Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXXVI.

Menander an Glycera.

Mancherlei Erfahrungen, beste Glycera, hatten mich ehmals beinahe gewiß gemacht, daß ich nie eine Person deines Geschlechts finden würde, die alles in sich vereinigte, was mein Eigensinn von derjenigen forderte, an welche mein Herz sich auf ewig ergeben könnte. Ich sah Dich, und fühlte, oder glaubte zu fühlen, daß ich die Einzige, die dieses Wunder zu thun vermöchte, in Dir gefunden hätte. Lange dauerte der süße Wahn. Aber, da alle deine Reitze, alle deine Vorzüge, alle deine Tugenden, die Flatterhaftigkeit und Ungenügsamkeit meiner Sinnesart nicht bezwingen konnten: so sehe ich klar, daß die Magie der Liebe, so gut als alles andere Zauberwesen, bloße Täuschung, und die Gefühle des Augenblicks das einzige sind, was daran wahr und wirklich ist. Fern sei es von mir dir Vorwürfe zu machen, daß du meine ausschweifende Erwartung nicht ganz erfüllt hast; daß du bei allen deinen Vorzügen – mit Einem Wort – doch nur ein Weib bist. Warum solltest du nicht sein, wozu die Natur dich gemacht hat? Und wenn ich eigennützig genug war zu wünschen, daß du von jeder Schwachheit deines Geschlechts zu Gunsten der meinigen frei sein möchtest, was für ein Recht hatte ich es zu fordern?

Du hofftest, mich desto gewisser fesseln zu können, wenn du mich frei ließest; ich wähnte thörichter Weise, du würdest die naive Unbefangenheit, die holde bezaubernde Kindlichkeit von sechszehn Jahren, immer behalten, und, die reine Wahrheit zu gestehen, darauf allein gründete sich die ewige Liebe, die ich dir schwur. Die Erfahrung hat uns beiden die Augen geöffnet. Wir können uns selbst nicht länger täuschen. Eine neue Liebe hat meine Sinnen gefesselt; ich war überwunden, ehe ich daran denken konnte, Widerstand zu thun: auch diese Berauschung aus Amors vollstem Nektarbecher wird ein Ende nehmen. Ich sage mirs in den hellen Augenblicken der Besonnenheit selbst. Ich werde erwachen, und zu meiner Glycera, die in meiner Erinnerung doch immer die Einzige bleibt, zurückkehren wollen: aber werde ich meine Glycera in ihr wieder finden? – Es zu hoffen, wäre Wahnsinn. – Ich spreche mir also selbst mein Urtheil. Hältst du mich so, wie du mich nun kennest, deiner Achtung nicht unwürdig; kannst du meine Fehler ertragen, wie ein Freund die Fehler des Andern erträgt: so sei mein Freund, liebe Glycera! – Mich wird das lebhafteste Gefühl deines Werths, von der wärmsten Dankbarkeit erhöht, nur mit dem letzten Athemzug verlassen.


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