Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30

Tonio Perelli saß bei dicht verschlossenen Fenstern in seiner dunklen Stube und lauschte ununterbrochen in die Nacht.

Seit dem unglücklichen Alarm, der ihn Sams und aller seiner anderen Leute beraubt hatte und bei dem er selbst nur mit knapper Not entschlüpft war, wußte er nur zu gut, wie die Dinge standen, und war daher jeden Augenblick, auf dem Sprung.

Er hatte in den letzten Stunden wiederholt daran gedacht, sich aus dem Staube zu machen, aber er mußte sich sagen, daß es dazu wahrscheinlich bereits zu spät war und daß er schließlich in ganz London keinen günstigeren Schlupfwinkel finden konnte als das Eiserne Tor. Selbst im Falle einer Überrumpelung standen ihm hier immer noch ungezählte geheime Wege zur Flucht offen, und er mußte schon ein ganz verdammtes Pech haben, wenn er hier der Polizei in die Hände geraten sollte.

Deshalb wäre er um seine Sicherheit auch nicht allzu besorgt gewesen, wenn ihm der Umstand, daß er jede Verbindung mit dem ›Herrn‹ verloren hatte, nicht äußerst beunruhigt hätte.

Seit zwei Tagen waren alle Apparate stillgeblieben, und da er es in der verflossenen Nacht für nötig gehalten hatte, das Kabel zu zerstören, konnte er nun einen Anruf überhaupt nicht mehr empfangen.

Perelli mußte unwillkürlich an den unheimlichen Teppich denken und an verschiedene Dinge, die damit zusammenhingen, und dabei überkam ihn ein Gefühl der Furcht, das ihn mit fiebrigen Augen in alle Winkel starren ließ.

Plötzlich fuhr er mit einem jähen Ruck empor, denn in das Dunkel der Stube fiel ein farbiges Licht, und allmählich begannen die kleinen Birnen auf dem Schaltbrett in kurzen Intervallen aufzuleuchten.

Der Italiener verfolgte gespannt und verwundert ihr Spiel, und seine Mienen verrieten, daß er sich die Sache nicht zu erklären vermochte. Es war keines der ihm bekannten Signale des ›Herrn‹, und doch konnte kein anderer als er an dem unterirdischen Apparat sitzen.

Nach einer Weile wurde die Tafel wieder dunkel, aber gleich darauf leuchteten die kleinen Birnen von neuem auf, und es war Perelli, als ob es diesmal ein Zeichen gewesen wäre, das er kennen sollte.

Er wartete noch eine Weile, dann öffnete er behutsam die Tür, schlich in den kleinen Flur und spähte lange und angestrengt in den finsteren Hof, in dem auch nicht ein Laut zu vernehmen war.

Geräuschlos glitt Perelli zum Schuppen, schlüpfte durch den halb geöffneten Eingang und lehnte sich an den monströsen alten Wagen, der dicht an der Mauer stand.

Nach einer Weile stemmte er sich gegen das Auto, und als dessen Räder sich in Bewegung setzten, glitt unhörbar die versteckte Tür zur Seite, die die Treppe verbarg.

Tonio zog eine kleine Taschenlampe hervor und zögerte noch einige Sekunden – dann fühlte er sich plötzlich von eisernen Fäusten gepackt, und über seinen Kopf flog eine dichte Hülle, die ihm den Atem benahm.

»Das wäre der Anfang gewesen«, flüsterte Burns, »wir können damit zufrieden sein.«

Er leuchtete mit seiner Blendlaterne die Treppe hinab und stieg dann als erster hinunter. Webster drängte sich dicht an ihn, denn nun, da es vielleicht zum Dreinschlagen kam, war er ganz bei der Sache. Sergeant Smith und drei der bewährtesten Leute von Scotland Yard folgten, und Harry Reffold schloß sich ihnen an.

Sie schlichen dicht an den Mauern Schritt für Schritt vorwärts, die Hände an den Kolben der schweren Revolver und jeden Augenblick eines Angriffes aus irgendeinem Hinterhalt gewärtig. Burns ließ das Licht seiner Laterne unausgesetzt über den Boden und die Wände spielen, und Webster leuchtete voraus in den Gang, so daß sich jeder der mächtigen Steinquader deutlich abhob.

Als sie an die beiden Türen kamen, gebot Burns durch eine Handbewegung Halt und untersuchte dann die massiven Schlösser, die an starken Eisenbändern hingen. Die Räume waren offenkundig fest verschlossen, und es war daher nicht zu befürchten, daß von hier eine Gefahr kommen konnte.

Der Oberinspektor wandte sich um und wollte den Weg fortsetzen, aber kaum hatte er einige Schritte weiter getan, als er rasch seine Lampe löschte und durch einen energischen Wink die anderen aufforderte, das gleiche zu tun.

In der nächsten Sekunde lag der Stollen in tiefen Dunkel, aber aus einem breiten Spalt der Wand, die knapp vor ihnen den Weg abzuschließen schien, drang ein fahler Schein.

Burns schob sich dicht heran und bemerkte nun, daß die Wand sich um eine Achse gedreht hatte und zu beiden Seiten genügend Raum war, um durchschlüpfen zu können.

Die Sache hatte ganz das Aussehen einer Falle, und es vergingen Minuten, bevor der Detektiv sich schlüssig wurde, was er tun sollte. Dann flüsterte er einem seiner Leute einen Befehl ins Ohr, und der Mann schlich den Weg, den sie gekommen waren, eilig zurück.

Der Oberinspektor stand mit angehaltenem Atem an der Lücke und spähte in den nächsten Abschnitt des Ganges, aber er konnte nur wahrnehmen, daß der Lichtschein aus einer Öffnung zur Rechten fiel und daß von dorther zuweilen ein leises Knacken drang, als ob ein Schalter gedreht würde.

Es währte fast eine Viertelstunde, bis der nach oben geschickte Mann mit zwei Begleitern zurückkam, und Burns postierte diese an die Maueröffnung, nachdem er ihnen einige kurze Anweisungen zugeraunt hatte. Hierauf schob er sich geschmeidig durch die Lücke, und die andern folgten ihm lautlos.

Sie standen in dem kleinen Vorraum zum Gemach des ›Herrn‹, die Zeigefinger am Abzug ihrer Waffen, und starrten in den luxuriösen Raum, der mit einemmal vor ihnen lag.

An dem großen Tisch ihnen gegenüber, aber nicht an der breiten, sondern an der schmalen Seite, so daß sie in dem gedämpften Licht nur das verschwommene Profil sehen konnten, saß ein mittelgroßer, schlanker Mann, der seine Sportmütze tief ins Gesicht gezogen hatte und mit krampfhaft zusammengepreßten Lippen auf ein großes Papier starrte, wobei er immer wieder ratlos und ungeduldig mit dem Kopf schüttelte.

Reffold hatte kaum einen Blick auf die Gestalt: geworfen, als er wußte, wer es war, und ein rasches Zucken des Oberinspektors und ein überraschtes Schnauben Websters sagten ihm, daß auch diese sich bereits darüber im klaren waren, wen sie vor sich hatten.

In diesem Augenblick mußte den Mann am Tisch irgendein Laut gewarnt haben, denn er warf blitzschnell den Kopf empor und fuhr von seinem Sitz auf.

Aber Webster war trotz seines gewaltigen Körpers schneller. Mit einem mächtigen Satz stand er bereits mitten im Raum, den Revolver auf die Brust des anderen gerichtet.

»Oberst Gregory – das Spiel ist aus . . . Hände hoch!«

Die Worte donnerten durch den Raum, der Websters kräftiges Organ erst voll zur Wirkung kommen ließ.

Gregory ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen, denn neben Webster standen auch schon vier andere Leute, und jede unvorsichtige Bewegung konnte ihm verhängnisvoll werden.

Er hob langsam die linke Hand und es kam Reffold, der ihn mit Spannung beobachtete, so vor, als ob es um seine Mundwinkel bedenklich zuckte.

»Sie müssen etwas Geduld haben«, sagte er gelassen. »Wie Sie ja wissen, habe ich mir in den letzten Tagen an der rechten Hand eine Verletzung zugezogen.«

Er brachte die andere Hand aus der Tasche und hielt nun beide Handflächen hoch.

»Bei welcher Gelegenheit?« fragte Webster, der sich zum Herrn der Situation berufen fühlte, weil Burns unbegreiflicherweise im Hintergrund blieb und nur ununterbrochen seine Nase rieb. »Ich glaube, es dürfte für uns von einigem Interesse sein.«

»Gewiß«, gab Gregory zu. »Bei einem kleinen Einbruch.«

Der Inspektor sah den Oberst mißtrauisch an. »Nun, so unbedeutend wird die Sache wohl nicht gewesen sein«, meinte er, »denn mit Kleinigkeiten haben Sie sich ja nicht abgegeben. Aber das werden war schon alles haarklein erfahren.«

Er nahm eine stramme, dienstliche Haltung an und wandte sich an Burns. »Damit wäre wohl alles erledigt, Oberinspektor . . .«


 << zurück weiter >>