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Oben auf der steinernen Treppe vor dem Wohnhause stand Frau Meincke, jugendlich und lebensfroh trotz ihrer zweiundvierzig Jahre:

»Guten Tag, Herr Knagsted, und willkommen!«

»Ja, so also siebt er aus, ›die leibhaftige Bosheit‹!« stellte ihn der Gutsbesitzer vor.

»Aber Adolf! ...«

»Ach, Line hat ihm das sicher schon erzählt ... nicht wahr, Line?«

Line wandte ihm den Rücken zu und tat so, als höre sie nichts.

»Nicht wahr, Line?« wiederholte Meincke und drehte sie zu sich herum, »sieh mir in die Augen!«

»Ja ...« flüsterte Line und versteckte das Gesicht, »natürlich ...«

»Ich danke dir, Gott, dass ...«

»Vater!«

»Ja, das hat sie auch erzählt ...« lachte Knagsted.

»Nun ... ja, das ist ein mildernder Umstand!«

Sie gingen auf die Diele hinein:

Wie war die klein geworden!

Und der pompöse Treppenaufgang nach dem Boden, wie war der schmal und niedrig geworden ...

»Das ›schwarze Loch‹?« fragte Knagsted plötzlich eifrig, »existiert das ›schwarze Loch‹ noch?«

Er ging schnell in den Hintergrund links und öffnete eine Tür:

»Hier ist der ›Stiefelgang‹!« sagte er. »Und hier ist das ›Loch‹!«

Er öffnete eine Tapetentür zu einem völlig dunklen Raum unter der Treppe:

»Huh!« schauderte er. »Hier habe ich manch eine lange Stunde gesessen und verwünscht, dass ich geboren war!«

»Line und Mine haben da auch gesessen,« nickte der Gutsbesitzer. »Und Pardautz ... Aber Line natürlich am meisten.«

»Pfui ...! Schafskopf ...!«

»Aber Line ...!« beschwichtigte die Mutter.

» Ja, warum muss er mich auch immer foppen ...!« Ihre Augen sprühten Funken.

»Ach,« bat Knagsted, »wollen Sie mich nicht wieder ein bisschen dahinein stecken?«

»Mit dem grössten Vergnügen!« lachte Meincke geschäftig, puffte den Zöllner in den Verschlag und schlug die Tür zu. »Wie lange wünschen Sie ...«

»Nein, hört jetzt aber einmal!« eiferte Frau Meincke und öffnete die Tür. »Die Kerbelsuppe wird kalt; sie steht schon auf dem Tisch.«

Knagsted sass bereits platt auf dem kahlen Fussboden.

»Warum gönnen Sie mir es nicht, ein wenig in Erinnerungen zu verweilen, Frau Meincke ...«

Line stürzte lachend herbei und half ihm auf.

»Du bist famos!« sagte sie, »und amüsant! ... Wenn wir gegessen haben, will ich dir das ganze Haus zeigen.«

»Habt ihr schon Brüderschaft gemacht?« fragte die Mutter.

»Selbstverständlich!« antwortete Knagsted und bot ihr den Arm. »Ich bin ja nur ein paar Jahre älter als die junge Dame.«

Und dann begab man sich zu der Kerbelsuppe und den andern Leibgerichten ...

Der Kaffee wurde im Wohnzimmer getrunken. In diesem ungeheuren Raum, der einst der grösste in der Welt gewesen war und der, wie sich jetzt herausstellte, nur zwölf Ellen in der Länge und acht in der Breite mass ...

»Ja, sehen Sie, nun möchten meine Frau und ich ja gern ein Stündchen Nachmittagsschlaf halten,« sagte der Gutsbesitzer.

»Aber Männchen!«

»Ja, er muss sich wirklich an die Sitten des Hauses gewöhnen, liebe Trine ... Vielleicht möchten Sie auch schlafen, Zollkontrolleur? Sie können sich in meinem Zimmer auf die Chaiselongue legen.«

»Nein ... Line und ich wollen auf Entdeckungsreisen gehen.«

Line klatschte in die Hände:

»Ja, ja!« sagte sie dann und zerrte an ihm. »Komm!«

Und sie gingen zusammen vom Keller bis zum Boden ... rund durch den Garten, die Ställe, die Scheune, die Wagenremise, das Hühnerhaus, die Entenbucht ...

»Da geschah dies, und da geschah das,« berichtete Knagsted.

Sie schmiegte sich an ihn.

»Erzähle noch etwas!« bat sie.

Und er erzählte und erzählte ...

Das ganze goldene Bilderbuch seiner Kindes- und Jugendzeit schlug er vor ihr auf.

Und immer war er der Anführer bei allen Spielen und Bubenstreichen gewesen.

»Du bist gewiss ein Mordsbengel gewesen!«

»Ja, das kannst du glauben! ... Aber ich konnte mich auch in einen Winkel verstecken und dasitzen und weinen ...«

Sie lachte laut:

»Nein,« sagte sie, »auf den Leim kriechen wir nicht! Das sagst du bloss, um dich interessant zu machen.«

»Aber Fräulein Naseweis ...!« Knagsted hob einen mahnenden Zeigefinger in die Höhe.

Sie schlug danach:

»Der ist ja schief!« sagte sie; »der imponiert mir nicht! ... Und dann hast du ja doch selbst zu Mutter gesagt, wir wären gleichalterig. Schafskopf! Dann darf ich doch wohl sagen, was ich will ... Komm nun!«

Und sie zog ihn mit sich zu fortgesetzten Entdeckungen.

– Puh! dachte der Zöllner und folgte ihr. – Auf was hast du dich eingelassen, Hans Peter Ernst! ... Aber bezaubernd ist das Mädel!

So verlief Knagsteds erster Besuch in dem Heim seiner Kindheit.

 

Pastor Michael Sörensen war vor vier Jahren als zweiter Prediger an der Zionskirche nach Söby gekommen.

Er brachte eine blutjunge Frau und eine Tochter von fünf bis sechs Monaten mit.

Er selbst war hoch in den Dreissigern ...

Gleich, als er seine Antrittspredigt hielt, lagen alle Damen der Stadt ihm zu Füssen:

»Welch Charakter!« sagten sie; »welche Verkündigung! Welche Tiefe!«

Und Fräulein Schuld frei Plockros, »das Spielskelett«, erklärte dem Adjunkt Lauritzen ekstatisch, Pastor Sörensens Stimme zu lauschen, das sei, »als streiche man über dunkelblauen Samt«!

Begreifen konnte aber keine von den Damen, was er doch nur mit seinem kleinen Putzaffen von Frau wollte!

Er, der eine starke und ausgereifte Frau an seiner Seite hätte haben müssen, die ihm eine Geburtshelferin bei seinen Bestrebungen hätte sein können ...

Alvilda hiess sie, die Pfarrersfrau, und war die jüngste und vierte Tochter jenes italienischblütigen Zauberkünstlers, Alexius Magei, der plötzlich eines Abends in der Hauptstadt tot umfiel, von einem Herzschlag getroffen, mitten vor den Augen des Publikums, gerade, als er ein weichgekochtes Ei quer durch den Kopf eines hohen, grauen Zylinders hindurchschlagen sollte.

Der Vorhang war augenblicklich herabgelassen, und die Zuschauer hatten eifrig geklatscht und gerufen:

»Bis! Bis! Da capo!«

Aber der Mann hatte sich gar nicht hervorrufen lassen.

Die Vorstellung war für seine Person unwiderruflich vorbei.

Und da sass nun also die Witwe ohne Versorger und mit vier minderjährigen kleinen Mädchen ... Dann war die Familie herzugetreten.

Alexius hatte zwei recht gut gestellte Brüder, und Frau Magei eine solide verheiratete Schwester.

Diese einigten sich nach einigen Erörterungen dahin, die Kinder unter sich zu teilen, so dass die Mutter selbst nur das älteste behielt.

Ausserdem wurde durch Zusammenschiessen ein kleines Zwirn- und Garngeschäft errichtet, in dem nun die Witwe und die Vaterlose sich vom Morgen bis zum Abend abarbeiteten, um das bisschen Häckerling zu verdienen.

Wir lassen sie arbeiten ...

Alvilda, die damals acht Jahre alt war, fiel durch das Los dem Oheim Louis zu, einem rundlichen und vermöglichen, aber infolge der italienischen Abstammung zuweilen etwas unbeherrschten Werkführer im Norderteil der Hauptstadt.

Und da, wie sich die Werkführerin, eine prächtige Frau, ausdrückte, keine eigengemachten Kinder im Hause waren, wurde die Pflegetochter bald der Verzug der Eltern wie auch der wechselnden Pensionäre.

Frau Louis vermietete nämlich ein möbliertes Zimmer – »mit oder ohne volle Beköstigung«, wie auf einem Lappen Papier an der Haustür stand.

Und so geschah es denn, dass Michael eines schönen Tages als Pensionär einrückte, um nach dem Willen der Götter sein und Alvildas Schicksal zu vollziehen ...

Cand. phil. Michael Sörensen war der Sohn eines zur inneren Mission gehörenden Pfarrers im Westen der Halbinsel und hatte sich einige Jahre durch Privatstunden ernährt. War dann aber plötzlich vom Geiste getrieben, den Beruf seines Vaters aufzunehmen.

Und er wäre der reizendste Mensch, sagte Frau Magei, er hielt seine Speisezeiten inne und besuchte seine Vorlesungen, ginge nie in Lokale, sondern sässe des Abends über seiner Bibel und hülfe Alvilda bei ihren Schularbeiten und nähme sie an Sonn- und Festtagen mit in die Kirche oder in die Natur ...

Und dann wurde er Cand. theol. und sollte nun nach der Halbinsel heimreisen, um dem Vater beizustehen, das Himmelreich zu beengeln.

Aber am Tage vor der Abreise geschah es dann, dass er seine Wirtsleute um eine geheime Unterredung bat. Und allda kam es denn ans Tageslicht, dass er und Alvilda schon über ein Jahr, wie er es nannte, verlobt gewesen waren.

Bei dieser Mitteilung stieg das Italienerblut dem Werkführer unbeherrscht zu Kopf, er hämmerte einen kräftigen Faustschlag auf den Tisch und nannte den Kandidaten »eine christliche Drangtonne«!

Als sich aber Michael ehrenhafterweise die Hand des Mädchens erbat, um sich mit ihr zu verheiraten, sobald er ins Amt kam ... und Frau Magei sich ihm alsdann um den Hals warf und vor Rührung weinte, bei dem Gedanken, die Mutter einer Pastorin zu werden, da endete das Ganze gut und verträglich. Man leerte eine Flasche Portwein, und das Paar erhielt den begehrten Segen.

Alvilda war zu jener Zeit eben fünfzehn Jahre alt geworden und zu Ostern eingesegnet ...

Aber am selben Abend nach der Verlobungsfeier trug sich ferner zu, dass Frau Louis, eine halbe Stunde nachdem sich die Familie zur Ruhe begeben hatte, davon erwachte, dass jemand ganz sachte die Tür nach dem Vorplatz hinaus öffnete.

»Bist du es, Vilde?« fragte sie.

Keine Antwort.

Und als sie verwundert ein Streichholz anzündete, sah sie, dass Alvildas Bett leer war. Die Steppdecke war zurückgeschlagen und das Mädel war weg ... Schnell zündete sie ein Licht an und lief auf den Vorplatz hinaus. Der Portwein konnte sich ja auf den Magen des Kindes geschlagen haben!

Da draussen stand Alvilda gegen die Wand gelehnt, mit Angst in den Augen und wie im Fieber bebend.

»Ist es der Magen, liebe Vilde?«

»Nein ...«

»Ja, aber warum bist du denn aufgestanden?«

Vilde brach in Weinen aus:

»Ich soll zu Michael kommen und ihm Adieu sagen ...«

Frau Magei lächelte: Wie das Kind ihn doch liebte!

»Bewahre, das sollst du nicht, liebe Vilde,« tröstete sie und ergriff ihre Hand. »Er reist ja erst morgen ... Komm du lieber mit mir.«

Aber Alvilda entriss ihr die Hand:

»Er hat selbst gesagt ... dass ich kommen sollte!« schluchzte sie. »Aber du und Vater, ihr dürftet nichts davon wissen ...«

Frau Magei war es, als drehe sich die Weltordnung plötzlich rund herum; als springe irgendwo in der Maschinerie ein Rad ... Aber sie nahm sich schnell wieder zusammen, packte Vilde hart bei der Schulter und drehte sie gleichsam in die Schlafstubentür hinein:

»Hör auf mit dieser Heulerei!« flüsterte sie. »Weck deinen Vater nicht auf! Du weisst, wie er aufbrausen kann! ... Und mach, dass du ins Bett kommst!«

Alvilda kroch schleunigst unter die Steppdecke.

»Und ich bitte mir aus, dass du sofort einschläfst!«

Und das Mädel klappte gehorsam die Augen zu ...

Resolut warf Frau Magei einen Rock über und ging mit dem Licht in der Hand auf den Vorplatz hinaus, an die Tür des Logierenden: »Sörensen,« rief sie; und sie pfiff in diesem Augenblick auf die ganze priesterliche Würde. »Mach auf!« sagte sie. »Sofort! Ich muss mit dir reden.«

Gleich darauf tat sich die Tür auf, und der Kandidat stand vor ihr, gelb und eckig im Gesicht wie eine Leiche.

»Mensch!« sagte Frau Magei und sank gegen den Türpfosten. »Dann hatte Magei also doch recht mit seiner Drangtonne?«

Und nun folgte eine Szene, deren sich Frau Magei, ihrer eigenen Aussage nach, bis weit über die andere Seite des Grabes erinnern würde.

Der Kandidat rutschte zu ihren Füssen an der Erde umher, hob die gefalteten Hände zu ihr empor und beichtete:

Über ein Jahr lang, erzählte er, hatte er in einem Verhältnis zu Alvilda gestanden. Er hatte unablässig gegen seine sündige Begierde gekämpft, hatte aber nicht widerstehen können. Und dann eines Tages, als sie zusammen im Walde waren, da war es geschehen. –

»Treten Sie auf mich!« flehte er. »Zerschmettern Sie mir den Kopf! Ich bin unwürdig, auf Erden zu leben! Holen Sie die Polizei, dass ich meine Strafe erleiden kann! Werfen Sie mich in den Rinnstein, dass mich die Menschen bespeien können!«

Aber aller Zorn und aller Groll waren von Frau Magei abgeglitten, als sie da stand und Zeugin dieser tiefen Reue war. Ihr Herz war von Mitleid erfüllt, die Tränen tropften auf ihre Nachtjacke herab, und ein Mal über das andere wiederholte sie: »Na, na, lieber Sörensen! Na, na, lieber Sörensen! Es kann ja noch alles gut werden! Du willst sie ja heiraten! Du willst sie ja heiraten! Steh doch auf, so steh doch auf! ...«

Und er stand auf und wurde ruhiger. Und sie half ihm aus den Kleidern und ins Bett.

»Schlaf jetzt,« sagte sie, »und bete zu dem lieben Gott!«

Und der Kandidat tat, wie sie befahl ... – –

Zwei Jahre später fand Michaels und Alvildas Hochzeit statt.

Aber am Tage vor der Trauung pochte es demütig an die Tür des Bräutigams im Missionshotel, wo er wohnte.

Und als er öffnete, stand die Braut draussen auf dem Gang Hand in Hand mit einem kleinen, bleichen und äusserst unansehnlichen Manne, einem Apothekerlehrling.

Sie waren gekommen, um Michael zu bitten, Alvilda von ihrem Eheversprechen zu lösen.

Denn sie liebte den kleinen Apotheker so schrecklich ...

Michael aber verhielt sich kühl und abweisend.

Da warf sich Alvilda auf die Knie und schrie wild:

»Ich will mich nicht mit dir verheiraten!« schrie sie. »Ich will nicht! Ich will nicht!«

Man hörte das Schreien in dem ganzen Hotel. Und nach und nach füllte sich das Zimmer mit schwarzgekleideten Männern und Frauen mit harten Augen.

Und sie nahmen Partei für den Pfarrer.

Alvilda aber schlang die Arme um den Geliebten, klammerte sich an ihn und küsste ihn ohn' Unterlass, so dass die harten Augen böse wurden und sie von ihm rissen ... –

Als sie wieder zu sich kam, lag sie müde und angegriffen auf dem Bett im Zimmer, während Michael über sie gebeugt stand und redete:

– Es sei Gottes Wille, sagte er, dass sie einander ehelichen sollten! Es würde ein Verbrechen sein, sich zu trennen. Sie gehörten für ewig zusammen; denn sie waren ja schon Mann und Frau vor dem Thron des Ewigen!

– Aber sie liebe ihren kleinen Apotheker ja doch so unsagbar ...

Das Antlitz des Pfarrers wurde starr und bleich:

– Hatten sie und er vielleicht dasselbe miteinander vorgehabt ... wie ... wie ...?

– Nein, nein! Dazu war er viel zu lieb und fein!

– Und sie hatte ihm, dem andern, auch nicht davon erzählt, dass ...

– Nein, nein, denn das könne sie nicht ... Michaels Antlitz erhellte sich verklärt. Er ergriff ihre Hand und küsste sie, voll Dankbarkeit gegen die Vorsehung:

»Da siehst du Gottes Willen!« sagte er.

Sie schloss die Augen müde und nickte Ja ...

Und am nächsten Tage wurden sie getraut.


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