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»Lesen Sie!« kommandierte P.A. Birk.

Und Fräulein Solberg las:

»... Die beiden Brüder, die sich am elften vorigen Monats eines Fahrrads im Lundegaarder Gehege bemächtigten, haben jetzt ihr Urteil erhalten. Es lautet auf Wasser und Brot bezw. zwei mal fünf und fünf Tage; aber sie sind bedingt begnadigt, so dass die Strafe ...«

Der Kaufmann schlug mit der Kanone auf die Stuhllehne:

»›Bedingt begnadigt‹ ...!« höhnte er. »Was soll dieser Humbug! Wenn ihr Urteil gesprochen ist, dann sollen sie auch bestraft werden! Das Land wimmelt ja schliesslich von ›bedingten‹ Zuchthauskandidaten! ... Weiter! Aber was anderes, hiervon will ich nichts mehr hören.«

Das Fräulein las:

»... Von einem Brandplatz in Söderup wurde im April ein kupferner Kessel gestohlen, und der Verdacht ...«

»Zum Teufel auch mit dem Dreck von Kessel! ... Ist da nichts mit Geld

Die Solberg suchte und fand:

»... Obergerichtsanwalt Sören Lassen und Bureauvorsteher Fritz Meyer haben jeder hundertundzwanzig Tage Gefängnis bekommen für Betrug ...«

Plötzlich liess sie die Zeitung sinken:

»Ich kann es nicht begreifen, Kaufmann, dass Sie sich was daraus machen, von all dem Kummer und Elend zu hören ... Und dass die Zeitungen es schreiben mögen! ... Darin sollte nichts weiter stehen, als was gut und erfreulich ist.«

»Sie sind vielleicht der Ansicht, dass das Ganze bloss Geld, Räucherwerk und Mürbebratenduft sein sollte ...? Wer, meinen Sie, würde sich daran kehren, das zu lesen? he!«

»Es kommt doch, bei Gott, einzig und allein auf die Güte zwischen den Menschen an, Herr Birk.«

»So –? Ach! ...«

»Ja, das mag der Ewige wissen ... darum ... darum leben wir hier auf Erden ...«

P.A. machte eine abwehrende Bewegung mit den Händen:

»Nunsens!« sagte er. »Quatsch! ... Lassen Sie mal die Unglücksfälle hören. Steht da nichts dergleichen?«

Das Fräulein knüllte erregt das Blatt zusammen:

»Nein, da sind keine. Und nun gehe ich raus und koche das Mittagessen.«

»Nicht so klysterisch, liebe Solberg! ... Erst will ich die Todesfälle haben!«

»Dann müssen Sie sich Martin kommen lassen, dass er sie Ihnen vorliest; ich tu' es nicht.« Sie griff sich an den Kopf. »Ich kann es nicht aushalten,« sagte sie. »Die ganze Nacht lieg' ich da und träum' von all dem Grässlichen, was ich hier vorlesen muss. Ich fahr' aus dem Schlaf in die Höhe und schrei'. Sie müssen das nicht von mir verlangen, Kaufmann. Ich seh' die schrecklichsten Dinge vor mir mit Wasser und Brot und Rad und Galgen und dem heiligen Abendmahl ...! Das können Sie nicht von mir verlangen ...!« Hier seufzte sie klaftertief auf und fragte dann in ganz demselben düster-klagenden Ton: »Wünschen Sie grünen Kohl mit durchgewachsenem Speck ... und Pfannkuchen?«

»Nein, Apfelkuchen!« sagte P.A. mit verbissener Wut. »Holen Sie aber erst Martin!«

»Wollen Sie denn wirklich nicht mit zu des Konsuls Geburtstag?«

»Nein, ich geh' nicht zu Bankrotteurfesten; dann würd' er das später bloss benutzen, um Profit daraus zu ziehen.«

»Sie sind ein grausamer Vater ...! Nun sitzt Zollkontrolleurs Jochum wieder draussen auf dem Hof und schnüffelt nach Diana rum,« endete sie.

»Ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm ...«

»Was meinen Sie damit?

»Liegt nicht der Zöllner selbst in Bigamie mit seiner Haushälterin?«

»Wie können Sie bloss solche Worte über die Lippen bringen, Kaufmann!«

Die Solberg sauste auf die Essstubentür zu.

»Erst holen Sie Martin!« ertönte es von P.A.

Das Fräulein machte kehrt und ging in den Laden, der noch immer in direkter Verbindung mit P.A. Birks Wohnung stand.

Einen Augenblick später kehrte sie mit Martin zurück.

Er war Krämerlehrling, sechzehn- bis siebzehnjährig, langaufgeschossen, ducknackig, mager, weisshaarig, hellblauäugig mit grossen, von Heringslake glühenden Händen.

Voll Ehrfurcht drückte er sich seitlings in die Stube hinein. Die Beinkleider reichten ihm nur bis an die Knöchel; die Holzschuhe hatte er auf der Diele ausgezogen und die Strümpfe waren aus dicker, grauer Wolle mit weissen Fersen und Zehen.

»Ist das Martin?« fragte P.A. barsch und richtete die Kanone auf ihn.

»Jawohl ...!«

»Geben Sie ihm die Zeitung, Solberg, setzen Sie ihn auf den Stuhl und zeigen Sie ihm die Todesfälle.«

Martin wurde angebracht wie befohlen und fing an zu lesen.

Seine Stimme klang angenehm in Peter Arons Ohren, denn sie hatte des Kaufmanns eigenen ländlichen Klang nach Feld und Heide. P.A. schätzte diesen Burschen sehr, er durchlebte in ihm noch einmal seine eigene Jugend, und er wünschte oft, dass er sein Erbe und Nachfolger gewesen wäre statt dieses Pfaues von Tochter, mit der ihn Gott gesegnet hatte.

»Abwesenden Verwandten und Freunden hierdurch die Mitteilung,« las Martin, »dass es Gott dem Allmächtigen gefallen bat, gestern abend sieben Uhr ...«

 

Fräulein Solberg war in die Küche hinausgesaust, wo sie die Köchin Johanne bei der Bereitung des Kohls und der Apfelkuchen anstellte.

Darauf stürzte sie in ihr Zimmer und kam gleich darauf in Hut, Mantel und Handschuhen zurück. Auf den Fersen folgte ihr der gottserbärmlichste Hühnerhund der Welt, den sie an einem Band führte. Er kroch förmlich hinter ihr drein in seiner eingeschüchterten Demut, mager, schmutzig und mit bangen, um Gnade flehenden Augen.

Es war eine Hündin und obendrein »läufisch«.

»Hu!« sagte Johanne, »dass sich Fräulein mit all dem Hundepack abgeben wollen!«

Die Solberg überhörte die Äusserung. »Ich habe mich nach dem Besitzer erkundigt,« sagte sie. »Er gehört Ziegelbrenner Svane. Das Tier heisst Diana. Ich laufe vor Tische schnell mit ihm rüber.«

»Solange es Menschen gibt, die Not leiden,« meinte Johanne, »sag' ich, der Teufel kann für die Tiere sorgen! ... Kusch –!« wehrte sie den Hund ab und schlug mit den Armen um sich, so dass Diana vor Angst unter den Küchentisch kroch.

»Aber Johanne, haben Sie denn kein Herz!«

»Kusch!« sagte das Mädchen nochmals, »ich will das Gespenst nich in meine Küche haben!«

Und das Tier taumelte kopfüber die Treppe hinab auf den Hof hinaus und zog die Solberg hinter sich her.

Aber da draussen sass Jochum ...

 

»Nr. 241,« stand in dem Hundebuch des Fräuleins zu lesen, »braungefleckter Hühnerhund (Rüde), zugelaufen 27.9.; Besitzer Ziegelbrenner Sören Svane, Kniestr. 12, – zurückgeliefert 29.9.«

 

Die Häuser in der Kniestrasse waren einstöckig, schief und aus Fachwerk. Sie lagen dicht nebeneinander zärtlich wie in einem fröhlichen Rausch und sahen verschmitzt selig aus mit ihren kleinen, schelmisch blitzenden Fensterscheiben. Aber es war Lüge. Drinnen herrschten Armut, Kummer, Not, Schwamm und Elend ...

Eine gichtbrüchige Treppe ohne Geländer führte zu Nr. 12 hinauf, wo Ziegelbrenner Svane wohnte. Die Tür war eine Halbtür, deren oberer Teil offen stand, so dass man auf einen Vorplatz hineinsah, der nicht viel geräumiger war wie eine gute Packkiste, die auf die hohe Kante gestellt ist.

Links auf dem Vorplatz führte eine Tür zu dem einzigen Wohnraum der Wohnung.

»Wer ist da ...?« fragte eine mürrische Frauenstimme, als die Solberg anklopfte und öffnete.

Zwei halbnackte Rangen, ein Junge und ein Mädchen, krabbelten dadrinnen auf dem Fussboden herum und spielten Pferd.

Auf einer Ruhebank unter dem Fenster sass Madam Svane und gab einem Säugling männlichen Geschlechts die Brust.

»Ist der Mann zu Hause?« fragte die Solberg. »Willst du wohl machen, dass du weg kommst!« sagte sie dann und schlug nach Jochum, der auf Diana eindrang und anzüglich wurde.

Die Kinder auf dem Fussboden stellten ihr Spiel ein:

»Da is Jane ...« sagte der Junge.

»Mit 'ner fremden Dame ...« sagte das Mädchen.

»Ist der Mann zu Hause?« fragte die Solberg abermals. »Hier bin ich mit seinem Hund, der zugelaufen ist.«

Ein Streif Sonne fiel im selben Augenblick durch das Fenster. Das Kind an der Brust griff lächelnd danach.

»Zu Hause ...?« schluchzte Madam Svane. »Wissen Fräulein denn nich, dass er durchgebrannt is?«

»Durchgebrannt?«

»Ja ... nach Hamburg mit Marie Sönnichsen ... Donnerstag kam eine Postkarte von ihnen mit Bismarck darauf: Nu könnt' ich mir man an die Nase fassen.«

Die Tränen trieben der Frau über das Gesicht. Eine davon fiel warm und schwer auf die Stirn des Säuglings. Gleich vergass das Kind die Sonne und brach in ein lautes Gebrüll aus.

Die Mutter achtete nicht darauf.

»Geradezu von Ihnen weggelaufen?« fragte die Solberg, bis in ihre Jungfrauenseele erschüttert. »Und dann komme ich hier noch mit seinem Hund!«

»Ja, den können Fräulein man wieder mitnehmen. ... Hier is nichts nich zu essen für Menschen und erst recht nichts für Tiere.«

Von Frau und Kindern weggelaufen!

»Ja, wenn man wenigstens nicht mit ihm verheiratet gewesen wär'!« schluchzte die Frau.

»Das dürfen Sie doch nicht sagen, Madam ...«

»Ja, das sag' ich! ... Denn hätt' man doch wenigstens einen Beitrag vom Armenwesen gekriegt ... Wir hatten ja die zwei, eh' wir uns verheirateten; aber da wollt' er ja heiraten, das wär' leichter für ihn; das Gesetz kümmert sich ja bloss um die Unehelichen ...«

»Hm ...!« sagte die Solberg. »Aber so steh doch still, Hund!« schalt sie und zog an der Schnur.

Diana hatte offenbar den Wunsch, sich mit Jochum einzulassen.

Madam Svane wiederholte:

»Ja, so is das Gesetz nu mal ...«

»Unmöglich, Madam Svane.«

»So is das Gesetz, ja!«

»Aber das heisst ja geradezu eine Prämie aussetzen für ...«

»Ja! Und darum hätt' man sich auch nie darauf einlassen sollen, sich zu verheiraten ...«

»So! Da hat der Hund sich losgerissen! Diana! Diana!«

Das Fräulein stürzte auf die Strasse hinaus. Aber Diana verschwand im selben Augenblick oben um die Ecke bei Holzhändlers, stark von Jochum bedrängt.

»Dann müssen wir Diana wohl sich selbst überlassen ...« sagte die Solberg mit einem Seufzer. »Hatten Sie denn überhaupt die Mittel, sich einen Hund zu halten?« fragte sie, als sie wieder hereinkam. »Ja, Sören ... der war rein wie doll, auf Jagd zu gehen ...«

»Haben Sie mir nicht neulich erzählt, dass Zollkontrolleur Knagsted Sie wiederholt unterstützt hätte?«

»Ja, Sören! Der schrieb an alle möglichen Menschen, um Geld für seine Sonntagsschwofereien zu bekommen ... Er sagt', er ging in die Kirche. Auf einem solchen Ausflug hat er auch Marie Sönnichsen getroffen ... Und nu sitzen wir da und müssen es ausbaden.«

Die Solberg stand einen Augenblick da und blinzelte mit den Augen, in die etwas Feuchtes hineingeraten war. Dann holte sie das Portemonnaie aus der Tasche und fischte eine Krone heraus:

»Ich interessiere mich ja sonst meistens für Tiere,« sagte sie. »Jeder hat ja so sein Steckenpferd ... Aber ... hier ... Und dann sehe ich mich mal wieder nach Ihnen um, denn wenn die Obrigkeit sich Ihrer nicht annehmen will, dann müssen wir andern es ja tun.«

Madam Svane griff gierig nach dem Geldstück und spuckte darauf:

»Vielen Dank!« sagte sie. »Und Glück und Segen!«

Das Fräulein ging auf die Tür zu:

»Ja, aus dem Hund machen Sie sich dann wohl nichts mehr?«

»Nein; wir sind schon so genug ... Aber wenn Fräulein was dazu tun könnt', dass das Gesetz verändert wird, so dass sich nich jede Dirne über 'ne verheiratete Frau lustig machen kann, wenn sie einen auf der Strasse trifft, denn ... Bedankt euch auch bei der Dame, Kinder!«

»Danke ...« sagten die Rangen unten an der Erde.

Der Säugling hatte sich in Schlaf geschrien.

Die Solberg verabschiedete sich und ging ...

Als sie in das Kaufmannshaus zurückkam, standen beide Hunde da. Und Jochum hatte seinen Willen gekriegt.


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