Louis Weinert-Wilton
Der Teppich des Grauens
Louis Weinert-Wilton

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23

Mrs. Emily schob mit ihren fleischigen Fingern die Karten, zurecht, die sie auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Verlaß dich drauf, Mag«, sagte sie sorgenvoll und tippte nachdrücklich auf den Pique-Buben, »es steht nichts Gutes ins Haus. Entweder geschieht wieder etwas Schreckliches, oder wir werden gekündigt, oder ich muß mich so ärgern, daß ich wieder meine Magenkrämpfe kriege.«

Der schrille Ton der Hausglocke enthob Mag der Antwort. Als sie nach einer längeren Weile zurückkam, hatten die schwierigen Probleme der neu aufgelegten Karten Mrs. Emily ihren Ärger bereits vergessen lassen.

»Wer war das?« fragte sie nur so ohnehin.

»Der Herr von Miss Ann«, erwiderte Mag und verzog den breiten Mund bis zu den Ohren. »Sie werden sehen, der Herzbub . . .«

Mrs. Emily besah sich bedächtig die Stellung der Karten und überlegte. »Na ja«, meinte sie und wiegte den Kopf, »etwas scheint sich ja vorzubereiten. Es steht schon auf dem Wege, nur ist da noch verschiedenes dazwischen: eine schwarzhaarige Dame und ein Brief, und hier steht ins Haus jemand, der nicht wohlgesinnt ist. Da kann man also nichts Gewisses sagen. Wenn ich Miss Ann wäre und ihr Geld hätte, würde ich mir's auch dann noch überlegen, wenn die Karten besser stünden. Denn mit den Männern macht man so seine Erfahrungen. Solange sie jung sind, laufen sie allen Schürzen nach, und wenn sie älter werden, fangen sie an zu saufen.«

Mag paßte dies verallgemeinernde Urteil nicht, und sie versuchte Einspruch zu erheben.

»Nick läuft doch sicher keiner andern nach«, verwahrte sie sich.

»Nein, der nicht«, gab Mrs. Emily zu, »weil er sogar dazu zu blöd ist. Darum hat er sich gleich von Anfang an auf den Suff verlegt und sich so ein Gesteck wie dich ausgesucht. Auch ein Geschmack! Im übrigen kannst du ihm raten, daß er mir heute nicht in die Nähe kommen soll, sonst setzt es etwas. In einem halbwegs anständigen Haus betrinkt man sich höchstens am Abend, aber nicht schon am hellen Mittag . . .«

In dem dunklen Eßzimmer hatte mittlerweile Harry ziemlich lange warten müssen, bevor Ann erschien.

»Das ist ganz gegen unsere Verabredung, Mr. Reffold«, begrüßte sie ihn. »Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich hie und da begleiten, aber Besuche habe ich Ihnen nicht gestattet. Es tut mir leid, daß ich Sie daran erinnern muß.«

»Mir auch«, versicherte er betrübt, »aber ich habe natürlich einen Grund, der mich entschuldigt.«

»Dann lassen Sie ihn möglichst rasch hören.«

»Ob es gar so rasch gehen wird, weiß ich nicht, Miss Ann. Aber ich werde mich jedenfalls bemühen. Aber es handelt sich um den Besuch, der heute während Ihrer Abwesenheit hier war. Die Sache interessiert mich nämlich.«

»So? Und da fallen Sie einfach ins Haus? Das ist doch wirklich kein triftiger Grund.«

»Oh, doch. Ich möchte mir nämlich die Uhr auch einmal ansehen.«

»Davon werden Sie nicht viel haben. Es ist zwar ein altes Stück, aber kein Kunstwerk.«

Da Harry aber trotzdem darauf bestand, begleitete sie ihn in das Arbeitszimmer, und er machte sich sofort daran, die alte Pendüle einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Sogar das Gehäuse öffnete er, und auch in dem Gehwerk stocherte er herum.

Ann sah ihm spöttisch zu. »Mir scheint, Sie interessieren sich für alles, nur für keine wirkliche Arbeit«, sagte sie spitz, als er endlich fertig war.

»Sie haben es getroffen«, gab er unumwunden zu und lachte sie an, aber das junge Mädchen begann plötzlich ernstlich ärgerlich zu werden.

»Schämen Sie sich wirklich nicht, das einzugestehen? Wie kann ein Mann in Ihren Jahren ein solches Leben führen? Es geht mich zwar eigentlich nichts an, aber durch Ihre Zudringlichkeit haben Sie mir das Recht gegeben, Ihnen meine Meinung zu sagen. Was sind Sie eigentlich, und was treiben Sie? Treiben Sie irgendwelche dunklen Geschäfte? Es hat eine Zeit gegeben, da ich das glaubte. Oder sind Sie Polizeibeamter? Auch daran habe ich schon gedacht, aber als ich Sie näher kennenlernte, sagte ich mir, daß Sie wohl weder das eine noch das andere sein dürften, da Ihnen zu beidem der notwendige Ernst fehlt. Ich glaube, Sie dilettieren einfach überall herum, weil Sie sich doch einreden möchten, daß Sie etwas tun. Ich kann mich ja vielleicht irren . . .«

»Nein, Sie irren sich leider nicht, Miss Ann«, unterbrach er sie, und sie war sehr überrascht, wie eigentümlich er sie ansah und wie ernst er sein konnte. »Sie sind eine sehr kluge Frau, und ich bin Ihnen aufrichtig dankbar dafür, daß Sie so ehrlich waren. Ich habe zwar das, was Sie mir eben sagten, schon oft hören müssen, aber es hat noch nie einen solchen Eindruck auf mich gemacht. Sie dürfen mir glauben, daß ich mich danach richten werde.«

»Das sollte mich freuen, Mr. Reffold«, sagte sie lebhaft und mit Wärme, und er war entzückt über die leichte Röte, die dabei ihr hübsches Gesicht überzog.

»Und was gedenken Sie nun zu tun, Miss Ann?«

Sie blickte ihn groß und kühl an.

»Was ich bisher getan habe. Ich nehme nächste Woche meine Arbeit wieder auf, da ja nun die unangenehmen Dinge gottlob erledigt sind.«

Er hatte plötzlich wieder sein impertinentes Lächeln.

»Sie werden also wieder Mr. Brooks Schreibmaschinen bearbeiten?« fragte er etwas überrascht und tippte mit den Fingern. »Trotz der großen Erbschaft?«

In ihre Miene kam ein scharfer Zug, und aus ihrer Antwort klang eine gewisse Herausforderung.

»Ja, Mr. Reffold. Das können Sie wohl nicht verstehen? Und noch weniger werden Sie wahrscheinlich begreifen, daß ich von der großen Erbschaft nichts anderes zu behalten gedenke als dieses Haus.«

Harry starrte sie sekundenlang verwundert an.

»Weshalb, Miss Ann . . .«

»Weil mir verschiedenes zu Ohren gekommen ist, das mir jeden Penny dieses Geldes verleiden würde«, erwiderte sie etwas verlegen. »Mr. Brook sagt zwar, ich sei überspannt, aber . . .«

Miss Ann Learner vermochte nicht weiterzusprechen, denn plötzlich stand Harry dicht vor ihr, und sie vernahm nur noch: »Sie sind ein Prachtmädel, Ann . . .«

Was weiter geschehen war, ließ sich nie so recht feststellen, denn während Harry immer wieder beteuerte, daß er nur ihren Kopf leicht an sich gezogen und sie ganz schüchtern auf die Stirn geküßt hätte, behauptete Ann entrüstet, er hätte die Unverschämtheit gehabt, sie in seine Arme zu nehmen und ihre Lippen mit einem Kuß so fest zu verschließen, daß sie nicht einmal zu atmen, geschweige denn zu schreien vermochte.

Aber diese Auseinandersetzung ergab sich erst später.

Unmittelbar nachdem die Sache geschehen war, sagte Ann nur: »Genug, Mr. Reffold . . . Bitte, gehen Sie jetzt . . .«

Sie hatte dabei ein sehr erhitztes Gesichtchen und sehr leuchtende Augen, die aber angelegentlich auf den Boden sahen. »Darf ich wiederkommen, Ann?« fragte Harry leise, und es schien ihr, als ob er niederträchtiger denn je lächelte.

»Nein«, erwiderte sie entschieden und hob zum ersten Male wieder den Blick. »Wenn Sie so albern fragen, nie mehr . . .«


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