Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Ich habe euch schon so viel von meiner Denkensart merken lassen, daß es beynahe unnöthig ist, von der Staatsverfassung meiner Republik zu sprechen. Sie ist sehr einfach; ihre Erfindung hat mich keine halbe Stunde Zeit gekostet.

Den Unterschied ausgenommen, den die Natur selbst macht, sind alle meine Leute einander gleich; – und sie ersuchen den Aristoteles durch mich, nicht übel zu nehmen, daß sie den Satz: »der Stärkere sey der natürliche Herr des Schwächern,« für einen der garstigsten Sätze halten, die jemahls von dem Gehirn eines Filosofen abgegangen sind.

Der Stärkere ist der natürliche Beschützer des Schwächern, das ist alles. Seine Stärke giebt ihm kein Recht, sie legt ihm nur eine Pflicht auf.

Bei der ungekünstelten ländlichen Lebensart meiner Insulaner, bey ihren wenigen Bedürfnissen, bey der Vorsicht, die ich gebraucht habe einer gar zu engen Vereinigung unter ihnen vorzubauen, bey dem gerechten Vertrauen, welches ich in die Güte der Natur setze, und bey den wenigen Gesetzen, die ich ihnen eben darum zu geben nöthig befunden habe, – begreif' ich nicht, warum ich einen so großen Grad von Verderbniß bey ihnen besorgen soll, daß ich bewogen werden könnte, ihnen im Voraus eine künstliche Polizey zu geben.

Sollten sich, wider besseres Verhoffen, kleine Zwistigkeiten unter meinem Völkchen entspinnen, oder sollte jemand, es sey nun aus Muthwillen, oder Eifersucht, oder böser Laune, sich so sehr vergessen, einem andern zu thun, was er nicht haben wollte daß man ihm thäte: so wird es so schwer nicht seyn, ohne Advokaten und Richter, ohne erste, zweyte und dritte Instanz, alles gar bald wieder in den alten Stand zu setzen.

Gemeiniglich ist der Handel so unerheblich, daß er, mit etwas Geduld auf der einen Seite und mit einer kleinen Wiederkehr zu sich selbst auf der andern, leichtlich beygelegt werden kann.

Im Nothfall werden ein paar Nachbarn zu Schiedsrichtern erbeten, und man unterwirft sich ihrem Ausspruch ohne Widerspenstigkeit.

Gewaltthaten sind unter einem so sanften Volk, als das meinige, nicht zu besorgen; und allenfalls verlasse und mich darauf, daß die Empfindung des gemeinschaftlichen Besten, auf den ersten Ruf, so viele Arme bewaffnen würde, als nöthig wäre dem Unterdrückten gegen den Unterdrücker beyzustehen.

Überhaupt hat ein Volk, das durch Sitten regiert wird, keine Gesetze vonnöthen, so lange es seine Sitten bewahrt. Und haben meine Insulaner einst die ihren verloren, so – sey ihnen der Himmel gnädig! Die Noth wird sie alsdann so gut Gesetze machen lehren, als Plato und Aristoteles; aber, was sind Gesetze ohne Sitten?


 << zurück weiter >>