Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Ann Learner stand bereits im Begriff, ihre Firma anzurufen, als sie sich die Sache wieder überlegte und den Entschluß faßte, lieber in die Stadt zu fahren und Mr. Brook ihr Anliegen mündlich vorzutragen. Sie konnte noch bequem den Mittagszug erreichen, und da ihr Chef nie vor vier Uhr das Kontor verließ, hatte sie die Gewißheit, ihn dort anzutreffen.

Sie machte rasch Toilette, und da sie seit dem schrecklichen Geschehen keinen Schritt aus dem Hause getan hatte, bedeutete die Fahrt für sie eine Abwechslung, der sie mit einer gewissen erwartungsvollen Ungeduld entgegensah.

Wenn Ann aber ehrlich gegen sich gewesen wäre, hätte sie sich eingestanden, daß die Ungeduld, die plötzlich über sie gekommen war, von einer geheimen Sehnsucht und Hoffnung herrührte, aber das junge, hübsche Mädchen war nicht ehrlich gegen sich, sondern redete sich nachdrücklich ein, daß sie nur das fieberhafte Bedürfnis habe, wieder einmal unter Menschen zu kommen.

Ohne nach rechts oder links zu blicken, legte sie den Weg zum Bahnhof zurück, und es schien, als ob sie mit ihrer Eile einer unliebsamen Begegnung entgehen wolle.

Aber als sie allein im Abteil saß und der Zug sich in Bewegung setzte, spiegelte sich in ihrem Gesicht etwas wie Enttäuschung wider, und sie starrte trüben Blicks auf die vorüberfliegende herbstliche Themselandschaft.

Sie hörte nicht, daß die Tür geöffnet wurde, und erst als Crayton sich vernehmlich räusperte, wandte sie sich um und sah die klebrigen kleinen Augen des Anwalts hämisch auf sich gerichtet. Er ließ sich ohne viele Umstände ihr gegenüber nieder, und als sie unwillkürlich aufspringen wollte, drückte er sie mit seiner dürren, behaarten Hand kurzweg auf ihren Sitz zurück.

»Bleiben Sie hübsch ruhig sitzen, Miss Learner«, sagte er mit einem widerlichen Grinsen, »und lassen Sie uns vernünftig reden. Es wird nur zu Ihrem Besten sein, wenn Sie mich anhören und wenn Sie sich entschließen, mit mir gut auszukommen. Ich bin zu lange Anwalt Ihres Onkels gewesen, um nicht verschiedenes zu wissen, was auch Ihnen sehr unangenehm werden könnte. Und außerdem« – er wog sichtlich jedes Wort, bevor er es aussprach – »möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß vielleicht verschiedene Ansprüche geltend gemacht werden könnten. Es wäre ja möglich, daß Milner bei seinen Geschäften die eine oder andere sehr bedeutende Verpflichtung eingegangen ist, die vielleicht erst später präsentiert werden wird. Da könnte es leicht passieren, daß Sie um alles kommen, was Ihnen so plötzlich zugefallen ist. Der alte, ehrliche Mr. Brook würde Ihnen da kaum helfen können. Vielmehr würden Sie einen gerissenen Anwalt brauchen, wie ich es bin . . . Was haben Sie denn überhaupt gegen mich, Miss Learner«, fuhr er einschmeichelnd fort und sah sie mit lüsternen Augen an. »Sie wissen gar nicht, wie gut ich Ihnen bin. Wenn Sie ein bißchen freundlich zu mir wären, würde ich Ihnen Dienste leisten, die Sie heute nicht einmal ahnen können . . .«

Ann verharrte wie gelähmt. Sie war weder imstande, etwas zu erwidern noch zu fliehen, und Crayton war entschlossen, ihre Hilflosigkeit auszunützen.

Er nahm ihre Hand, die sie ihm apathisch überließ, tätschelte sie zärtlich und drückte dann sein unsauberes, stoppeliges Gesicht darauf.

»Sehen Sie, Kindchen«, flüsterte er, und seine Augen funkelten gierig, »so gefallen Sie mir. Und es wird Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie etwas lieb zu mir sind . . .« Er setzte sich plötzlich neben Ann und legte seinen Arm begehrlich um ihre Schultern. »Schließlich bin ich ja . . .«

Ann fuhr wie aus einem fürchterlichen Traum empor, aber sie wußte noch lange Zeit nachher nicht, was sich in diesem Augenblick eigentlich zugetragen hatte . . .

Sie hatte nur plötzlich einen großen dunklen Schatten wahrgenommen, einen gewaltigen, polternden Krach gehört, und als sie dann nach einer Weile die Augen aufschlug, saß auf dem Platz ihr gegenüber, den kurz vorher der Anwalt eingenommen hatte, jemand anders.

Sie schloß rasch wieder die Lider und begann nach einer Weile durch das Fenster zu blinzeln, um sich zu vergewissern, ob sie wache oder träume.

Aber da waren die endlosen Züge, die nach Osten und nach Westen rollten, da waren die Themsedampfer, die mächtige Rauchschwaden in die Luft stießen und deren Sirenen ihr scharf ins Ohr gellten.

Und da saß unzweifelhaft in seiner ganzen Größe Harry Reffold, der sie mit seinem sympathischen Lächeln ansah. Das junge Mädchen blickte sich verwundert um, und als sie ihre Augen verlegen auf Harry richtete, lag darin eine stumme, ängstliche Frage.

Er nickte ihr beruhigend zu und zeigte vergnügt seine weißen Zähne. »Mr. Crayton ist fort, Miß Learner, und ich garantiere Ihnen dafür, daß Sie ihn so bald nicht wieder zu sehen bekommen werden.«

Ann atmete unwillkürlich tief und befreit auf. Zu sprechen vermochte sie nicht, aber in dem verlegenen, weichen Blick, mit dem sie ihn streifte, konnte Reffold lesen, daß sie ihm danken wollte.

Er fand das junge, selbstbewußte Geschöpf reizender als je und stellte mit Befriedigung fest, daß ihm selbst ein sehr kritisches Auge einen ausgezeichneten Geschmack zubilligen mußte. Er hatte sich in den letzten Tagen wiederholt dabei ertappt, daß ihm Ann Learner mehr beschäftigte, als es die Sache erforderte, und seine vergeblichen Versuche, sie wiederzusehen, hatten ihn in eine unerträgliche Laune versetzt.

Heute hatte er sie aber endlich doch abgepaßt, und als er ihr vorsichtig gefolgt war und dann im Gang gestanden hatte, um eine günstige Gelegenheit abzuwarten, war er gerade zur rechten Zeit gekommen, um den zudringlichen Crayton mit einem festen Griff vor die Abteiltür zu befördern.

Er sagte sich, daß er dem jungen Mädchen Zeit lassen müsse, sich von den Aufregungen der letzten Augenblicke zu erholen, und daß er nicht aufdringlich werden dürfe, wenn er ihre Bedenken zerstreuen wollte, ohne allzuviel verraten zu müssen.

Er brach daher das Schweigen, das eingetreten war, mit keinem Wort, und Ann war ihm dankbar dafür, denn sie gewann dadurch Zeit, sich zu fassen und zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte.

Aber sie kam nicht dazu, sich darüber schlüssig zu werden; denn als er endlich zu sprechen begann, geschah dies in so unbefangener, ehrlicher und bestimmter Weise, daß all ihre Zweifel an diesem rätselhaften Mann zu weichen begannen.

»Es ist nicht ratsam, Miss Learner«, meinte er und sah ihr dabei ernst und warm in die Augen, »daß Sie nach den gewissen Geschehnissen so ganz ohne Begleitung nach London fahren. Ich will Sie nicht ängstigen, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie als voraussichtliche Erbin Milners vielleicht das Interesse jener Kreise erweckt haben, die Ihrem Onkel so verhängnisvoll geworden sind, und da ist eine gewisse Vorsicht jedenfalls am Platze.«

Er merkte, wie sich ihre Augen vor Entsetzen weiteten und in einem jähen Impuls legte er seine Rechte auf ihre Hände.

»Sie haben nichts zu fürchten, Miss Ann«, beruhigte er sie, und um seinen Mund lag ein entschlossenes Lächeln, das sie sicherer machte als all seine Worte, »aber es ist gut, wenn Sie davon wissen, damit Sie keine Unvorsichtigkeit begehen, so wie heute«, fügte er launig hinzu. »Aber dafür werden Sie auch entsprechend bestraft werden, indem Sie sich meine Gesellschaft gefallen lassen müssen. Entweder freiwillig oder unfreiwillig – jedenfalls werde ich Ihnen auf Schritt und Tritt folgen, bis Sie wieder zu Hause sind.«

Trotz seines scherzenden Tons merkte Ann, daß es Reffold ernst war, und zum ersten Mal seit vielen Tagen flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Es verriet Harry mehr, als sie ihm je gesagt haben würde.

Die Unterhaltung verlief auch weiterhin sehr einsilbig, aber Ann Learner gestand später einmal bei einer gewissen Gelegenheit, daß sie sich trotzdem in dieser Stunde so glücklich gefühlt habe wie noch nie in ihrem Leben.

Als sie den Bahnhof verließen, entdeckte Reffold in der Menge plötzlich das lauernde Gesicht Craytons und fing einen Blick wildesten Hasses auf. Er winkte dem Anwalt gutgelaunt zu, lüftete mit übertriebener Höflichkeit den Hut und schwang sich dann lachend neben Ann in ein Taxi.

William Brook empfing seine Korrespondentin mit großer Herzlichkeit, und als sie zögernd ihre Bitte vorbrachte, war er sofort Feuer und Flamme.

»Es freut mich, Ihnen dienlich sein zu können, Miss Learner«, versicherte er ihr eifrig, »denn jetzt, wo Sie nicht da sind, wissen wir erst, was wir an Ihnen haben. Ich habe das zwar schon immer gewußt«, verbesserte er sich rasch, »aber auch Mr. Grapes singt jetzt jeden Tag Ihr Loblied in allen Tonarten.«

Mr. Grapes ließ es sich denn auch nicht nehmen, im Kontor des Seniorchefs zu erscheinen, um Ann in wohlgesetzten Worten seine Anteilnahme auszudrücken. Er war wie ausgewechselt und behandelte Ann ganz als vornehme Dame.

Als sie sich endlich losmachen konnte, fand sie Reffold bereits im Flur des alten Hauses warten. Er stand da wie ein Wachtposten, und als sie erschien, blickte er auf die Uhr.

»Wenn damit Ihre Geschäfte erledigt sind, Miss Learner«, sagte er, »könnten wir jetzt frühstücken gehen. Wir haben bis zur Abfahrt unseres Zuges noch sehr viel Zeit.«

Sie geriet über diese Einladung etwas in Verlegenheit, brachte es aber nicht über sich, kurzweg abzulehnen, wie sie es noch vor ein paar Tagen sicher getan haben würde.

»Ich habe leider noch eine Reihe von Besorgungen zu machen«, wandte sie ausweichend ein, aber Harry ließ sich dadurch nicht beirren.

»Ausgezeichnet«, erwiderte er lebhaft, »dann habe ich noch Zeit, eine Dame einzuladen, damit wir zu dritt sind. Es schickt sich wirklich nicht, daß ein junges, hübsches Mädchen allein mit einem Herrn speist, den es auf der Straße kennengelernt hat.« Er zwinkerte lustig mit den Augen, und Ann fand, daß diesmal sein Lächeln wieder ein bißchen impertinent war.

Tatsächlich verschwand Reffold in einer Telefonzelle und kehrte erst nach einer längeren Weile strahlend zurück.

»Alles in Ordnung, Miss Ann«, flüsterte er ihr zu. »Ich habe Ihnen eine Gardedame besorgt, die Ihnen gewiß gefallen wird.«

Das kleine Restaurant lag in einer Seitenstraße der Regent Street, und als Ann das elegante Lokal betrat, das mit erlesenem Geschmack eingerichtet war, fühlte sie sich einige Augenblicke äußerst befangen. Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt und gab sich mit einer so vornehmen Sicherheit, als wäre sie inmitten dieses kultivierten Luxus aufgewachsen.

Reffold schien in dem Lokal sehr bekannt zu sein und war offenbar bereits erwartet worden, denn sie fanden trotz des starken Besuchs eine der gemütlichen Nischen reserviert, und die Bedienung überbot sich in ehrerbietigster Beflissenheit.

Während Harry, das Monokel im Auge, mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis das Frühstück zusammenstellte und der Kellner devot seiner Befehle harrte, hingen Anns Blicke ununterbrochen an seinem energischen Gesicht, und wiederum drängte sich ihr die bange Frage auf: »Wer ist dieser Mann . . .?«

Als er endlich fertig war, wandte er sich ihr mit einem verschmitzten Lächeln zu.

»Sie entschuldigen, Miss Learner – aber das war eine sehr wichtige Sache. Ich möchte nämlich, daß Sie die Spezialitäten dieses Lokals kennenlernen.« Er sah etwas ungeduldig nach der Uhr. »Wir sind einige Minuten zu früh gekommen. Mrs. Carringhton ist sonst . . .«

Er brach ab, um einer Dame entgegenzugehen, die eben das Lokal betreten hatte und sich suchend umsah.

»Miss Learner«, sagte er, als er mit seiner Begleiterin zurückkehrte. »Mrs. Carringhton freut sich sehr, Sie kennenzulernen. Ich habe ihr schon viel von Ihnen erzählt.«

Ann sah in ein sympathisches Frauengesicht, das sie mit lebhaftem Interesse musterte, und sie konnte in ihrer reizenden Verlegenheit nichts anderes tun als mit dem Kopf nicken und die dargereichte Hand herzlich schütteln.

Die kurze Begrüßung war ganz unauffällig vor sich gegangen und in einem derartigen Etablissement gewiß auch etwas ganz Alltägliches, aber auf einen der Gäste hatte sie doch eine ganz außerordentliche Wirkung gehabt.

Dr. Shipley, der in der nächsten Nische saß, hatte plötzlich den Namen Mrs. Carringhtons vernommen, und das genügte, um ihn gespannt aufhorchen zu lassen. Er beugte sich neugierig vor, zog sich aber blitzschnell wieder zurück, als er zu seinem größten Erstaunen seiner Hausdame ansichtig wurde, die eben eingetreten war.

Ihr plötzliches Auftauchen an diesem Ort und in fremder Gesellschaft ließ ihn in fieberhafte Erregung geraten, und es drängte ihn, Näheres über die Zusammenhänge zu erfahren. Er sagte sich zwar, daß er sich eigentlich um das Tun und Lassen von Mrs. Carringhton nie gekümmert hatte und daß ihn dieses auch gar nichts anginge, aber das von Eifersucht geschürte Mißtrauen ließ ihn alle ruhigen und vernünftigen Einwendungen beiseite schieben. Er lauschte angestrengt, um von der allmählich immer lebhafter und fröhlicher werdenden Unterhaltung in der anderen Nische ein Wort aufzufangen, das ihm irgend etwas verraten hätte, aber es war immer nur von ganz gleichgültigen Dingen und von Newchurch die Rede.

Als dann eine männliche Stimme einfiel und längere Zeit sprach, spiegelte sich in den Mienen Dr. Shipleys plötzlich lebhafte Spannung, und er schien jedes Wort in Klang und Tonfall nachzuprüfen.

Kein Zweifel, diese Stimme hatte er schon einmal gehört. Er wußte noch heute jedes Wort, das sie gesprochen hatte.

Er erhob sich geräuschlos, schlenderte an das Ende des Speisesaals und ging dann an der anderen Seite vorsichtig so weit vor, bis er Einblick in die Nische gewinnen konnte.

Er sah eine hohe, breitschultrige Gestalt. Auch diese Gestalt kannte er. Sie hatte ihn aus dem Wagen bis vor seine Haustür geführt, hatte ihn mit einem geschickten Griff von dem Knebel befreit und war dann mit einem Satz wieder in das Auto gesprungen, das mit angelassenem Motor gewartet hatte.

Und nun frühstückte Mrs. Carringhton mit diesem geheimnisvollen Mann.

Dr. Shipley verließ das Lokal eiligst durch einen rückwärtigen Ausgang. Er verwünschte Lady Crowford und verwünschte sich selbst, weil er Webster gegenüber so zurückhaltend gewesen war.

Aber das wollte er wieder gutmachen. Er war nicht mehr gesonnen, auf Mrs. Carringhton irgendwelche Rücksicht zu nehmen.

Harry Reffold schlürfte mit großem Behagen eine Auster und wandte sich dann lächelnd Mrs. Carringhton zu. »Ich muß Ihnen etwas mitteilen, Cicely, was Sie sehr interessieren dürfte.«

Mrs. Cicely sah ihn erwartungsvoll an, und Harry blinzelte ihr fröhlich zu.

»Doktor Shipley war eben hier und hat sich sehr für uns interessiert.«

Mrs. Carringhton errötete und sagte nur: »Oh.« Dann begann sie nervös mit ihren Ringen zu spielen.


 << zurück weiter >>