Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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25.

Nun fragte ich alle ehrlichen Leute, Griechen und Barbaren, Männer und Weiber, (die Zwitter und Kastraten mit eingerechnet) »was an der Geschichte, die ich eben erzählt habe, denn so sehr ärgerliches ist?«

Auf mein Wort, ich begreife nichts davon. Alle Umstände vorausgesetzt wie sie wirklich waren, seh' ich nicht, wie ich selbst, oder die schöne Frau, oder beide zusammen, uns anders hätten betragen sollen als wir thaten.

Indessen höret was geschah! Des folgenden Tages war die Sache in ganz Korinth ruchbar; man sprach drey Tage lang von nichts anderem als von Diogenes und der schönen Frau; man erzählte einander den Umstand mit einem andern von eigner Erfindung; man setzte sie sogar in Verse, und gestern Nachts hörte ich sie auf der Gasse singen.

Aber das ist noch nichts. Man urtheilte auch darüber; man untersuchte, was Diogenes und die schöne Frau gethan hatten, was sie nicht gethan hatten, aus was für geheimen Bewegursachen und zu welchem Zwecke sie es gethan hätten; was sie unter diesen oder andern gegebenen Umständen hätten thun können, oder thun sollen, u. s. w. Man sprach für und wider davon, und die Stimmen fielen einhellig dahin aus: »Daß Diogenes in dieser ganzen Sache weder als ein weiser noch als ein tugendhafter Mann gehandelt habe.«

Eine alte Dame fand sehr übel, daß er seinen Mantel so spät gehohlt hätte. Was für eine Unvorsichtigkeit, wenn man der Sache auch den gelindesten Nahmen geben wollte! Wie war es möglich, das Vergessen seiner selbst so weit zu treiben? Er hätte die Frau, ehe sie sich noch erhohlt hatte, ans Ufer hinlegen, und erst, nachdem er seinen Mantel wieder umgehabt hätte, an einen bequemern Platz tragen sollen.

Sie sind sehr gutherzig, Madam, sagte eine Andere: sehen Sie denn nicht, daß man etwas mit gutem Bedacht vergessen kann? – und daß es ihm gemüthlich seyn mochte, an das Nothwendigste nicht eher zu denken als bis es zu spät war?

Bey den Eleusinischen Göttinnen, schwor eine Dritte, er hätte sich nicht mehr vor mir sehen lassen dürfen, wenn ich die Fremde gewesen wäre!

Vermuthlich, nahm die Vierte das Wort, war die Dame aus einem Lande, wo man noch im Naturstande lebt.

Oder sie sah ihn für einen Satyr an, – sagte die Fünfte, eine große dicke Frau, welche die Miene hatte sich vor zehen Satyrn nicht zu fürchten.

Ich weiß nicht, warum Sie rathen mögen, sprach die Sechste. Ich denke, die Sache spricht von sich selbst. Wenn es nun der Geschmack dieser Dame so ist? Allen Umständen nach war es ohnehin so eine Dame von – den Damen, bey denen es eben nicht viel zu bedeuten hat, ob man ihnen so gar regelmäßig begegnet oder nicht.

So urtheilten die Damen von der ersten und zweyten Klasse zu Korinth; die Priesterinnen ausgenommen, welche gar nicht urtheilten, sondern sich nur nach allen Umständen erkundigten, und da sie hörten, daß er ohne Mantel gewesen als die Dame zum ersten Mahl die Augen aufschlug, feuerroth wurden, die Hände vor die ihrigen hielten, und nichts weiter hören wollten.

In den männlichen Gesellschaften wurde die Sache aus einem andern Gesichtspunkt erörtert.

Warum erstreckte sich seine Dienstfertigkeit nur auf die schöne Frau? Warum ließ er die ehrliche Amme zu Grunde gehen? Sie mußte doch, wie der Erfolg zeigte, seiner Hülfe eben so sehr benöthiget gewesen seyn!

Die Frage ist um so begründeter, setzte ein Andrer hinzu, da sich vermuthen läßt, daß die schöne Frau auch ohne seine Hülfe das Ufer würde erreicht haben.

Sie sind streng, meine Herren, sprach der Dritte: als ob es nicht natürlich wäre, sich lieber um eine schöne junge Frau als um ihre alte Amme Verdienste machen zu wollen, ha, ha, he! – Der Mann lachte über seinen guten Einfall – Ha, ha, he! –

Zumahl, fügte ein Vierter mit einer spitzfündigen Miene bey, da man nicht alle Tage einen so ehrbaren Vorwand findet, mit einer schönen Nymfe in puris naturalibus hinter eine Hecke zu gehen.

Ich weiß von guter Hand, ließ sich ein Fünfter vernehmen, der erst kürzlich Rathsherr geworden war, daß sie über zwey Stunden allein bey einander im Gebüsche waren; und es könnten Zeugen aufgeführt werden, welche seinen Mantel am Ufer und die Kleider der Dame an einem dürren Aste gegen die Sonne haben hangen sehen.

Ich denke nicht gern das Ärgste, sprach ein Priester Jupiters, ein ernsthafter Greis – von vierzig Jahren, indem er sehr emfatisch auf sein gedoppeltes Unterkinn drückte. – Aber, so wie die Menschen einmahl sind, hör' ich nicht gern von großmüthigen Handlungen reden, wenn ein Frauenzimmer, zumahl ein junges und schönes Frauenzimmer, dabey im Spiel ist. Es fällt so stark in die Augen, warum man sich, wie schon vor mir erinnert worden ist, um diese letzte Klasse so gern verdient macht. Ich möchte, wenn ernsthaft von der Sache gesprochen werden soll, wohl wissen, warum eine schöne Frau, in so fern sie eine schöne Frau ist, liebenswürdiger seyn sollte als ihre Amme? Haben wir nicht die nehmlichen Pflichten gegen sie? Ist nicht in vorliegendem Falle die eine so hülfsbedürftig als die andere? Ist nicht Frömmigkeit und Unsträflichkeit der Sitten dasjenige, was den wahren Werth der Menschen bestimmt? Und hat eine junge oder schöne Frau dieser zufälligen Eigenschaften wegen etwa mehr Anspruch an Frömmigkeit und Tugend, als eine alte oder häßliche? – Natürlicher Weise ist eher das Gegentheil zu vermuthen. Ein tugendhafter Mann, wenn er weise ist, – und das muß er seyn, oder seine Tugend läuft alle Augenblicke Gefahr zu straucheln – würde in einem solchen Falle, wo er unter beiden wählen müßte, sich um so mehr für die Amme bestimmt haben, je reiner bey dieser seine Bewegungsgründe seyn konnten, je erbaulicher das Beyspiel gewesen wäre, das er dadurch gegeben hätte, und je weniger er dabey für seine eigene oder ihre Tugend zu besorgen gehabt hätte.

Vergieb mir, Vater der Götter und Menschen! – aber es ist mir unmöglich, deinen Priester länger so gravitätisch – Unsinn sagen zu hören. – Du sollst Recht haben, Priester Jupiters! Es ist nicht abzusehen, warum eine schöne junge Frau liebenswürdiger seyn sollte als ihre Amme; sie ist gar nicht liebenswürdig! – Die Tugend der alten Amme, das ist die Sache! Welch ein Kleinod! Dieses hätte gerettet werden sollen! Laßt immerhin die schönen Frauen ertrinken! Was ist daran gelegen? Die Tugend gewinnt doch dabey! Die Versuchungen vermindern sich; was für Beyspiele wollten wir geben, wenn nichts als alte Ammen in der Welt übrig wären! – Diogenes hat weder als ein weiser noch tugendhafter Mann gehandelt; man giebt dir alles zu was du willst, Priester Jupiters, – nur schweige!


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