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Sczanowa lag einige Meilen von der Grenze auf einer mäßigen Erhöhung des Weichselufers. Das, was die Besitzer selbst »das Schloß« nannten, war ein lang hingestrecktes Gebäude unter Strohdach, dessen beide Flügel sich im rechten Winkel an einen viereckigen plumpen Turm von drei Stockwerken anlehnten, der aus rohen Feldsteinen aufgeführt war und wohl schon ein paar Jahrhunderte überdauert hatte. In den Seitenflügeln befanden sich menschliche Wohnungen, aber auch Ställe für Pferde und Vieh und unter den Dächern Getreideschüttungen. Vor den Türen lagen ungeheure Misthaufen auf dem Hofe, der auf der dritten und vierten Seite teils durch Gebäude, deren Dach fast bis zur Erde reichte, teils durch einen verfallenen Palisadenzaun abgegrenzt wurde. Um dieses Viereck lagen ohne Ordnung Lehmhütten von schlechtestem Aussehen in großer Anzahl, die meisten mit seitwärts gesenktem Strohdach und gestütztem Giebel. Weiter die Uferhöhe hinauf zeigten sich auch noch einfachere Wohnplätze: bloße Bedachungen über Gruben, an den Giebelseiten durch aufgeschichtete Rasenstücke notdürftig geschlossen, ganz ohne Fensteröffnungen und mit einem niedrigen Loch statt der Tür. Noch weiter hinaus, schon nahe der Uferböschung, waren in langen Reihen mächtige Baumstämme, daneben auch Bretter aufgestapelt. Von hier führte ein breiter Weg zum Flusse hinab, wenn man eine geebnete Strecke einen Weg nennen will.
Nirgends die Spur eines Gärtchens um die Hütten, vor denen nur ungeheure Haufen trockenen Strauchwerks lagen, selbst auf dem Schloßhofe und auswärts der beiden Flügel des Hauptgebäudes kein Baum; alles unendlich kahl und nüchtern wie die ganze nächste Umgebung, die eine weite Ackerfläche sein mochte.
Es war Winter. Schnee lag auf der Plattform des Turms und in dessen tiefen Fensterbrüstungen, Schnee auf den breiten Strohdächern ohne Schornstein, Schnee auf dem Hofe und auf der weiten Fläche ringsum, bis zu den blauschwarzen Waldungen, die landeinwärts in ununterbrochener Flucht den Horizont abgrenzten. Der Fluß war mit Eis bedeckt; es glitzerte augenblendend in der Sonne, wo der Wind streckenweise den Schnee fortgefegt hatte.
Eine Landstraße war nirgends sichtbar; aber über die Schneefläche führten in verschiedenen Richtungen Gleise nach dem Walde hin oder von demselben her, unregelmäßig, oft einander kreuzend. Es schien, daß jeder gefahren war, wo es ihm gefiel. Auch jetzt bewegten sich Fuhrwerke von eigentümlicher Gestalt auf dieser Fläche hin und her. Die von der Uferhöhe abgehenden bestanden aus zwei durch eine lange Kette verbundenen Schlitten, eigentlich nur Schlittenkufen. Darauf saßen Männer in weißen Schafpelzen und Pelzmützen, Sandalen an den Füßen, deren Riemen bis fast zum Knie hinauf die Wade kreuzweise umwickelten, darüber Holzschuhe mit einer Strohfüllung zur besseren Erwärmung. Einer auf dem vorderen Schlitten trieb mit der Peitsche die kleinen rauhhaarigen Pferde zu eiligstem Lauf an. Die entgegenkommenden Fuhrwerke bewegten sich dagegen in langsamem Schritt; sie waren von derselben Beschaffenheit, aber beladen mit langen Baumstämmen, von denen manche wohl achtzig Fuß messen mochten und mit der dünn auslaufenden Spitze im Schnee mühsam nachschleiften. Die Männer saßen rittlings gegen den Wind und oft die Arme über der Brust zusammenschlagend, um sich zu erwärmen. Ihre Äxte und Beile steckten im Holze. Mitunter fuhren mehrere solcher Schlitten hintereinander her, und dann begleitete sie auch wohl ein Reiter, der eine von Riemen geflochtene Peitsche an kurzem Holzstiel vorn im Pelz stecken hatte oder gelegentlich auch über den Rücken der Fuhrknechte schwang, wenn sie die Pferde nicht gehörig antrieben und im Schnee steckenblieben.
Im Walde war jetzt der Boden gefroren; auch die Sümpfe und Moräste, die im Sommer selbst das Elchwild mied, hielten jetzt den Tritt der Pferde und Menschen aus. Dort ließ die Herrschaft von den leibeigenen Bauern und Knechten die mächtigen Bäume fällen, abästen und zum Transport zurichten. Überall vernahm man die Schläge der Axt, das Krachen und polternde Niederfallen der getroffenen Stämme, das Schreien der beschäftigten Leute, das Fluchen und Wettern der Aufseher. Unter ihnen bewegten sich auch einige Juden in pelzgefütterten Kaftanen, mit langen schwarzen Locken vor dem Ohr. Sie hatten das Holz von dem Herrn von Sczanowo gekauft und bezeichneten nun die Stämme, die sie geschlagen wünschten. Die Aufseher mußten wohl von ihnen gute Trinkgelder erhalten haben, denn sie waren ihnen in allem willfährig.
Im Holzgarten aber auf der Uferhöhe, wohin die Stämme gebracht wurden, gab's andere Arbeit. Dort wurden die Stumpfe der Seitenäste mit dem Beil geglättet, die dünnen Wipfelenden abgeschnitten und abgesondert aufgeschichtet, die Eichen auf hohen Gestellen zerschnitten und vierkantig zugerichtet, auch wohl von den beiden Männern oben und unten zu starken Brettern zersägt. Von den Stapelplätzen aus rückte man die Rundhölzer mit Pferden unter wüstem Geschrei bis zur Uferkante und ließ sie von dort auf dem geebneten Wege hinabrollen. Sie sammelten sich dicht am Fluß oder auch auf dem Eise desselben und sollten im Frühjahr zu Flößen verbunden und stromabwärts transportiert werden nach Thorn und Danzig, teilweise vielleicht auch beladen mit dem Getreide, das von der letzten Ernte auf dem Hofe geblieben war, da der Krieg allen Handelsverkehr gehindert hatte.
Der Eingang zum Schloß sah einer Scheuneneinfahrt nicht unähnlich. Zwei große Torflügel mit einem hölzernen Überfall konnten sie schließen, schienen aber selten gebraucht zu werden, da der eine nicht mehr fest in den Angeln hing. Der Fußboden war mit Lehm ausgeschlagen, die Wand mit demselben Material verstrichen, aber an einigen Stellen mit einer Art roher Mosaik von kleinen buntfarbigen Feldsteinen ausgeputzt.
Die Zeichnung schien ein Schild mit einem Wappen darstellen zu sollen. Seitwärts führten mehrere kunstlos gefügte Türen links in den herrschaftlichen Pferdestall und rechts in die Wohngemächer. Hier hielten dicke Steinwände die Kälte ab, die kleinen lukenartigen Fenster ließen nur das notwendigste Licht ein. Die Ausstattung konnte im Gegensatz zu dem bäuerischen Äußern fast verschwenderisch genannt werden: überall lagen Felle von Bären und anderen Waldtieren auf dem Fußboden, die Wände waren mit Teppichen bedeckt, deren orientalische Muster über ihren Ursprung nicht Zweifel lassen konnten; an weichen Polstern fehlte es nicht neben den Kaminen, deren Steineinfassung von weither herangebracht sein mußte. Einige Möbelstücke von Olivenholz mit eingelegten Verzierungen von Metall deuteten nach Italien hin, waren aber in Ungarn erbeutet, wo sie wahrscheinlich lange Station gemacht hatten. Darauf standen zerbrochene Geschirre mit allerhand Bildwerken, an einer Stelle auch eine Holztafel mit Malerei, die zu einem Altarschrein gehört hatte und vielleicht von dem Herrn Michael von Kroczinski jüngst aus Preußen mitgebracht war. Er bewohnte diesen Flügel, sein Bruder Jakob den andern. Außer ihnen aber hausten noch verschiedene Vettern, Schwäger und weibliche Verwandte im Schloß, eine ganz zahlreiche Sippe, größtenteils nur sehr dürftig einquartiert, denn dicht neben den wenigen wohnlichen Räumen zogen sich lange Reihen von Kammern hin, die für Ställe hätten gelten können und dem Bewohner nicht einmal überall eine Bettlade zum Schlafen boten.
Hier hielt sich noch immer Frau Cornelia von der Buche auf, jetzt eine Witwe, die sich noch für jung halten konnte. Über den Tod ihres Mannes hatte sie sich bald getröstet: sie war ihm nie mit herzlicher Neigung zugetan gewesen, und ihr sorgloses Gemüt beschäftigte sich auch nicht einmal mit der Frage, wie sich der Stiefsohn zu ihr stellen werde und wie es in Buchwalde aussehe. Sie fühlte sich sehr wohl unter ihren Verwandten, die sie so lange entbehrt hatte, und in dem bewegten Treiben um sie her. Da konnte sie stundenlang auf den Polstern liegen und mit den Vettern plaudern, die auf der Jagd gewesen waren und Abenteuer mit Wölfen oder Bären gehabt hatten, oder vom königlichen Hoflager anlangten und Neuigkeiten mitbrachten, oder von den Juden mit Berichten über die Dinge in Ungarn und an der Südgrenze versehen waren, wo die Heere König Sigismunds bei Alt- und Neu-Sandecz arge Verheerungen angerichtet hatten. Mitunter erschienen auch Zigeuner und musizierten lustig; dann sah sie dem Tanz der jungen Leute zu. An Dienerschaft war kein Mangel, und die Mägde, die ihr aufwarteten, konnten als Leibeigene ganz nach Laune behandelt werden. Selten hatte sie jetzt Langeweile.
Einige Zeit im Herbst war man freilich besorgt gewesen, daß der Krieg nach Polen hineingespielt werden könnte. Das war, als der Rückzug des Königs bekannt wurde. Die Polen, die bis dahin den Sieger von Tannenberg mit überschwenglichem Lobe gefeiert hatten, wurden nun plötzlich mutlos und warfen ihm vor, daß er zwar zu siegen, aber nicht den Sieg zu benutzen verstehe. Unverzeihlich schien ihnen die lange Zögerung vor der Marienburg, unverzeihlich die Aufhebung der Belagerung. Sie sahen nun schon den Hochmeister mit seinen Scharen ins wehrlose Land einbrechen und blutige Rache nehmen. Freilich wußten sie, daß Wladislaus Jagello alle Kraft aufbieten mußte, dies zu hindern, da er in solchem Falle allen Schaden zu vergüten verpflichtet war, den der polnische Adel auf seinen Gütern nahm. Bald kamen denn auch günstigere Nachrichten. Es dauerte längere Zeit, bis Heinrich von Plauen sein Heer neu ausrüsten, bei Thorn die Hilfsvölker aus Deutschland zusammenziehen konnte. Dann hieß es allerdings, der Hochmeister sei in der Stadt – die Burg war noch in den Händen der Polen – und dringe auf rasches Vorgehen, aber die deutschen Fürsten und Herren sowie die Bischöfe in seiner Umgebung hielten ihn zurück und nötigten ihn zu Friedensverhandlungen. Mitte Dezember kam Botschaft, daß wirklich beiderseits Kommissarien bestellt und ein vierwöchiger Waffenstillstand abgeschlossen sei. Damals kehrte Herr Michael von Kroczinski zurück, der solange beim Könige in Brzescz geblieben war.
Sehr bald wurde er durch einen Eilboten wieder zurückberufen. Der König hatte den Hochmeister zu sich nach Raciaz eingeladen, um durch persönlichen Verkehr schneller zum Abschluß zu gelangen, Plauen hatte die Einladung angenommen. Herr Michael sollte unter den Kommissarien des Königs sein, deren jeder Teil sechs ernennen wollte. Er hatte bis Raciaz einige Meilen zu reiten, und nahm ein großes Gefolge mit, um sich ein Ansehen zu geben. Die Holzjuden mußten zur Bestreitung der Unkosten neue Vorschüsse machen, brachten aber die Zinsen reichlich ein, indem sie nun im Walde die Herren spielen konnten.
Ein paar Wochen lang wurde es stiller in Sczanowo; die Vettern waren fast sämtlich mitgeritten zur Ehre des Hauses. Dann aber kehrten sie ohne das Oberhaupt der Familie, dem wahrscheinlich zu früh der Säckel leer geworden war, nach dem Schlosse zurück und erzählten, der Hochmeister sei drei Tage in Raciaz gewesen, habe aber so unbillige Forderungen gestellt, daß man nicht zum Schluß hätte kommen können. Nun verhandelten die Kommissarien weiter, übrigens sei Großfürst Witowd mit frischen Truppen aus Litauen im Anzuge. Sobald er erst an der Grenze stehe, werde Plauen sich gefügiger zeigen.
So war man in das neue Jahr hineingekommen. Der Januar hatte große Kälte gebracht; das Schloß war eingeschneit, der Wald rundum wegen der in großen Rudeln andringenden Wölfe gefürchtet, die Verbindung mit der Nachbarschaft eigentlich nur über den gefrorenen Fluß hin möglich. Die Kälte drang nun auch ins Haus ein und ließ sich durch die Kaminfeuer, ob sie schon den ganzen Tag über brannten, nicht zurückschrecken. Man ging auch im Innern des Hauses in Pelzen und schloß sich am Kamin dicht zusammen.
Ein Mitglied der Schloßgenossenschaft war während der ganzen Zeit immer nur selten in den Familiengemächern gewesen: Natalia. So munter und ausgelassen sie anfangs nach der Übersiedlung von Buchwalde hierher mit den Vettern um die Wette allerhand Reitkünste betrieben hatte, so still und kopfhängerisch war sie später geworden. Jeder wußte den Grund, aber man sprach nicht mehr davon, am wenigsten mit ihr selbst, nachdem sie ein paarmal die vorwitzigen Frager und Rater scharf abgetrumpft hatte. Ihre Mutter hatte gar keinen Einfluß auf sie und ließ sie gewähren, da sie jede unnütze Aufregung vermied. Es war nicht die Nachricht vom Tode des Vaters, was sie in solcher Betrübnis erhielt. An ihr zehrte ein Leiden, das sich täglich erneuerte und immer schmerzlicher wurde.
Warum hatte ihr auch der Oheim vom Schlachtfelde einen Gefangenen zugeschickt, den sie nun zu hüten hatte?
Es war eine schwere Stunde gewesen, als damals im Juli der mit Beutestücken aller Art beladene Wagen auf den Hof fuhr, der Führer das Fräulein rufen ließ und verschmitzt lachend sagte, daß er auch ihr etwas mitgebracht habe, aber nicht wüßte, wie es angekommen sein werde, und wie er nun den weißen Mantel aufhob und Junker Heinz von Waldstein dalag, anscheinend ein Toter.
Sie schrie entsetzt auf. Der Schrei weckte ihn; er zuckte zusammen und öffnete matt die Augen, schloß sie aber gleich wieder, geblendet vom Licht, und schien vergebliche Anstrengungen zu machen, die trockenen Lippen zu bewegen.
Er lebte also noch – aber was für ein Leben. Vielleicht nur Minuten noch dauerte der Kampf. Mit dem ist's zu Ende, sagten die Vettern; holt den Kaplan herbei, daß er wenigstens wie ein Christ sterbe.
Nicht hier auf der Straße! rief Natalia, an allen Gliedern zitternd und doch schon innerlich ermutigt zu dem Liebeswerke, das ihr aufgetragen war. Er gehört mir, ich will über ihn verfügen. Helft mir, ihn in das Turmgemach hinaufschaffen; es ist kühl und luftig – er ist erschöpft von der weiten Fahrt und von der Hitze – er wird sich erholen.
Sie trat auf das Rad des Wagens, beugte sich über die Leiter und faßte schauernd seine kalte Hand. Junker Heinz – sagte sie, sterbt nicht – Ihr seid bei guten Freunden. Es war, als ob ein Lächeln über die eingefallenen, farblosen Wangen zog; aber es konnte auch der Todeskrampf sein.
Der Wagen wurde abgeladen und dann dicht bis an das Pförtchen im Turm gefahren. Frau Cornelia hatte indessen den verwunderten Vettern notdürftige Auskunft über den Mann gegeben, so daß sie sich nun teilnehmender zeigten. Der Hauskaplan kam heraus und traf mit geistlicher Ruhe Anordnungen, wie die Männer den Kranken vom Wagen heben sollten, nachdem die eine Leiter entfernt wäre. Tut ihm nicht weh, bat Natalia.
Sie eilte dann voraus an der Kapelle vorbei, die das untere Geschoß einnahm, die Steinstiege in der dicken Mauer hinauf nach dem zweiten Stock, in dem sich zwei Stübchen befanden, die Mönchszellen ähnlich sahen. Mitunter wurden Fremde dort logiert, wenn das Langhaus gefüllt war, und es stand in dem einen auch ein hölzernes Gestell, das für eine Bettlade gelten konnte. In einer anderen Ecke lagen ein Strohsack und ein Lederkissen. Sie warf beides rasch auf das Gestell und klopfte die Einlage glatt aus. Dann trat sie in die tiefe Fensternische und stieß die Laden auf, damit die frische Luft einströmen könnte. Auch im Stübchen nebenan, das ganz mit Waffen und Jagdgerät behängt und bestellt war, öffnete sie die Luke zu gleichem Zweck. Als die Männer den Verwundeten hinaufbrachten, war alles zu seiner Aufnahme zugerichtet.
Der Kaplan hatte seine Zelle in einem seitlichen Ausbau des Turmes, der schon unter dem Dache des Langhauses lag, neben der Kapelle. Er konnte also immer in der Nähe sein, was Natalia sehr beruhigte, sowohl seines geistlichen Amtes wegen, das ihn ja zu Werken der Barmherzigkeit verpflichtete, als weil er einige medizinische und chirurgische Kenntnisse besah. Er war nicht nur der Seelsorger, sondern auch der Arzt für die Schloßherrschaft und die Gemeinde der leibeigenen Bauern. Auch deshalb hatte Natalia dieses Turmzimmer gewählt. Nun beweiset Eure Kunst, Pater Stanislaus, sagte sie zu ihm, als sie allein waren, und Ihr sollt den Dank nicht missen. Mich aber betrachtet als Eure Gehilfin und dienstwillige Dienerin. Tragt mir auf, was zu tun ist, und ich will Euch in allem gehorchen.
So entfernt Euch jetzt, bat der Kaplan, damit ich seinen wunden Körper untersuche. Wahrscheinlich ist der Hieb über Kopf und Stirn nicht der einzige, den er in der Schlacht davongetragen. Hier an der linken Schulter ist das Wams von Blut gefärbt, und auch sonst sind wohl nicht alle Glieder heil. Schafft indessen kaltes und warmes Wasser herbei, auch altes Linnen zu Binden und wollene Decken. Ich will gern sehen, was ich vermag, aber ich fürchte, er erlebt die Nacht nicht mehr.
Sie eilte fort, und er besichtigte nun aufmerksam die breite Stirnwunde, indem er mit geschickter Hand die angetrocknete Blutkruste ein wenig hob und mit den Fingern tastend prüfte, ob der Knochen erheblich verletzt sei. Dann öffnete er das Lederwams über der Brust und untersuchte die Verletzung an der Schulter. Hier war ein Pfeil zwischen Plate und Armschienen eingedrungen. Die Wunde war dreieckig und anscheinend tief, ihre Ränder zeigten sich weithin entzündet. Die ganze Umgebung mußte sehr schmerzhaft sein, denn der Körper zuckte bei der leisesten Berührung. Eine Quetschung des Schenkels, wahrscheinlich von dem Hufschlage eines Pferdes herbeigeführt, erwies sich ebensowenig gefährlich als einige Schrammen und Beulen hier und dort, die durch die Rüstung nicht hatten abgewehrt werden können.
Natalia brachte Wasser und Verbandzeug. Mit ängstlicher Spannung sah sie zu, wie der Kaplan die Kopfwunde wusch und die Blutkruste löste, indem er zugleich das lockige braune Haar zur Seite strich. Als nun der breite Spalt in der Kopf- und Stirnhaut klaffte, überfiel sie einen Augenblick ein Schwindel, daß sie die Schale mit dem Wasser niedersetzen und sich an das Holzgetäfel der Wand stützen mußte. Sie ächzte leise, als ob sie selbst Schmerz empfände. Rasch aber faßte sie sich wieder und setzte die Handreichungen fort. Das ist eine entsetzliche Wunde, sagte sie, ihrer Beängstigung durch Worte Luft machend.
Der Schädel scheint nicht gespalten zu sein, antwortete er bedächtig. Es wäre freilich fast ein Wunder zu nennen, wenn der Knochen ganz unverletzt geblieben sein sollte. Der Helm hat die Wucht des Hiebes geschwächt, ist aber offenbar gesprengt worden, so daß die Schneide des Schwertes oder der Axt eine lange Bahn reißen konnte. Ein kräftiger Schädel! Ah, hier gibt die Decke dem Druck doch nach – diese scharfe Spitze – ein Knochensplitter. Das hat noch keine Gefahr, wenn das Gehirn nicht verletzt ist. Wäre nur schon auf dem Schlachtfelde ein Verband –
Es hat keine Gefahr? erkundete das Mädchen eifrig, sich an das einzige Wort haltend, das tröstlich klang.
An sich nicht, liebes Fräulein, erwiderte er; solche Brüche heilen bei guter Behandlung. Aber ob hier … Sicher hat der arme Mensch Tag und Nacht auf dem Felde gelegen, und dann die lange Fahrt in der Sonnenhitze? Man muß staunen, was der Mensch ertragen kann. Und dieser atmet doch noch!
Also keine Hoffnung?
Das sage ich nicht. Wer atmet, lebt – und wer lebt, den soll man nicht verloren geben, denn Gottes Rat macht alle Menschenweisheit zuschanden. Eine solche Wunde läßt sich heilen, wenn nur die Kraft ausreicht. Er zog ein kleines Täschchen aus dem Ärmelaufschlag seines Rockes vor, nahm ein blankes Instrument heraus und sondierte vorsichtig. Der Bruch scheint in der Tat nicht bedeutend –
Gott sei gelobt!
Aber die andere Wunde –
Die an der Schulter?
Eine Pfeilspitze ist tief eingedrungen, und man weiß nicht, was sie im Innern beschädigt hat. Eine sehr heftige Entzündung rundum – wir wollen sogleich mit Wasser kühlen. Die Kräfte, die Kräfte – er ist gänzlich erschöpft. Bringt ein wenig Wein, wir wollen versuchen, ihm einzuflößen.
Sie eilte wieder die Treppe hinab und rief nach dem Kellermeister. Er verstand sich nur ungern dazu, ihr zu Dienst zu sein, denn auf dem Hofe war Herrschaft und Dienerschaft um den Führer des Wagens und seine Begleiter versammelt, die von der siegreichen Schlacht bei Tannenberg erzählten. Es war ein Faß Bier herangerollt, und des Königs Wohl wurde so oft getrunken, daß die Zungen schon zu lallen anfingen. Was kümmerte man sich um den deutschen Junker?
Sie stieg selbst in den Keller hinab, der unter dem Turm lag, füllte eine Kanne mit Wein und trug sie hinauf. Mühsam gelang es, dem Kranken die krampfhaft verbissenen Zähne voneinander zu bringen. Dann aber schien der Wein seine ermatteten Lebensgeister wundersam zu kräftigen. Wieder schlug er die Augen auf und ließ den Blick auf dem bekümmerten Gesicht des Mädchens verwundert haften, bis sie zufielen. Der Kaplan hielt seine schlaffe Hand und fühlte den Puls, der sich ein wenig gehoben hatte. Dann legte er die wollenen Decken über das Lager. Wir können jetzt weiter nichts tun, sagte er, ich will in der Kapelle für ihn beten.
Als sie allein war, kniete sie neben der Bettstelle nieder, faltete die Hände und blickte unverwandt auf sein Gesicht. Mitunter streichelte sie den Arm, der sich unter der Decke unbeweglich am Körper hinstreckte. Er lag in tiefem Schlaf.
Die Sonne ging unter und warf beim Scheiden durch das Fenster einen glutroten Schein auf die Wand, daß sich das ganze Gemach erhellte. Nun sah der Kranke recht erhitzt aus; er atmete auch lauter und hastiger. Als es dämmerte, löste der Kaplan das Mädchen ab. Schlaft, sagte er, Ihr werdet hoffentlich noch viel bei ihm zu wachen haben.
Er hatte recht. Die Nacht ging ohne einen Unfall vorüber, und der nächste Tag forderte wieder ihre unausgesetzte Pflege. So auch die folgenden Tage. Sie wechselte mit dem Geistlichen am Krankenbett ab und ließ sich's auch nicht nehmen, hin und wieder eine Nachtwache zu leisten, damit er nicht seine Kräfte erschöpfe. Ein furchtbar heftiges Wundfieber hatte den Kranken ergriffen. Mehr als einmal glaubte der Arzt sein Ende gekommen. Aber seine kräftige Natur überwand diesen Anfall. Die Besinnung fand sich wieder, er erkannte seine Pflegerin, er sprach einige verständliche Worte, nahm mit Behagen Nahrung zu sich. So vergingen viele Wochen zwischen Fürchten und Hoffen.
Habt Ihr meinen Ring verwahrt? fragte er eines Morgens nach einer meist in ruhigem Schlaf verbrachten Nacht schüchtern.
Welchen Ring, Junker?
Einen Ring mit kleinen blauen Steinen –
Ah, den! Ich sah ihn damals im Buchwalde am kleinen Finger Eurer Hand.
Und jetzt fehlt er an der Stelle. Habt Ihr ihn nicht bemerkt, als ich hierher –
Nein, Junker. Man wird ihn Euch auf dem Schlachtfelde vom Finger gezogen haben. Nach Kostbarkeiten haben die Plünderer sicher zuerst gesucht.
Er nickte.
Der Ring war Euch sehr wert! bemerkte sie, die Augen senkend und an den Schnüren ihres Mieders zupfend.
Darauf antwortete er nicht. –
Und wieder vergingen Wochen. Die Stirnwunde fing an sich zu schließen, die Kopfwunde eiterte noch, aber immer seltener lösten sich Knochensplitter aus. Pater Stanislaus, der täglich den Verband erneute, glaubte mit gutem Gewissen die Versicherung geben zu können, daß die Gefahr beseitigt sei und die Heilung bald rasch fortschreiten werde. Natalia setzte mit einer Ausdauer, die ihr keiner der Verwandten zugetraut hätte, ihre Pflege fort und schlug jede Lockung der Vettern ab, zu Pferde in der Nachbarschaft einen Besuch abzustatten oder in dem kleinen Boot auf dem Flusse zu fahren, was ihr sonst das größte Vergnügen bereitet hatte. Es fehlte selbst an Fasttagen nicht an kräftiger Fleischkost, nicht an süßem Ungarwein und frischem Met. Dennoch wollte sich in dem Befinden des Kranken keine Besserung zeigen, im Gegenteil schienen die Kräfte sich immer mehr zu erschöpfen.
Das konnte seinen Grund nur in der bösartigen Schulterwunde haben, an der Pater Stanislaus vergebens alle seine Kunst versuchte. Das kleine Dreieck schloß sich nicht, und die Ränder blieben weithin entzündet. Vielleicht war die Pfeilspitze abgebrochen und steckengeblieben. So schmerzhaft die Stelle bei der geringsten Berührung war, entschloß Heinz sich doch, die Wunde nochmals genau sondieren zu lassen. Der Pater führte diese Operation mit seinen rohen Instrumenten nicht allzu geschickt aus. Der arme Kranke biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien: der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Natalia hielt seine Hand und suchte ihn durch die freundlichsten Worte zu ermutigen. Wenn die Schmerzen ein wenig nachließen, dankte er ihr dafür durch einen warmen Blick. Umsonst litt er alle diese Qual; die Pfeilspitze wurde nicht gefunden.
Von neuem probte der Pater seine Heilmittel durch; kein einziges brachte in dem Zustande des Kranken eine mehr als vorübergehende Besserung. Von dem blühenden Menschen war bald nicht mehr als der Schatten übrig. Der Körper magerte gänzlich ab und wurde so kraftlos, daß an ein Verlassen des Bettes nicht zu denken war. Kaum daß er den Arm heben und sich ohne Beistand auf die andere Seite legen konnte. Tag und Nacht rüttelte ihn das Fieber, die Stirn war fortwährend feucht, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, das ganze Gesicht zeigte eine grünliche Farbe. Manchmal, wenn Natalia am Morgen in das Stübchen trat, um für den Tag wieder ihr Pflegeamt zu übernehmen und Heinz die Augen geschlossen hatte, glaubte sie schon eine Leiche auf der Bettlade liegen zu sehen.
Sie ermüdete nicht. Keine andere Unterstützung nahm sie an als die des guten Paters, der ihr ganz ergeben war. Sie reichte dem Kranken den Kräutertrank, den dieser bereitet hatte, den Becher mit Wein oder frischem Wasser, sie hob zur Essenszeit seinen Kopf in ihren Arm und führte jeden Bissen Speise in seinen Mund. Als der Herbst mit den kalten Tagen herankam, ließ sie das Fenster verdichten, Binsenmatten über den ganzen Fußboden ausbreiten, die Tür mit einer wollenen Decke verhängen. Sie sorgte auch für eine Lampe, damit ihm die finsteren Abende nicht lang würden. Ihr seid engelgut, sagte er wohl nach solchen neuen Beweisen von freundlicher Werktätigkeit, ihr mit den hageren, zitternden Fingern die kleine Hand drückend, das habe ich mir um Euren Bruder Hans nicht verdient.
Still, still, antwortete sie dann und nickte ihm aus den dunklen Augen freundlich zu, Ihr seid mein Gefangener, und ich will mein Lösegeld nicht verlieren – wenn ich Euch überhaupt freigebe.
Lange hoffte er selbst auf Besserung und Genesung. Als aber Tag nach Tag, Woche nach Woche schied und sein Zustand immer kläglicher wurde, meinte er sich die Wahrheit nicht vorenthalten zu dürfen, daß es mit ihm rasch oder langsam zu Ende gehen müsse. Eine traurige, manchmal recht verzweifelte Stimmung bemächtigte sich seiner. In schlaflosen Stunden der Nacht klagte er Gott an, daß er ihn nicht auf dem Schlachtfelde habe sterben lassen, und dann bat er wieder recht kindlich und inbrünstig, daß der Herr über Leben und Tod seinen Leiden bald ein Ziel stecken möge. Die düsteren Dezembertage schienen recht geeignet, solche Trübseligkeit zu fördern. Wenn freilich des Morgens seine treue Pflegerin hinter dem Türvorhang vorschaute und ihm mit der hellen Stimme einen Gruß zurief oder das Lederkissen unter seinem Kopf zurechtrückte und dabei mit der Hand seine Wange streifte oder sie auch wohl, wenn das Fieber ihn schüttelte, beruhigend auf die seine legte, dachte er nicht ans Sterben. Er war ja so jung! Manchmal freilich überkam ihn bei solchen Liebkosungen eine ganz eigene Beklommenheit. Es war ihm dann, als ob nicht nur das Mitleid dem Kranken sie spendete, sondern ein wärmeres Gefühl sich bei dem Mädchen regte. Wie konnte das auch bloßes Mitleid sein, was sich bei dem jungen Ding mit so ausdauernder Werktätigkeit zu erkennen gab? Nein, da sprach eine herzlichere Teilnahme mit, und er mußte sich's gestehen, daß sie ihm wohltat. Wenn sie neben seinem Bette saß, zwang's ihn recht, die matten Augen von der Decke zu heben und auf das jugendlich frische Gesichtchen zu richten, dem die bekümmerte Miene gar nicht anpassen wollte und doch so viel Reiz verlieh. Er träumte sich dann zu dem Tag zurück, als sie beide, strotzend von Lebenskraft, zur Zigeunermusik getanzt und hoch zu Pferde in raschem Lauf die Heide durchmessen hatten. Diese schlanke, biegsame Gestalt – dieses leuchtende Auge – diese keck herausfordernde Sprache – dieses muntere Lachen! Schon damals hatte sie Gefallen an ihm gehabt – ganz gewiß. Und seinetwegen war sie nun die Samariterin! Stundenlang saß sie bei ihm in dem kalten, halbdunklen Gemach, in ihren Augen glänzten oft Tränen, ihre Stimme klang weich und mild, nur die Lippen lachten still, wenn er ihr ein Wort des Dankes sagte. Sie wollte, daß er lebe. Warum wollte sie es? Welche Frage!
Und doch beunruhigte ihn die Antwort in gar nicht unlieber Weise. Erst wenn sie ihm gute Nacht gesagt hatte und er nun mit sich allein war, kam es ihm wie sündhaft vor, daß seine Gedanken sich so viel mit dem schönen Mädchen beschäftigten, das doch über sein Herz nicht Macht gewinnen sollte. Dann meinte er, solcher Unruhe würde er ledig sein, wenn er den Ring mit dem Vergißmeinnicht besäße; und wieder tauchte der Verdacht auf, sie selbst könnte ihn von seinem Finger gezogen haben, damit er das Gedenken verlernte und ganz ihr Gefangener sei. So finster es um ihn war, schloß er doch noch die Augen und strengte seine Vorstellungskraft an, in seiner Seele das liebliche Bild erscheinen zu lassen, das sonst immer so lebendig bei ihm gewesen war. Aber die Farben waren nun blaß, die ganze Erscheinung schattenhaft. Und ehe er sich's versah, huschte ein anderes Bild darüber hin und verwirrte alle Linien.
Das schmerzte ihn. Er wußte, daß er in seinem tiefsten Gefühl Maria nicht untreu werden konnte, und doch beherrschte ihn ein anderer mächtiger Zwang. Was sollte daraus werden, wenn er gesundete und so unfrei bliebe? Vielleicht war's eine Wohltat, wenn Gott ihm den Tod gab. –