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Lieber Vater und liebe Mutter!
Ihr müsst mir nicht böse sein, wenn Ihr dies lest und erfahren habt, was ich getan habe. Ich weiss ja recht gut, dass es Euch sehr weh tun wird, dass ich mir selbst das Leben nehme, aber ich kann es nicht länger aushalten, zu leben. Jetzt will ich Euch erzählen, was mir fehlt, damit Ihr es wissen könnt, und warum ich mich erschiesse. Der Grund ist, dass ich nicht der reine, gute Junge bin, wie Ihr immer glaubt. Ich habe einen schmutzigen Gedankengang, aber das wisst Ihr nicht, denn ich habe in der letzten Zeit sehr gekämpft, um meinen wahren Inhalt zu verbergen. Aber dann war es kürzlich im Sommer, als ich einmal auf den Spielplatz kam, und Hanne da in der Schaukel sass, ohne Kleider, wie sie es ja immer zu tun pflegt, so wie die Kleinen auch, und sich schaukelte. Sie sah mich nicht, und ich wollte auch gleich wieder weggehen, denn es passt sich ja nicht, so etwas anzusehen, so gross und erwachsen wie ich bin; aber ich blieb doch stehen, ich konnte nicht gehen, und sie schaukelte höher und höher und streckte ihre Beine gerade in die Luft zu dem blauen Himmel empor, und dann, nach einer Weile sprang sie herunter und fing an, mit den Kleinen zu spielen; und ich ging fort, an das Wasser hinab und weit hinaus auf das Feld, und daher kam ich an jenem Sonntag zu spät zu Tisch, Ihr wisst das wohl noch. Aber da fehlte mir nichts, das war erst, als ich auf mein Zimmer kam und meine Schularbeiten machen sollte, da fing es an; und ich konnte gar nicht die Buchstaben in den Büchern sehen, sondern ich sah fortwährend nur Hannes weisse Beine gegen den blauen Himmel; und wenn ich die Augen schloss, sah ich sie auch, und auch noch, als ich das Licht auslöschte; und den ganzen Abend, und als wir unten beim Essen waren und hinterher in der Wohnstube, sah ich sie in der Ecke über dem Sofa und auf den Gardinen und an der Decke; und weisst Du nicht noch, Mutter, dass Du mich fragtest, warum ich so blass wäre, als ich zu Bett gehen sollte; das war, weil ich Angst davor hatte, allein zu sein. Und ganz richtig als ich ins Bett kam und das Licht ausgelöscht hatte, da sah ich die Beine wieder, und das ist immer ärger geworden, mit jedem Tag, der vergangen ist, und ich konnte es beinah nicht aushalten, Hanne zu sehen, weil ich fand, dass es ihre Schuld sei, und schliesslich habe ich sie beinah gehasst. Und jetzt ist es über einen Monat her, und es ist nicht besser geworden, und ich kann es nicht aushalten, so ein Schwein zu sein in meinen Gedanken, und darum will ich nicht länger leben, um Euch nicht noch mehr Kummer zu machen. Lebt nun alle miteinander wohl, Ihr und Erich und Else, und denkt nicht mehr an mich, denn ich bin es nicht wert.
Euer Sohn Hother.
Ihr sagt Hanne natürlich nicht, dass ich sie gehasst habe, und dass es beinah ihre Schuld ist, dass ich sterbe, denn sie kann ja nichts dafür, dass sie ein Mädchen ist.
Knagsteds Hand sank mit dem Brief in seinen Schoss nieder ...
Er und der Maler hielten sich im Atelier auf, der Zöllner sass auf dem Diwan und Neumann ging rastlos im Zimmer auf und nieder.
Alle Wände hingen voll von Studien und fertigen Bildern, grosse und kleine, auf denen die Kinder spielten und nackend herumsprangen. Und die fröhliche und frische Lebensauffassung des Malers hatte gleichsam einen sonnenhellen Festglanz über sie alle ausgegossen ...
Neumann nahm den Brief aus der Hand des Zöllners:
»Haben Sie wohl beachtet,« fragte er, »dass er mit keinem Wort Pastor Sörensen erwähnt?«
»Pastor Sörensen ...?«
»Ja; und ich finde, dass allein dieser kleine Zug davon zeugt, welch ein prächtiger Charakter Hother war.«
»Pastor Sörensen ...?« wiederholte Knagsted. »Was hat der damit zu tun?«
»Ja, ich bin der Ansicht, dass er mit seinen schmutzigen Phantasien meinen Jungen in den Tod gejagt hat. Er hatte nämlich in letzter Zeit angefangen, Hother aufzusuchen und ihm Reden zu halten.«
Der Zöllner schüttelte still den Kopf.
»Lieber Neumann, ich muss wiederholen, was ich schon neulich gesagt habe, als wir über diese Sache redeten: der Pfarrer hat in der besten Absicht gehandelt.«
»Dann ist das eine schmutzige Absicht und eine perverse Absicht; und ich habe mir das auch vorgenommen, ihm das zu sagen!«
»Das sollten Sie nicht tun, lieber Freund; er wird Sie gar nicht verstehen ... Er hat ja nur die Vorschriften seiner Religion befolgt.«
Der Maler blieb jäh vor dem Freund stehen:
»Die Vorschriften seiner Religion ...« wiederholte er erregt. »Das ist es ja gerade! Wäre Jesus verheiratet oder auch nur ein klein wenig normal verliebt gewesen, dann würde das Leben für uns andere weit leichter gewesen sein, aber statt dessen umgab er sich immer nur mit männlichen Wesen.«
»Maler, Maler...!« sagte Knagsted warnend.
Aber Neumann liess sich nicht zügeln: »Es ist vom christlichen Standpunkt geradezu ›vornehm‹ nicht zu wissen, dass es mehr als ein Geschlecht gibt!« fuhr er fort. »Und eine Todsünde ist es, einander nackend zu sehen. Versuchen Sie es einmal: fragen Sie jeden beliebigen Geistlichen, ob er seine Frau nackend gesehen hat, – er wird entsetzt nein sagen und sich bekreuzigen! Alle Heuchelei hat ihren Ursprung in den Religionen!«
Knagsted packte den Maler sanft beim Arm und zog ihn auf den Diwan neben sich:
»Seien Sie jetzt ruhig, lieber Freund,« sagte er, »seien Sie jetzt ruhig ... Ich verstehe ja, dass dies schreckliche Unglück ...«
Aber Neumann sprang wieder auf. Und indem er seine geballte Faust in die Luft emporstreckte, jammerte er:
»Was soll ich mit dem Pastor machen, was soll ich mit dem Pastor machen! Wenn man sich vorstellt, dass er nicht nur meinen prächtigen Sohn gemordet, sondern auch uns andern das ganze Leben und die ganze Zukunft zerstört hat! Sonja wird nie wieder ein Mensch nach diesem ... Hother war ihr Lieblingskind, ihre Hoffnung, ihr Stolz ...!«
Hilflos, ratlos sass der Zöllner auf dem Diwan vor ihm:
»Die Zeit heilt alle Wunden, Maler,« begann er in seiner Ratlosigkeit. »Und dann haben Sie ja doch auch noch Ihre Kunst ...«
»Von mir ist hier gar nicht die Rede,« sagte der Maler hart. »Ich bin ja nur Hothers Vater ... Aber Sonja, Sonja ... die arme, arme, liebe Sonja ...!«
Im selben Augenblick wurde an die Ateliertür geklopft:
»Wer ist da?« fragte Knagsted ängstlich.
Das Stubenmädchen Olga kam herein:
»Pastor Sörensen fragt, ob die Herrschaften zu sprechen wären ...«
Der Maler sprang auf sie zu:
» Wer, sagen Sie?«
»Pastor Sörensen ...« wiederholte das Mädchen und zog sich erschreckt einen Schritt zurück.
» Der Pastor ...!?«
Es klang wie ein Schrei, und hätte nicht Knagsted im selben Augenblick seine Hände fest in die Schultern des Malers gekrallt und ihn mit aller Gewalt zurückgehalten, so wäre Frank Neumann wahrscheinlich auf die Diele hinausgestürzt und hätte den Pfarrer niedergeschlagen.
»Lassen Sie mich los!« schrie er. »Lassen Sie mich los!«
»Aber Neumann, Neumann, liebster Freund, so kommen Sie doch zu sich ...! Sagen Sie dem Herrn Pastor,« wandte sich Knagsted darauf an das Mädchen, das bleich vor Schrecken dastand, »sagen Sie dem Herrn Pastor, dass die Herrschaft nicht empfängt, und dass er sich nicht wieder hierher bemühen möchte; ich werde ihn in den allernächsten Tagen aufsuchen ...«
Olga ging.
Noch immer hielt Knagsted den Maler fest. Aber als die Haustür ins Schloss gefallen war, lösten sich seine Arme, und Frank Neumann sank schlaff auf den Diwan nieder ...
Die Septembersonne fiel durch das schräge Atelierfenster und schien auf das grosse Bild vom Sund, auf dem die Kinder jubelnd umhersprangen, so dass das Wasser um sie aufspritzte ...
Die Augen des Malers waren geschlossen, den Kopf hielt er auf die Brust gesenkt:
»Und wissen Sie, Zöllner ...« begann er (seine Stimme klang leise und angestrengt, fast als drängten sich die Worte gegen seinen Willen hervor). »Wissen Sie, dass dieser Pfarrer seinerzeit seine Frau verführt hat, als sie noch nicht vierzehn Jahre alt war ... und dass er mit ihr als seiner Geliebten zusammen gelebt hat, bis ihre Eltern es entdeckten ...?«
»Was in aller Welt erzählen Sie da, Mensch ...?« fragte Knagsted.
»Ja ...« nickte der Maler.
»Und woher wissen Sie das? Wer hat es Ihnen erzählt?«
Frank Neumann schwieg einen Augenblick. »Ich weiss es ...« sagte er dann.
»Frau Alvilda?« fragte Knagsted. »Die ihm weggelaufen ist?«
»Ja.«
»Hat sie selber es Ihnen erzählt?«
»Nein.«
»Wer denn?«
Wieder schwieg der Maler. Aber dann kam es ausweichend, gleichsam verlegen.
»Rikke Elster ... während ich sie malte ...«
»Und woher weiss sie es?«
»Von der Rollfrau Marie, die selbst gehört hat, wie die Pastorin es dem Mann ins Gesicht schleuderte.«
»Aber lieber Neumann, zwei solche Klatschmäuler ...«
Der Maler erhob den Kopf:
»Ich habe es damals auch nicht geglaubt,« sagte er. »Aber jetzt glaube ich es; ich weiss nicht warum, aber jetzt glaube ich es.«
»Weil Sie es glauben wollen.«
»Mag sein; aber ich glaube es also ...«
»Armer unglücklicher Mann ...« sagte Knagsted unwillkürlich. Aber er dachte dabei an Pastor Sörensen.
Und als er am Abend nach Hause gekommen war und mit seinem Whisky in seinem Zimmer sass, nachdem die kleinen Malerkinder oben im Fremdenzimmer zur Ruhe gebracht waren, sagte er zu seinem vierbeinigen Beichtvater und Vertrauten:
»Jochum,« sagte er, »unser lieber kleiner Freund, Hother Neumann, ist heute gestorben.
Und höre nun gut zu, Jochum, und verstehe es, wenn du kannst:
Er hat sich selbst das Leben genommen, weil ein Pfarrer zu ihm gesagt hat, dass es gegen die Gebote der Religion und die Vorschriften der Moral verstosse, dass Mann und Frau zuweilen Gefallen daran finden, einander nackend zu sehen.
Aber derselbe Pfarrer, lieber Jochum ... hörst du! ... derselbe Pfarrer hat seinerzeit ein vierzehnjähriges Mädchen verführt und sie zu seiner Geliebten gemacht ...
Lirum, larum, Löffelstiel! Ich hab' jetzt über fünfzig lange Jahre gelebt, und noch hab' ich auch nicht einen Deut von dem ganzen Hopphei verstanden!
Du vielleicht?
Nein? Nicht wahr?
Und weisst du warum?
Weil keiner von uns beiden ein Christ ist, so wie zum Beispiel Pastor Sörensen, die Bürgermeisterin Rosenbaum und Oberlehrer Clausen!
Die verstehen es nämlich von Anfang bis zu Ende ... und noch viel weiter.«
»Und doch, lieber Jochum,« endete Knagsted und starrte träumerisch in sein Whiskyglas, »und doch lieben wir diese grosse, schöne, sinnlose, schreckliche Welt ...!
Lirum, larum, Löffelstiel!«