Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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10.

»Und wie lange, Diogenes, glaubst du denn daß das alberne Ding, das du deine Republik nennst, dauern würde?«

Die nehmliche Frage that ich an Alexandern: aber ich beantworte sie nach meiner Manier. Sie wird so lange dauern, bis meine Insulaner – es sey nun von dem vorhin gedachten Athener, oder durch irgend einen andern Zufall – mit allen den Vortheilen bekannt gemacht werden, die ihr vor ihnen voraus habt. Die Unwissenheit, die bey euch eines der größten Übel ist, ist bey meinem Volke die Grundlage seiner Glückseligkeit.

»Aber, sollte es denn nicht möglich seyn, (sagt ihr) Witz und Geschmack, Bequemlichkeit, Pracht, Überfluß, und alle Vortheile der Üppigkeit, mit Ordnung und Sitten, mit allgemeiner Tugend und allgemeiner Glückseligkeit zu vereinigen?«

Nichts leichter – in einem Staate, der, wie die Republik des Diogenes, eine – bloße Schimäre seyn soll.

Ich wünschte, daß Alexander von Macedonien, oder der König von Babylon, oder der erste beste König der euch beyfällt, die Gnade haben wollte, meine Meinung durch eine Probe zu widerlegen. – Nun! wer weiß, was in tausend oder zwey tausend Jahren geschehen kann!

Das gestehe ich, daß für einen Zuschauer, der aus dem Mond oder Jupiter auf unsre Halbkugel herab guckte, die buntscheckige Gestalt derselben, in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit von Einwohnern, mit dreyeckigen, viereckigen, runden und eyformigen Köpfen – mit gebogenen, platten und aufgestülpten Nasen – mit langen oder wollichten, weißen, rothen und schwarzen Haaren – mit weißer, brauner, braungelber, olivenfarbner, oder pechschwarzer Haut – von langer, mittelmäßiger, oder zwergichter Statur; – gekleidet in Gold- und Silberstoffe, Seide, Purpur, Leinewand, Baumwolle, Schafwolle, Ziegenfelle, Bären- oder Seehundhäute; oder ohne Kleider, mit ihren Schürzen oder Trichtern um die Hüften, oder gar ohne Trichter und Schurz; – in Häusern von Marmor, Backsteinen, Holz, Schilfrohr, Lehm oder Kühmist; – mit allen ihren Verschiedenheiten von Lebensart, Sitten, Barbarey, Polizey und Tyranney; – mit allem ihrem Glauben an unzählige Arten von wohlthätigen und übelthätigen Göttern, und mit allen ihren Larven von falschen Tugenden und eingebildeten oder erkünstelten Vollkommenheiten, vor dem Gesichte: – – ich gestehe, sag' ich, daß dieser Anblick für den Zuschauer aus dem Monde (der weiter nichts dabey zu gewinnen noch zu verlieren hätte) ein viel angenehmeres Schauspiel wäre, als der Anblick eines so einförmigen Volkes wie meine Insulaner.

Diese Vorstellung könnte uns, durch einen einzigen Schritt vorwärts, auf den Gedanken leiten: daß die Menschen nur dazu gemacht seyen, dem Muthwillen irgend einer mächtigen Art von Geistern zur Kurzweil zu dienen; – aber das ist ein so niederschlagender, gelbsüchtiger, hassenswürdiger Gedanke, daß ich es nicht einen Augenblick ausstehen kann ihn für möglich zu halten.

Ich bin nichts weniger als ein Verächter eurer Künste und Wissenschaften. So bald ein Volk einmahl dahin gekommen ist, ihrer vonnöthen zu haben, so kann es nichts bessers thun, als sie so weit zu treiben als sie gehen können. Je weiter ihr euch von der ursprünglichen Einfalt der Natur entfernt habt, je zusammen gesetzter die Maschine eurer Polizey, je verwickelter eure Interessen, je verdorbener eure Sitten sind: desto mehr habt ihr der Filosofie vonnöthen, eure Gebrechen zu verkleistern, eure streitenden Interessen zu vergleichen, euer alle Augenblicke den Umsturz drohendes Gebäude zu stützen, so gut sie kann und weiß.

Aber dafür gesteht mir auch, daß eben diese Filosofie, wenn ihre wohlthätige Wirksamkeit nicht durch eine unzählige Menge entgegen wirkender Ursachen gehemmt würde, euch von Grad zu Grad unvermerkt wieder zu eben dieser ursprünglichen Einfalt zurück führen würde, von der ihr euch verlaufen habt, – oder die Wiederherstellung der Gesundheit müßte nicht der Endzweck der Arzney seyn.

In euerm jetzigen Zustande, was thun eure Filosofen, als daß sie euch ohne Aufhören beweisen, daß ihr beynahe über alles unrichtig denkt, beynahe immer unrecht handelt, und daß in eurer ganzen Verfassung, Polizey und Lebensart beynahe alles anders seyn sollte als es ist? – Das heißt den Kranken überzeugen, daß er krank ist. – Ihn gesund zu machen, das wäre der große Punkt! Aber ich wollte wetten, daß es ihnen eben so wenig Ernst ist euch gesund zu machen, als es euch Ernst ist gesund zu werden. Ich könnte euch eine sehr gute Ursache sagen, warum ich es glaube; aber man muß nicht alles sagen was man weiß.

Ich hoffe demnach, ihr werdet mir – in Erwägung, daß ich nichts dafür kann wenn mir der Schnee weiß vorkommt – nicht übel nehmen, daß ich unmöglich begreifen kann, wie man mit zehn tausend Bedürfnissen glücklich seyn könne; oder, daß es eine so herrliche Sache sey als ihr euch einbildet, eine so ungeheure Menge Bedürfnisse zu haben.

Bloß aus dieser Überzeugung hab' ich mich verbunden gesehen, den Einwohnern meiner Republik, da ich sie machen konnte wie ich wollte, so viel Bedürfnisse zu ersparen als möglich war. Ich hätte keine Nacht ruhig schlafen können, wenn ich mir den Vorwurf hätte machen müssen: Wär' es nicht besser gewesen sie gar nicht zu machen, als sie unglücklich zu machen?

In Folge dieser Zärtlichkeit für meine Geschöpfe, und damit ich ihnen, so viel an mir ist, alle Gelegenheit ihre Vervollkommenbarkeit zu entwickeln abschneide, – kann ich demnach nicht umhin, zu ihrem besten noch einen Schlag mit meiner Zauberruthe zu thun, und die ganze Insel auf immer und ewig – unsichtbar zu machen. Alle Mühe, die sich eure Seefahrer jemahls um ihre Entdeckung geben möchten, würde verloren seyn; sie werden sie in Ewigkeit nicht finden!


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