Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXXI.

Menander an Dinias.

Ich bin den Grazien ein großes Söhnopfer, und der reitzenden Nannion eine reuvolle Palinodie schuldig, lieber Dinias. Ich habe sie tanzen sehen, und fühle, däucht mich, erst seitdem, was ein Paar gesunde Augen werth sind. Sie tanzte die Geschichte von Theseus und Adriadne, und – was kann ich dir davon sagen, als: komm je bälder je lieber zu uns herüber! denn bis du Nannion tanzen gesehen hast, hast du nichts gesehen. Wo soll ich anfangen, alle Lästerungen zu widerrufen, die ich gegen diesen Liebling der Terpsichore ausgestoßen? Schwatzte ich nicht von Häßlichkeit, von einer plumpen Bacchantin, von einem Faunengesicht? Wo hatte ich meine Sinnen? Daß wir doch von allem immer nach Vergleichungen urtheilen, und nichts mit seinem eignen Maße messen können! Müssen denn alle Mädchen so schlank wie Glycerion seyn, oder die Nase der Knidischen Venus haben? Ist die Lilie plump, weil sie nicht so niedlich wie das Maiblümchen ist? – Wisse also, Freund Dinias, daß du, um keinen Theil an meiner Versündigung zu nehmen, deine Vorstellung von Nannion gänzlich umändern mußt. Fürs erste ist sie, sobald sie sich im Tanz bewegt, alles andre eher als plump; man kann nichts geschmeidigers und gewandters, keinen leichtern und zierlichern Anstand, keine schönere Harmonie aller Glieder zu sehen verlangen. Der Blick vermag ihr kaum schnell genug zu folgen, und man wünscht sich alle hundert Augen des Argus, um alles, was sie auf einmal darstellt, zugleich auffassen zu können; denn etwas geht immer verloren, da es kaum möglich ist, auf die kraftvolle Sprache ihrer Augen und Gesichtszüge, und auf die eben so sprechenden Bewegungen ihrer Arme und Hände und übrigen Glieder zugleich scharf genug Acht zu geben, daß Einem Nichts entwische. Zweitens ist zwar nicht zu läugnen, daß ihre Züge weder regelmäßig, noch die meisten Theile ihres Gesichts, einzeln genommen, sehr schön genannt werden können; aber wenn schön ist, was gefällt, anzieht, bezaubert, in Entzücken setzt, so müßte Momus selbst gestehen, daß ihre Augen (für die ich kein Beiwort habe) einen so verschönernden Glanz über ihr Gesicht verbreiten, und mit einer solchen Gewalt über alle andere Theile zu herrschen scheinen, daß in einiger Entfernung alles Mißtönende verschwindet, und das Ganze ihres Gesichts mit einer Art von Schönheit überrascht, die gerade dadurch, daß sie Einem noch nie vorkam, eine weit größere Wirkung thut, als diese regelmäßigen Bildsäulengesichter, die man schon zehentausendmal gesehen zu haben glaubt, weil man ihresgleichen in allen Tempeln und Hallen und Gärten überall in Menge sieht. Aber noch mehr! Nannion hat sogar das Talent, der Juno von Samos und der Venus des Alkamenes ähnlich zu sehen, sobald sie will; denn ihre Züge haben eine so außerordentliche Regsamkeit und Beharrlichkeit zugleich, und gehorchen ihrem Willen so unbedingt, daß sie ihrem Gesicht unzähliche Formen zu geben, und nicht nur alle Leidenschaften mit ihren leisesten Abstufungen und feinsten Mischungen, sondern sogar jeden Karakter, und beinahe jedes einzelne Gesicht, in gehörigem Abstand von den Zuschauern, bis zur Täuschung, darzustellen vermag. Sie hat sich in dieser Kunst besonders geübt, und gab uns, als ich sie zum ersten Mal bei einem unsrer Archonten tanzen sah, eine Probe davon, die alle Anwesenden in Erstaunen und Entzückung setzte. Sie verwandelte ihren Kopf in zehn oder zwölf ganz verschiedene Karakter-Köpfe, und zeigte uns in weniger als einer Viertelstunde die Niobe, die Medusa, die Medea, die Pythia auf dem heiligen Dreifuß, die Homerische Andromacha, die von ihrem Gemahl Abschied nimmt, die Eurydice, die in dem Augenblicke, da Orpheus sich nach ihr umsieht, von einer unsichtbaren Macht ins Schattenreich zurückgezogen wird, und mehrere Darstellungen dieser Art, mit einem Schein von Wahrheit, der die Wirkung der künstlichsten tragischen Larven weit hinter sich zurückläßt. Betrachte alles, was ich dir von diesem bewundernswürdigen Mädchen gesagt habe, als einen bloßen Schattenriß. Ich setze nichts weiter hinzu, weil am Ende von allen solchen Erscheinungen gilt, was Xenophon seinen Sokrates einem jungen Menschen, der die Schönheit der Hetäre Theodota unbeschreiblich nannte, antworten läßt: es bleibt uns also nichts übrig, als zu gehen, und sie in Augenschein zu nehmen.

Ich sehe dich die Achseln zucken, Dinias, und für mich und Glycerion wenig Gutes von dieser neuen Erscheinung ahnen. Aber sei unbesorgt. Nannion wird ihre Thür von so reichen Mitbewerbern belagert sehen, daß für deinen Menander wenig zu hoffen bleiben würde, wofern er das Unglück hätte, so vielen und seltnen Reitzungen zu unterliegen. – Und doch, gesetzt dies wäre wirklich der Fall, warum sollt' ich sogleich den Muth sinken lassen? Denke an Lais und Diogenes. Was sogar diesem Cyniker begegnete, warum sollt' es Menandern nicht auch begegnen können? Das Glück und die Liebe haben oft wunderliche Launen. Von Glycera besorge ich nichts. Sie ist zu sehr meine Freundin, als daß sie mir mißgönnen sollte, bei der ihrigen glücklich zu sein. – Doch davon ist noch nicht die Rede. Weil ich einer Künstlerin, wie Athen noch keine gesehen hat, bloße Gerechtigkeit widerfahren lasse, muß ich darum verliebt in sie sein?


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