sich selbst sprechen wollen, Mr. Burns, dann muß ich ja nicht dabeisein«, sagte er verdrießlich. »Daraus kann kein Mensch klug werden. Also reden Sie so, daß das, was Sie mir sagen wollen, Hand und Fuß hat.«

Der Oberinspektor war schon wieder in seine Notizen vertieft. »Da ist also noch die Frage sechs«, sagte er. »Was hat Oberst Roy Gregory mit seinem Diener in dem Arbeitszimmer gemacht? Das wäre sehr wichtig zu wissen, aber damit brauchen Sie sich nicht zu beschäftigen. Das ist eine Sache, bei der man leicht in eine Schlinge geraten kann, und ich möchte nicht, daß Sie, knapp bevor Sie in den wohlverdienten Ruhestand treten, noch ein Malheur hätten. Übrigens wollen wir heute nachmittag einmal ausspannen und einen kleinen Ausflug machen. Vielleicht kommt uns dabei ein guter Einfall. Ich habe den hiesigen Kommissar ersucht, die Trümmer des niedergebrannten Wildhüterhauses aufräumen zu lassen, und da wollen wir dabeisein. Wir fahren um zwei Uhr mit einem Auto hinaus.«

Webster war von dieser Mitteilung nicht sehr begeistert und machte auch kein Hehl daraus. »Was soll denn das wieder heißen?« brummte er mißgelaunt. »Wie kommen Sie auf diese Idee?«

»Mr. Reffold hat mich darauf gebracht«, gestand Burns gelassen.

Der Inspektor war einen Augenblick sprachlos und blickte ihn verdutzt an. »So«, sagte er dann, und man merkte an seinen Mienen ebenso wie an dem Ton seiner Worte, wie einfältig ihm das vorkam, »und da fallen Sie gleich darauf herein?«

Er schlug sich auf den Schenkel und bog sich vor Lachen.

Burns war weder beirrt noch beleidigt, sondern nickte nur bedächtig.

»Jawohl. Ich glaube nämlich, daß wir beide gern einige Pfund geben würden, wenn wir manches von dem wüßten, was dieser Mann weiß. Wenn er mir etwas rät, so tue ich es. Ich bin schon einmal gut dabei gefahren.«

Webster sah ihn verständnislos an.

»Mit dem Brief im Garten«, sagte Burns. »Sie wissen ja, worin von dem Kranken die Rede war, den man Ihnen weggeholt hat . . .«

Webster fühlte sich, wie immer bei diesem Thema, etwas unbehaglich.

»Der war von Reffold?« fragte er ungläubig. »Woher wissen Sie denn das?«

»Durch einen kleinen Zufall«, erwiderte Burns kurz, nickte dem Kollegen flüchtig zu und schlenderte mit langen Schritten zur Tür hinaus.


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