Fedor von Zobeltitz
Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz

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V

Als der Herbst kam, hatte sich Emich beim Regiment bereits völlig eingelebt.

Klempin lag etwa zwei Fahrstunden von Stenzig entfernt und war, wie die meisten kleinen Kavalleriegarnisonen, ein unbedeutendes Ackerbürgerstädtchen, in das nur das Regiment etwas Leben und Bewegung brachte. Auf dem Marktplatze, gegenüber dem uralten Rathaus mit seinen vorsintflutlichen niedrigen Arkaden, stand das Hotel Prinz von Preußen, dessen erstes Stockwerk das Offizierskorps für seine Kasinoräumlichkeiten gemietet hatte. Gleich vorn an der Ecke des Marktplatzes der Kommandeur des Regiments, der Oberst von Hildringen, ein hübscher, stattlicher Mann, aber so arm, daß er es selbst als ein Wunder Gottes betrachtete, sich immer noch halten zu können. Er war Witwer, und seine drei Töchter führten ihm die Wirtschaft, niedliche und tapfere Mädchen, Mi, Mé und Ma genannt; doch getauft waren sie auf die Namen Annemarie, Meta und Margot. Dem Obersten gegenüber logierte der Etatsmäßige des Regiments, Major von Blohme, der den Spitznamen »der rote Helfershelfer« führte, denn er trug auf einer langen, hageren Gestalt einen kürbisförmigen Kopf mit brennend rotem Haar, und auch das Gesicht hatte gewöhnlich eine ponceaurote Färbung, und wenn der Major sich ärgerte, was häufig passierte, so wurde es purpurn. Er erfreute sich allgemeiner Unbeliebtheit, nur sagte man es ihm nicht, denn er war im Gegensatz zu Hildringen sehr reich, hatte im letzten Feldzuge eine französische Herzogin geheiratet und war zudem ein Vetter des Grafen Wiegel, auf dessen Gebiet das ganze Offizierskorps zu jagen pflegte.

Weiter hinab die Straße wohnten noch andere Offiziere: im Hause des Bäckermeisters Nitschke der Eskadronchef Emichs, Rittmeister Graf Encken, ein liebenswürdiger und prächtiger Herr, dann Sassenhausen und dicht neben ihm, beim Regimentssattler Buggenau, der älteste Premier der Schwadron Emichs, Mac Lewleß. Das war ein geborener Schotte; sein Vater war längere Zeit Gouverneur von Helgoland gewesen und hatte dort eine Deutsche geheiratet, eine Komtesse Pfuhl, die nach dem Tode ihres Mannes mit ihrem Sohn zusammenlebte.

Sassenhausen, Mac Lewleß und Emich waren das Dreiblatt, das man gewöhnlich beieinander sah. Emich hatte in derselben Straße zwei hübsche Zimmer beim Apotheker Koelle gefunden. Unten im Parterregeschoß lag die Apotheke; »Zum Mohren« hieß sie, aber die schwarze Figur, die über der Türe stand, sah eher wie ein leidender Schornsteinfeger aus. Doch die Sauberkeit, die in dieser Apotheke herrschte, hatte Emich angelockt; es blinkte und blitzte alles, und denselben freundlichen blitzblanken Eindruck machten auch Herr Koelle, Frau Koelle und Fräulein Rosamunde Koelle. Leider hatte letztere ein sehr verliebtes Gemüt und verschoß sich deshalb regelmäßig in die im »Mohren« wohnenden Herren. Zuerst war es ein Referendar gewesen, dann ein Assistenzarzt zweiter Klasse und nun der Graf Schöningh.

Emich ahnte von dieser verhaltenen Leidenschaft nichts; sie wäre ihm wahrscheinlich auch gleichgültig gewesen. Er freute sich über seine hübsche Wohnung und hatte in der ersten Zeit genug zu tun, sie behaglich einzurichten. Auf Rat der Tante Irmela hatte er sich die nötigen Möbel aus Seesenheim kommen lassen, darunter fast die gesamte Einrichtung aus dem ehemaligen Arbeitszimmer seines Vaters, von der ihm jedes Stück teuer war. Nur einen neuen Teppich hatte er sich anschaffen wollen. Aus Seesenheim war ein ungeheuerliches Exemplar eingetroffen, verschossen, durchlöchert und vermottet. Der Teppich war schon zu Lebzeiten des Grafen Erich nichts weniger als schön gewesen. Emich entsann sich gut, wie sehr sich der Vater gegen eine Neuanschaffung gewehrt hatte; für seine vier Köter, die sich tagsüber darauf herumwälzten, sei der alte Brüsseler noch frisch genug, pflegte er zu sagen, wenn seine Gattin mit Anspielung auf das graublauviolette Ungetüm auf die Weihnachtsgeschenke zu sprechen kam. Nun war er ganz unbrauchbar geworden.

Anfänglich hatte Emich der Dienst, den er kennenlernte, viel Freude gemacht. Doch als in den Wochen vor dem Manöver die Anstrengungen sich zu häufen begannen, trat eine Ermüdung ein. Meist wurde schon zwischen fünf und sechs Uhr früh ausgerückt; auf der sogenannten Klempiner Heide fanden Regiments-Exerzitien und Felddienstübungen statt, die oft bis zum Mittag währten. Am Nachmittag folgten sodann noch Instruktions- und Schießstunden und Appelle aller Art. Oberst von Hildringen, selbst ein passionierter Frontsoldat, nahm die jung ernannten Offiziere besonders scharf heran. Schon nach den ersten vier Wochen war Emich zu den Rekruten kommandiert worden, wo ihm freilich ein älterer Kamerad, Leutnant von Stegemann, zur Seite stand. Er war oft so müde, daß er des Abends gar nicht mehr in das Kasino ging, sondern sich von seinem Burschen ein paar Butterbrote und ein Glas Bier holen ließ, um dann schleunigst sein Bett aufzusuchen.

Erst nach beendetem Manöver, das das Regiment nach Schlesien geführt und viel unterhaltende Abwechslung geboten hatte, kam eine ruhigere Zeit. Sassenhausen, Mac Lewleß und Emich waren jetzt viel zusammen. Der lange Mac hatte keine glückliche Häuslichkeit. Seine arme Mutter, die er vergötterte, litt seit dem Tode ihres Gatten an einer fortschreitenden Geistesstörung, für die es keine Heilung gab. Sie war im allgemeinen eine stille und geduldige Kranke, aber für den Sohn war es furchtbar, die allmähliche Auflösung der geliebten Mutter in allen Stadien des Verfalls beobachten zu müssen. Die frohe Heiterkeit, die gewöhnlich im Kasino herrschte, floh er; es erschien ihm wie eine Todsünde, mit den anderen zu scherzen und zu lachen, wo er daheim fort und fort den schwarzgeflügelten Würgengel an die Türen pochen hörte. Am liebsten verlebte er die Abende in der Wohnung Emichs oder Sassenhausens.

Für Emich war der intimere Verkehr mit Mac Lewleß von großer Bedeutung für seine Entwicklung. Gerald – so hieß der Schotte mit Vornamen und so nannten ihn auch seine Freunde – war ein stark ausgeprägter Charakter und ein Mensch von Wissen und Bildung. Er hatte in Edinburg und Heidelberg Nationalökonomie und Geschichte studiert und vor seinem, auf Wunsch seiner Mutter erfolgten Eintritt in die preußische Armee noch eine Reise um die Welt unternommen.

Er beherrschte alle möglichen Sprachen, besaß eine umfassende Menschenkenntnis, ein gediegenes Urteil und ein tief sittliches Empfinden, frei von kleinlichen Vorurteilen, einem goldklaren und lauteren Wesenskern entquellend. Obwohl ihn der Soldatendienst nicht befriedigte, tat er seine Schuldigkeit. Er hätte sich gern zur Kriegsakademie gemeldet, aber er fürchtete die Aufregungen der großen Stadt für seine kranke Mutter, die er nicht verlassen wollte.

Ein Geist wie der Geralds konnte auf eine so empfängliche Natur wie Emich nicht ohne Einfluß bleiben. Sassenhausen war ein lieber Freund, ein treuer Kamerad und prächtiger Mensch, doch von ziemlicher Oberflächlichkeit. Ein Glas Sekt mit einem frischen Pfirsich und eine gute Zigarre waren seine Seligkeit; außerdem hatte er eine Schwärmerei für hübsche Mädchen, doch sie mußten blond sein und zausige Stirnlöckchen tragen.

In den ersten Monaten war Emich fast allsonntäglich nach Stenzig hinüber geritten oder gefahren. Je inniger sich aber sein Freundschaftsverhältnis zu Mac Lewleß ausgestaltete, um so mehr vernachlässigte er die Verwandten. Gerald benutzte die freien Sonntage zur Vollendung eines Werkes über Oliver Cromwell, das er vor langen Jahren begonnen und zu dem er ein ungeheures Quellenmaterial zusammengetragen hatte. Es machte Emich nun eine große Freude, ihm dabei zur Hand zu gehen und die im Kadettenkorps in mühseligen Privatstunden erlernten englischen Kenntnisse auffrischen zu können. Gerald hatte eines Tages scherzend gesagt, daß auch Emichs Französisch zu wünschen übrig lasse, und darüber war dieser so unglücklich, daß er beschloß, sich nach Konversationsstunden umzutun. Es war merkwürdig, wie sich mehr und mehr der Einfluß des Schotten auf Emich vergrößerte. Das Band, das die beiden verknüpfte, war stärker als Freundschaft; es ähnelte dem kameradschaftlich gewordenen Verhältnis eines liebevollen Lehrers zu einem intelligenten Schüler. Auch etwas wie die Zärtlichkeit eines Vaters zum Sohne und die respektsvolle Verehrung eines Sohnes zum Vater mischte sich hinein; und doch war Gerald nur ein Dutzend Jahre älter als Emich. Mitte November war Treibjagd in Stenzig. Das halbe Offizierskorps fuhr hinüber. Emich hatte abgesagt, aber ein Bote aus Stenzig brachte ihm noch am Tage vor der Jagd folgenden Brief:

»Geliebtes Dickerchen! Was soll denn das nun wieder heißen?! Warum kommst Du nicht? Du hast doch sonst niemals eine Jagd versäumt? – Ich bin recht unglücklich, daß Du Dich in letzter Zeit so selten sehen läßt. Hat Dir irgendeiner von uns etwas getan? Der Major sagte neulich einmal, Du hättest Anlage zum Philister und wärst ein Stubenhocker. Das ist mir aber wirklich neu. Tu mir die Liebe und komme morgen her. Der Onkel würde es sehr übel vermerken, wenn Du zu Hause bliebst. Ich habe ihm vorläufig Deine Absage verheimlicht. Ich muß Dich auch einmal sprechen; in Stubbach geht irgend etwas vor. Also ich verlaß mich darauf, daß Du kommst. Kuß, mein Dickchen – Deine alte Tante I.«

Das I war lang über die ganze Seite ausgezogen – ein graphologischer Beweis dafür, daß die Tante in Erregung geschrieben hatte. Da gab es freilich kein Zögern mehr.

»Schöne Grüße den Herrschaften«, sagte Emich zu dem wartenden Boten, »und ich würde pünktlich zur Stelle sein.«

Dann kleidete er sich um und ging zu seinem Rittmeister, um sich Urlaub zu erbitten. Das waren nur ein paar Schritte. Vor dem Hause, in dem Graf Encken wohnte, hing eine große goldene Brezel über der Tür. Der Bäckermeister Nitschke ersetzte auch den Portier. Stand er nicht selber in gestickten Morgenschuhen vor der Türe, so saß seine dicke Frau am Fenster und kontrollierte das Straßenleben. Sie sah Schöningh schon kommen und öffnete das kleine Schiebefensterchen oberhalb der Auslage.

»'n Tag, Frau Nitschke! Der Herr Graf zu Hause?«

»'n Tag, Erlaucht! I ja wohl, der Herr Graf sind zu Hause. Eben aus der Reitbahn gekommen und haben noch ein paar frische Mohnwecken für die Kleinen mitgenommen. Erlaucht ißt wohl gar keine Mohnwecken mehr? Früher hat der Bursche immer dreie geholt – nu' kommt er überhaupt nicht mehr. Oder ist Erlaucht der alten Nitschken am Ende gar untreu geworden?«

Emich lachte und versprach Besserung. Er war erst ein halbes Jahr in Klempin und kannte bereits die ganze Einwohnerschaft. Alles trug hier noch den Stempel einer gewissen patriarchalischen Gemütlichkeit. Im »Prinz von Preußen« tagte ein paarmal in der Woche die »Bürger-Ressource«; dort fanden sich zuweilen auch die Offiziere ein, und am Stiftungstage wurde sogar das ganze Offizierskorps geladen. Da saß denn der Bürgermeister neben dem Obersten, und unten am Tische saßen die jüngsten Leutnants, die Fähnriche und Avantageure zwischen den Kommis aus der Buchhandlung, dem Provisor aus der Apotheke, dem Stadtschreiber und dem langen Sohn des Konditors Fliederborn, der dem Herrn Papa zur Hand zu gehen pflegte, wenn man nach der Reitstunde schnell ein Glas Grog bei Fliederborn trank. Als Schöningh in die Ressource eingeführt wurde, begrüßte ihn ein kleiner Mann mit großer Nase besonders lebhaft und freute sich, ihn kennenzulernen: das war der Schneidermeister Wiesel, dem Emich am Tage vorher ein paar Hosen zur Reparatur zugeschickt hatte. Der Kastengeist fand keine Anhänger in Klempin. Nur Herr von Blohme hielt sich geflissentlich zurück und wurde am Stiftungsfeste der Ressource regelmäßig krank.

Als Emich bei seinem Rittmeister vorgelassen wurde, fand er den Grafen bei einer merkwürdigen Beschäftigung. Encken lag der Länge nach auf dem Teppich ausgestreckt und ihm gegenüber lag seine kleine, dralle und rosige Frau. Beide hatten einen Münchener Bilderbogen vor sich und tuschten ihn an, während rechts und links davon ein zweijähriges Mädchen und ein dreijähriger Junge saßen und ganz still, aber mit großen Augen das werdende Wunderwerk betrachteten.

»Grüß' Sie Gott, liebster Schöningh«, sagte Encken. »Schnallen Sie den Pallasch ab und legen Sie sich zu uns!... Halt da – treten Sie mir nicht in das Karmoisin! Ach so, Sie wollten bloß meiner Frau die Hand küssen!... Mieze, du darfst jetzt nicht aufstehen! Wenn wir die Seeschlacht bei Abukir nicht fertig kriegen, heult Fritze wieder. Schöningh, ich sage Ihnen, so ein Junge war noch gar nicht da! Was der für ein malerisches Talent hat – es ist fabelhaft! Alles will er beklext haben – und geschieht's nicht auf der Stelle, so heult er. Ein ganzer Charakter. Meine Frau meint, er wird einmal ein Phidias werden –«

»Apelles«, korrigierte die kleine Gräfin lachend; »Phidias war ein Bildhauer.«

»Also Apelles. Kinder, nun malt alleine weiter; ich habe eine dienstliche Meldung in Empfang zu nehmen.«

Aber das war Fritz, dem Maler, wie auch seinem Schwesterchen Hilde höchst gleichgültig. Sie erhoben ein großes Geschrei, als der Papa aufstehen wollte. Die Gräfin wurde verlegen, schämte sich ob der Unart ihrer Kinder und wollte das Fräulein rufen. Doch Schöningh kam ihr zuvor. Er kniete bereits gleichfalls am Boden und tuschte mit. Während er mit dem Pinsel blaue Wogen malte, brachte er sein Anliegen vor.

»Herr Rittmeister, ich möchte gehorsamst für morgen um Jagdurlaub gebeten haben«, sagte er. »Es steht nur Stiefelappell im Dienstbuch –«

»Aber versteht sich«, erwiderte Graf Encken und tuschte dem Admiral Nelson eine rote Nase. »Nach Stenzig – nicht wahr? Ich fahr' auch hinüber – meine Frau kommt nach.«

»Ich bin ganz erstaunt, daß diesmal Damen zum Diner geladen sind«, bemerkte die Gräfin. »Otto, du mußt mehr Wasser in die Farbe nehmen; was hat denn dein Admiral für ein Gesicht bekommen?!«

»Wenn ich mir eine Ansicht gestatten darf,« sagte Emich, »so möchte ich untertänigst behaupten, daß der Admiral zuviel getrunken hat. Er hat so etwas Champagnerfreudiges an sich. Und auch sein Säbel sieht merkwürdig rot aus.«

»Das ist Blut, Schöningh.« Encken fuhr mit dem Pinsel noch einmal über das Schwert des Seehelden. »So, nun tropft die Klinge ordentlich! ... Mieze, jetzt schmeiß die Kinder 'raus! Ich kann nicht mehr. Mir tut der Rücken weh. Fritze, nicht geheult! Hilde, wisch' dir deine Farbenpfötchen nicht an der reinen Schürze ab! Fritze, laß die Pinsel liegen! Hilde, du sollst die Finger nicht in die Tusche stippen! Jeeses, was hat man an den Kindern zu erziehen! 'raus mit euch! Wo steckt denn Fräulein Marie?!«

»Sie kommt ja schon«, sagte die Gräfin begütigend. Fritz, der Maler, verzog bereits wieder das Mäulchen, und auch Hilde machte ein sehr unglückliches Gesicht.

Graf Encken hatte die Tochter eines bürgerlichen Gutsbesitzers aus der Nachbarschaft geheiratet. Man spöttelte viel über die »Schlichtheit seines Gemüts«; und in der Tat, der Rittmeister war keine Leuchte. Aber er war ein liebenswürdiger Kavalier und ein unendlich gutmütiger Mensch. Emich verkehrte gern bei ihm. Das Enckensche Familienleben stand im strikten Gegensatz zu dem Hause Blohme. Dort frisch quellende Natur und hier steifödes Geradehalten, das jede freie Bewegung verbot.

Es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Mittagessen. Emich wollte Sassenhausen abholen, sprach aber vorher noch einmal bei Gerald vor. Mac Lewleß bewohnte mit seiner Mutter ein kleines villenartiges Häuschen, das etwas hinter die Straßenfront zurückgebaut war und einen hübschen Garten hatte. Die beiden Kastanien vor der niedrigen Treppe, die zur Haustür führte, hatten ihr Laub noch nicht völlig abgeschüttelt, aber bei jedem Windstoß rauschte und raschelte es in bunter Mannigfaltigkeit von den Bäumen. Überall hinter den Fensterscheiben sah man blühende Blumen. In ihrer Pflege erschöpfte sich die ganze Tätigkeit der kranken Mutter Geralds...

Mac Lewleß war am Vormittag dienstfrei gewesen und hatte an seinem Cromwellwerke gearbeitet. Seine sogenannte Bibliothek war ein merkwürdiger Raum, eine Art Gartensaal mit drei Fenstern, alle Wände mit Büchern tapeziert, die ziemlich ungeordnet auf gewöhnlichen, nicht einmal gestrichenen Regalen aus Tannenholz standen. Die Mitte des Zimmers nahm der Schreibtisch ein: eine mächtige, glatt gehobelte Platte, die auf zwei Bockstützen ruhte. Eine Ecke des großen Raumes war durch einen mehrteiligen Wandschirm vom Ganzen abgetrennt. Hinter dem Schirm stand ein eisernes Feldbett, daneben eine Wanne und ein Waschtisch. Hier schlief Gerald. Er lebte wie ein Lazedämonier. Materielle Bedürfnisse gab es überhaupt nicht für ihn. Es war ihm gleichgültig, was er aß und trank. Bis vor kurzem war er ein leidenschaftlicher Raucher gewesen; aber er hatte sich das Rauchen von einem Tag zum andern abgewöhnt, nachdem bei seiner Mutter eine plötzliche Idiosynkrasie gegen den Tabakgeruch eingetreten war.

»I du Donnerwetter«, sagte er, als Emich eintrat; Schöningh war der einzige, der unangemeldet vorgelassen wurde. »Ich wate soeben bis an die Knöchel im Blute von Maston-Moore – da bist du mir eine doppelt willkommene Abwechslung. Setz' dich, my boy!«

Er selber war aufgestanden: ein Recke, riesig gewachsen, mit breiten Schultern, großen Händen und Füßen. Und seltsam genug wie die ganze Erscheinung war auch sein Anzug. Er trug weißlederne Reithosen und nichts an den Füßen. Barfußlaufen war seine Passion, doch er frönte ihr nur in der Einsamkeit seiner Bibliothek. Um den Oberkörper hatte er ein schottisches Plaid geschlungen.

Aber man vergaß das Närrische dieses Aufzugs, wenn man Gerald in das Gesicht schaute. Nicht schön, etwas zu frisch von Farben und mit Sommersprossen übersät. Doch die Stirne stolz, frei und edel, von schlichtem, rotblondem Haar umrahmt, und darunter ein paar leuchtende Augen. Diese Augen beherrschten das Gesicht, beherrschten das ganze Äußere Geralds. Der Blick lenkte sich unwillkürlich immer wieder auf die Augen zurück und ihre grünen Gründe.

»Du verzeihst«, fuhr Gerald fort und deutete auf sein Kostüm. »Am liebsten säß' ich nackt bei der Arbeit. Mir ist immer heiß. Aber ich respektiere das neunzehnte Jahrhundert und die Ehre von Klempin. Was führt dich her? Nur der Wunsch eines guten Tags oder Wichtigeres?«

»Wichtigeres, Gerald – wenigstens für mich. Ich habe eine zwiefache Bitte an dich. Erstens: komm morgen mit nach Stenzig. Und zweitens: reiß dich Ende Monat ein paar Tage heraus und begleite mich nach Seesenheim!«

Mac Lewleß schüttelte den Kopf.

»Erstens: ich kann nicht mehr jagen, mein Junge. Es geht nicht. Es widert mich an. Ich erzählte dir gelegentlich schon, warum. Es mag albern klingen und hyperempfindsam – es ist mir egal. Ich jage nicht mehr... Und zweitens: es würde mir schon Spaß machen, mit dir nach Seesenheim zu reisen, aber« – er wandte den Kopf nach der rechten Tür – »ich kann die Mama nicht allein lassen, gerade jetzt nicht.«

»Hat sich ihr Zustand verschlimmert?«

»Leider, Emich. Sie schläft überhaupt nicht mehr, und gestern kam so etwas wie ein – wie ein Anfall von Tobsucht über sie. Ach, Emich, ich glaube, ich leide mehr als sie selbst leidet!«

Er starrte finster vor sich hin. Die Augenbrauen schoben sich dicht aneinander; die Lippen bebten. Ein furchtbarer Seelenschmerz spiegelte sich auf seinem Gesicht wider; es war, als verzerrten sich seine Züge plötzlich.

Emichs Hand glitt in zärtlichem Tasten über die seine.

»Armer Freund – armer, lieber Gerald«, sagte er leise. Einen Trost gab es ja nicht...

Geralds Brust hob sich zu einem tiefen Atemzuge. Es quoll heiß auf in seinen Augen und legte sich wie ein Schleier über die grüne Tiefe. Und dabei wurde er ruhiger.

»Es nützt nichts, sich im Schmerz zu verzehren oder in Wut die Hände zu ballen. Ach, ich könnte es! Ich könnte oft rasen über die nutzlose Grausamkeit des Schicksals! Sich den großen Gesetzen zu fügen, heißt Sittlichkeit. Sich dem Notwendigen unterzuordnen, bringt innere Versöhnung. Aber wo spür' ich hier etwas von Gesetz und Notwendigkeit, vom Walten des ewig Rechten? – Emich, seh' ich die Ärmste da drinnen, so leidet meine Philosophie kläglichen Schiffbruch!«

So bittere Worte hatte Schöningh aus dem Munde des Freundes noch nie vernommen. Er wagte es gar nicht, zu antworten. Was konnte er Gerald sagen!? Ein paar schöne Phrasen vom ›Mut des Duldens‹ und ›männlicher Fassung‹ wären ihm einfach lächerlich erschienen.

Nun klopfte es auch mit zager Hand an die Türe.

»Gerald,« rief eine weiche, fast immer leise tremolierende Frauenstimme, »ist der Graf Emich da? Das Mädchen sagt, Graf Emich sei gekommen. Ich will ihm die Hand geben.«

»Sofort, Mama,« antwortete Gerald, »wir kommen zu dir.« Er wechselte seine Toilette, das heißt, er zog einen sehr weiten, bis zu den Füßen reichenden Schlafrock aus indischer Rohseide an, in dem er wie ein Magier aussah. »Mama hat eine besondere Vorliebe für dich«, fuhr er dabei halblaut fort. »Sie fragt häufig nach dir. Es ist merkwürdig, wie die Gedanken in ihrem armen kleinen Kopf arbeiten. Oft ist sie tagelang vollkommen klar, logisch, geistreich wie früher – und dann kommt ganz plötzlich die schreckliche Verwirrung über sie.«

»Und ihr Zustand ist ein absolut hoffnungsloser?«

»Völlig, Emich. Aber wie gewöhnlich in solchen Fällen ahnt sie wenigstens nicht, wie schlimm es um sie steht.«

Sie traten in das Nebenzimmer. So spartanisch Gerald selbst zu leben pflegte und so gleichgültig ihm Komfort und Luxus waren – seine Mutter umgab er mit aller Sorgfalt, die sein liebendes Kinderherz für sie ausfindig machen konnte. In dem Gemach, in dem sie sich gewöhnlich aufhielt, bedeckten dicke Teppiche den Boden; blaue Seide war über die Wände gespannt, und eine Fülle von Polstern bildete überall lauschige Plauderwinkel. Dazu Blumen, wohin das Auge sah; im Winter und Sommer duftete um die unglückliche Frau der gleiche Frühling, den sie so liebte und der längst für sie untergegangen war.

Sie saß am Fenster, als die beiden eintraten und hatte ein Buch auf dem Schoße liegen. Es war kaum glaublich, daß dieses zarte und schmächtige Wesen die Mutter eines solchen Enakssohnes war. Das gebrechliche Körperchen umhüllte ein warmer Schlafrock von lichtblauem Sammet. Das zarte Gesichtchen war noch immer schön, sehr regelmäßig im Schnitt und fein im Profil; trotz der wächsernen Blässe merkte man der Kranken, namentlich wenn ein Lächeln ihre Züge erhellte, das schreckliche Leiden kaum an, denn auch das blaugraue Auge war klar und durchsichtig. Sie blieb sitzen, streckte aber Schöningh mit freudiger Bewegung die Hand entgegen.

»Guten Tag, lieber Graf«, sagte sie. »Warum haben Sie sich so lange nicht sehen lassen? Sie wissen ja, ein wie lieber Gast Sie uns sind. Und es ist seltsam: Sie wirken so beruhigend auf mich ein; ich spüre, wenn ich Sie hier weiß, das Herzklopfen kaum, das mich sonst immer belästigt ...«

Emich mußte sich zu ihr setzen, während Gerald, die Falten seiner Seidentoga um die Riesenglieder drapiert, am Fenster stehenblieb. Zehn Minuten lang plauderten Frau Mac Lewleß und Emich harmlos miteinander, von der Familie, vom Dienst, von Berlin, von zwanzigerlei Gleichgültigem. Dann begannen unerwartet ihre Gedanken in die Ferne zu irren. Sie fing an, wirr zu reden, und dabei verloren auch ihre Augen den klaren Ausdruck; allerhand fremdartige Lichter zuckten in dem sanften Blaugrau auf und die Pupille verengerte sich schnell.

Gerald gab Emich ein heimliches Zeichen, und dieser erhob sich verstehend.

»Im Kasino wartet man auf mich, gnädigste Frau«, sagte er. »Ich muß mich empfehlen. Aber wenn Sie gestatten, spreche ich bald einmal wieder vor ...«

Sie antwortete nicht. Sie saß jetzt ganz zusammengesunken auf ihrem Sessel, den Kopf gebeugt, die Lippen in leisem Flüstern bewegend ... Gerald führte den Freund bis zur Tür. »Good bye, my dear«, sprach er tonlos und drückte ihm die Hand.

Draußen fielen die gelben und roten Herbstblätter der Kastanien auf die Schultern Emichs. Auf der Straße spielte ein Schwarm Kinder; ein paar Kürassiere schritten salutierend vorüber. Und die blasse Novembersonne lag freundlich über den kleinen Häusern, wie milde Verklärung und letzter Liebesgruß, ehe der Winter kam.

Emich schüttelte das Frostgefühl ab, das ihn überflog. Wie ein leises Grauen vor Unfaßlichem und Rätselhaftem hatte es sich in seine Seele geschlichen. Gerald erschien ihm wie ein Heros, daß er das Leben an der Seite der Unglücklichen ertrug. Und nicht nur ertrug; wie wachte er über sie und mit welcher unermeßlichen Güte suchte er ihr das erlöschende Dasein zu verschönen! Das Leid seiner Mutter war sein eigenes, und doch brach er nicht zusammen unter der furchtbaren Wucht, sondern wurde nur noch größer und besser.


Es war ein wundervolles Jagdwetter am nächsten Tage. Als Emich zu früher Stunde geweckt wurde, hörte er lautes Hundegebell auf der Straße und sah, an das Fenster tretend, daß die Meute des Regiments ins Freie getrieben wurde. Da hätte er beinahe eine Dummheit gemacht! Er hatte in Anbetracht dessen, daß er doch absagen wollte, die Jagdeinladung gar nicht weiter durchgelesen, sich sein Gewehr instand setzen lassen und dem Burschen gesagt, er möchte den Krümperwagen für ihn bestellen. Und nun sah er, daß man in Stenzig eine Hetze abhalten wollte, keine Treibjagd, wie er geglaubt hatte. Major von Blohme ritt sogar schon im roten Jagdfrack vorüber; er und die Grafen Encken und Kiepert waren die einzigen Offiziere, die sich einen Jagdfrack gestatteten; aber Kieperts Rotrock war schon mehr patinagrün: er hatte allzuhäufig Bekanntschaft mit dem Schlammwasser in der Strebnitzer Furt gemacht. Infolgedessen roch Graf Kiepert auf den Parforcejagden auch gewöhnlich intensiv nach Benzin.

Das Rendezvous fand am sogenannten Jägerhäuschen statt. Das war ein niedliches Blockhaus auf einer Lichtung im Stenziger Walde, mit einer großen Halle, in der das Frühstück serviert wurde. Nach hinten heraus wohnte ein unverheirateter Förster, den romantisch gesinnte Damen um seine köstliche Waldeinsamkeit beneideten.

Um neun Uhr hatte sich das »rote Feld« zusammengefunden. Das war in diesem Falle kein ganz zutreffender Ausdruck, denn die Rotröcke waren zu zählen. Die meisten trugen ihre ältesten Koller und Überröcke oder Lederjoppen zu ihren weißen Uniformbeinkleidern und hohe Stiefel. Tadellos jagdmäßig equipiert war eigentlich nur Herr von Blohme. Auf seine Veranlassung hatte das Regiment auch vor drei Jahren die Meute angeschafft, für deren Unterhalt und Ausbildung er die größte Summe beisteuerte. In seinem flammenden Jagdrock sah er mehr denn je wie der »rote Helfershelfer« aus. Mit großen Schritten stolzierte er in der Halle umher und musterte die Neuankommenden. Seine scharf geschnittenen Lippen, über denen der rötliche Schnurrbart sich sträubte, zuckten unaufhörlich. Skandal, wie man aussah – die reine Maskerade, aber keine Jagdgesellschaft! Und er beschloß, die Begründung einer Kasse für einheitliche Jagdequipierung des Offizierskorps in Anregung zu bringen.

Jäger und Diener servierten an langen Tischen das Frühstück. Durch die Fenster quoll helles Sonnengold und streute seine Lichter zwischen das Tannengrün, das die Wände schmückte. Allerhand Weidmannssprüche standen oberhalb der Täfelung und gewichtige Sentenzen jenes frommen Bischofs von Lüttich, dem die Feier von Sankt Hubertus ihr Entstehen verdankt. Im großen Kamin flackerte und knisterte ein Feuer, denn trotz Sonne und Windstille war es kalt. Die Unterhaltung schwirrte auf und nieder, und draußen kläffte die Meute.

Nach neun Uhr erschienen noch ein paar Gutsbesitzer aus der Umgegend, auch Herr von Rietzow – der vierte Rotrock. Dann ratterte ein Wagen vor das Blockhaus: der Jagdherr, und neben ihm zu Pferde Komtesse Ruth. Sie war nicht die einzige Dame, die die Jagd mitreiten wollte. Auch Frau von Blohme war in elegantestem Dreß erschienen: eine zierliche kleine Französin mit Kohlenstrichen unter den schwarzen Augen und einer dicken Puderschicht auf dem hübschen Gesicht.

Man ließ Gulyas und Sherry stehen und erhob sich, Graf Wiegel zu begrüßen. Er war im Pelz; wahrscheinlich sollte ihm Herr von Rietzow oder der Major wieder die Leitung der Jagd abnehmen. Aber nein, er bat Schöningh darum, ihn zu vertreten. Das war verständlich, denn Emich war der nächste Verwandte seines Hauses. Herr von Blohme ärgerte sich dennoch darüber. »Scheint mir nicht recht passend zu sein«, flüsterte er dem Obersten zu, der in seinem alten Flauschrock wie ein Knecht Ruprecht aussah. »Finden der Herr Oberst nicht auch? Schöningh ist unser jüngster Leutnant ...« »Aber der Neffe Wiegels«, antwortete Hildringen, der mit dem Major stets auf dem Kriegsfuße stand; »vielleicht macht er seine Sache gerade so gut wie Sie, lieber Herr von Blohme ...«

Graf Kiepert war Master. Sassenhausen meinte, bei ihm brauche man nur dem Geruche nachzugehen. Wo er sich zeigte, duftete es nach Benzin, aber Kiepert selbst behauptete, das sei ein Irrtum – sein neuestes englisches Parfüm habe ein so starkes Aroma ... Nun ging es los. Emich war etwas in Aufregung. Er wußte noch nicht so recht Bescheid. Aber Ruth hielt sich an seiner Seite und gab ihm die Stichworte. Ein feister Damhirsch war ausgesetzt worden. Die Piköre bliesen, und da sie ungeübt waren, so gab es ein wahrhaft höllisches Konzert, das in den Ohren der Jäger jedoch lockend und lieblich klang. Und fort brauste die wilde Jagd.

Es war keine Parforcehetze wie im grünen England zur Zeit der Hunting-Season oder in Pommern und Mecklenburg oder im Grunewald bei Berlin: bei aller »Korrektheit« hatte Graf Wiegel das doch noch nicht fertig gebracht. Es ging ein bißchen wild und regellos zu, und das kupierte Terrain erschwerte die Jagd sehr. Aber den Jägern machte das wenig. Hier unten im märkischen Winkel war man nicht allzu verwöhnt; man hatte vier Beine unter sich und die Sonne schien: das war die Hauptsache.

Ja, die Sonne schien, und herrlich war es in den Tiefen des Waldes, in dem der flüchtende Hirsch Schutz gesucht hatte. Der Tau schillerte noch in den rostigen Gräsern, und das bunte Laub deckte über Weg und Steg seine farbigen Teppiche ... Allen voran war Frau von Blohme, eine kecke Reiterin, wagemutig und firm im Sattel und immer mit den schwarzen Augen kokette Blicke verschießend. Herr von Rietzow hielt sich, solange es anging, neben Ruth. Aber er ermüdete bald; als das Terrain sumpfig und unbequem wurde, stoppte er. Jetzt schoß Sassenhausen vor. Auf diesen Augenblick hatte er nur gewartet. Er war seit heute früh seinen blonden Idealen untreu geworden: es gab doch auch schwarze Zottelköpfchen, die entzückend waren!...

Emich hielt sich brav. Er war bald hier, bald da und zeigte sogar dem Major von Blohme untertänigst eine Schneise im Walde, durch die er in kürzester Linie nach der Strebnitzer Furt kommen konnte, von der aus das Geläut der Meute ertönte. Aber auch Blohme parierte plötzlich seinen Gaul und ließ ihn in Schritt fallen.

»Da unten ist's mir zu feucht«, meinte er. »Bleiben Sie ein bißchen an meiner Seite, Schöningh – ich möchte mal ein paar Worte mit Ihnen sprechen!«

Emich fuhr mit der Hand an die Mütze. Das klang ja wie ein dienstliches Kommando. Er drängte sein Pferd an den starkknochigen Rappen Blohmes heran.

»Herr Major befehlen?«

»Nee – nicht befehlen, Schöningh. Bloß ein paar Worte im Vertrauen. Sie haben sich da in letzter Zeit ziemlich eng an Mac Lewleß attachiert, kommen häufig mit ihm zusammen – nicht wahr?«

»Zu befehlen ja, Herr Major – Mac Lewleß ist mir ein lieber Freund.«

»Dagegen läßt sich nichts sagen. Trotzdem – einen Ratschlag, Schöningh. Ich möchte, daß Sie einmal ein besserer Soldat würden als Mac Lewleß es ist. Das Studieren und über den Büchern sitzen hat bei einem Gelehrten seine Berechtigung. Philosophie und Geschichte schüttelt man nicht aus den Ärmeln; da muß man sich sozusagen hineinknieen. Aber Sie sind zum Teufel kein Federfuchser, sondern Soldat. Und haben doch zunächst als Soldat noch eine ganze Menge zu lernen. Nicht wahr, Schöningh?«

»Das hab' ich gewiß, Herr Major. Aber verzeihen Herr Major: ich glaube, daß ich auch als Soldat bisher meine Schuldigkeit getan habe.«

Blohme brannte sich eine Zigarette an.

»So urteilt allerdings auch Ihr Rittmeister«, entgegnete er. »Aber seine Pflicht zu tun, genügt nicht immer. Nein, genügt nicht immer. Auch Mac Lewleß tut seine Pflicht und ist doch nur ein recht mittelmäßiger Soldat. Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Graf Schöningh. Entweder man ist ein ganzer Soldat, ist's mit Leib und Seele, oder man läßt's überhaupt sein. Zwitterwesen sind nirgends gut. Vielleicht hätte man besser getan, Sie studieren zu lassen; ich meine, wenn Ihre Neigungen in der Tat mehr nach dem Wissenschaftlichen zu gravitieren. Na aber, das ist doch nun einmal nicht geschehen, und daher scheint es mir zweckmäßiger, Sie lassen die Bücher beiseite, die nicht zur Sache gehören. Wollen Sie sich späterhin einmal zur Akademie vorbereiten, dann ist es schon anders. Vorläufig müssen Sie erst den praktischen Frontdienst aus dem ff kennenlernen... Und dann noch eins, Schöningh. Ziehen Sie sich zugunsten eines Einzelnen nicht allzusehr von den übrigen Kameraden zurück! Kommen Sie des Abends öfters in das Kasino! Seien Sie fröhlich mit den andern – Herrgott, Sie sind ja doch noch ein blutjunger Mensch! Hauen Sie einmal über die Deichsel – was schadet's?!«...«

Und dann warf er seine Zigarette in die Luft und fügte noch hinzu:

»Verstanden, Schöningh?« Emich blieb nichts weiter übrig, als abermals an die Mütze zu greifen und zu erwidern:

»Zu befehlen, Herr Major!«.

Blohme nickte und setzte seinen Rappen von neuem in Galopp. Bald war man wieder hinter der Meute, die einen unglücklichen Hasen aufgestöbert und sich verbellt hatte. Master und Piköre jagten um sie herum, fluchten, schimpften und wetterten und suchten sie wieder auf die rechte Fährte zu lenken. Es war ein gräulicher Spektakel, in den Emich hineingeriet. Und er fluchte, schimpfte und wetterte mit, und dabei zuckte unaufhörlich die Frage durch sein Hirn: wenn der Major nun recht hatte? wenn er wirklich nicht zum Soldaten taugte?.

Im Gestrüpp unweit der Strebnitzer Furt stürzte der Master. Längsiedel, Sassenhausen und Encken gerieten vor der sich im Dickicht des Unterholzes wälzenden Masse in das Gedränge. Ihre Gäule scheuten und wollten ausbrechen: auch Sassenhausen und Längsiedel kamen zu Fall; die herrenlosen Pferde jagten in den Wald hinein. Plötzlich erscholl ganz in der Nähe die Wasserfanfare. Der Hirsch hatte sich in Todesängsten in den kleinen See am Strebnitzer Forsthaus gestürzt. Frau von Blohme karrierte wie eine Wahnsinnige heran – ein gellender Aufschrei – nun lag auch sie am Boden und ihr Schimmel streckte alle vier Beine in die Luft. Aber dem Aufschrei folgte ein helles und lustiges Lachen; die Majorin stand sofort wieder auf den Füßen – in eisengrauen Trikots und lackledernen Stulpenstiefeln: ihr ganzer Jagdrock war ihr im Sturze von den Hüften gerissen worden. Zu gleicher Zeit klang das Halali durch den Wald. Emich hatte den Hirsch gedeckt – der Oberst und zehn andere waren hinter ihm – wie toll stürmte die Meute herbei, und schließlich gab der Oberst, vom Gaule springend und in der Pose des Fechters von Ravenna, den Fang.

Die Jagd, die sich bis gegen zwei Uhr hingezogen hatte, war beendet. Und es war gut, daß sie nicht länger währte, denn der Himmel hatte sich inzwischen bedeckt und es begann leise zu nieseln. Trotzdem wurde vorschriftsmäßig Küree geblasen und der Bruch verteilt. Dann ging es langsam zurück nach Stenzig.

Sassenhausen und Frau von Blohme mußten auf einen Leiterwagen klettern; ihre Pferde waren noch nicht eingefangen worden. Aber die Majorin amüsierte sich sichtlich darüber; sie hatte sich mit ihrem zerrissenen Rocke drapiert, so gut es anging, und kokettierte mit Saß. Blohm wütete heimlich; seiner steifen Grandezza widerstrebten die burschikosen Allüren gründlich, die seine Gattin zuweilen zur Schau trug. Allerdings zuweilen nur – nämlich stets, wenn sie sich durch Morphium angeregt hatte. Dann ließ sie die Würde der grande dame und Herzogin von Candagne fallen und ähnelte mehr einer Grisette aus dem Quartier latin.

Das Geriesel wurde auf dem Rückwege zu strömender Flut. Man schonte die müde gehetzten Pferde nicht, um baldigst unter Dach und Fach zu kommen. Herr von Rietzow hielt sich wieder dicht neben Ruth und hatte ihr seinen Gummimantel um die Schultern gehängt. Am Parkeingang gab Emich seinem Goldfuchs die Sporen: er wollte der erste auf der Rampe sein.

Unter dem Portal stand schon die Tante und hielt einen Regenschirm schräg vor sich, um dem sprühenden Guß zu wehren.

»n' Tag, Dickerchen!« rief sie Emich entgegen. »Gut, daß du da bist, Junge! Es ist Besuch für dich eingetroffen. Rat einmal, wer!«

»Ja, wer?! Tantchen, auf Rätsel und Rösselsprünge versteh' ich mich schlecht!« Er sprang vom Pferde und warf die Zügel dem Reitknecht zu. »Gut abreiben, Fritz, und erst in einer halben Stunde füttern! ... Tantchen, wer? Spann' mich nicht auf die Folter!«

Gräfin Irmela schob ihren Regenschirm zur Seite und klappte ihn zu. Und da tauchte hinter der Seidenhülle ein braunes Gesicht auf, ein lachendes, wohlbekanntes Gesicht mit dunkeln, lebhaften Augen und zierlich gespitztem Schnurrbärtchen auf der Oberlippe.

»Beresco!« schrie Emich. Und dann fielen sich die Freunde in die Arme.


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