Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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V.

Glycera an ihre Verwandte Nannion zu Sicyon.

Ich lebe nun beinahe einen Monat in dem schönen Athen, und mir ist ich lebe unter den Göttern. Was ich für ein Kind war, als ich mir einbildete, Sicyon sei eine schöne und große Stadt! Izt, da ich Athen gesehen habe, dünkt mich jenes ein Dorf und diese die einzige Stadt in der Welt. Mit jedem Schritt glänzt dir ein Tempel oder eine auf zierlichen Säulen ruhende Halle, oder ein Gymnasion, oder ein andres öffentliches Prachtgebäude in die Augen; überall siehst du dich von ehrwürdigen Denkmählern des Alterthums und den herrlichsten Werken der neuern Kunst und des reinsten Geschmacks umgeben, und du würdest (wie es mir erging) vor Vergnügen in Entzückung gerathen, wenn du die Propyläen, das Parthenon und das Odeon des Perikles zum ersten Mal sehen solltest.

Meine Mutter hat (wie es unsre Umstände mit sich bringen) ein kleines Häuschen in der Vorstadt Piräus gemiethet, woran das Beste ein ziemliches Stück Gartenland ist, wo wir mancherlei Blumen, besonders Rosen, Hyacinthen, Anemonen und Ranunkeln von allen Farben zum Behuf meiner Blumenkränze ziehen werden. Für izt haben wir einige Blumengärten in Beschlag genommen, um mich mit den Materialien zu meiner Kunst zu versehen, die hier großen Beifall findet, und uns, wie ich hoffe, hinlänglich nähren wird.

Man sagt, ein sehr reicher und angesehener Mann zu Athen habe dem Pausias die Tafel, worauf er mich, einen meiner schönsten Blumenkränze emporhaltend, abgemahlt hat, um großes Geld – einige sagen von sechstausend, andre gar von zehentausend DrachmenEin Drachme galt damals soviel als ein Kopfstück, oder der dritte Theil eines Gulden Konvenzionsgeld. – abgehandelt. Meine Mutter und meine Schwestern bauen große Hoffnungen auf diese Sage. Wenn er um dein bloßes Bildniß eine so ungeheure Summe giebt, sprechen sie, wie viel wirst du ihm erst selber werth sein? Ich höre sie nicht gern so reden. Ich will weder nach Drachmen noch nach MinenEine Mine galt sechzig Drachmen, d. i. zwanzig Gulden K. G. Ein Talent hundert Minen, also Tausend unsrer Speciesthaler, beiläufig. geschätzt sein. Ich weiß, daß ich nur ein armes Mädchen bin, aber ich habe keinen Preis. Gewiß ist indessen, daß der reiche Herr bis itzt noch nichts von sich hören ließ. Am Ende ist wohl an der ganzen Sache nichts, und desto besser!

Mit jedem Tage werde ich von Athen und seinen Einwohnern mehr bezaubert; es sind die artigsten, angenehmsten und gefälligsten Leute von der Welt. Aber was mich am meisten freut, ist, daß ich nun in der Stadt lebe, wo Menander wohnt. Du weißt, daß ich seine Stücke beinahe auswendig kann. Nun werd' ich sie auch aufführen sehen, vielleicht mit ihm selbst bekannt werden; und wer weiß – Bewahre mich, gute Adrastea, vor einem gar zu übermüthigen Gedanken! Aber daß ich ihn wenigstens nur zu sehen bekommen möchte, das darf ich doch wohl wünschen? Lebe wohl Nannion! Ich gedenke dir so oft zu schreiben, als ich etwas von mir zu berichten habe, und erwarte dasselbe von dir.


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