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Die Zeit verrann. Lenzstürme schmolzen den Schnee und erweckten die schlafende Welt zu neuem Blühen. Der Sommer zog über das Land und starb in der Umarmung des Herbstes, und abermals kam der Winter. Ein Jahr reihte sich an das andere – und während die kleine Garnison, wie durch Zauberspruch gebannt, unveränderlich in ihrer gleichförmigen Langeweile, allen Wandel der Tage über sich hinwegrollen ließ, vollzogen sich draußen in der großen Welt tiefgreifende Umgestaltungen.
Der Halbmond lag zu den Füßen des Zarenreichs. Dem ermordeten Sultan war eine schwächliche Puppe gefolgt, die man ohne weiteres beiseiteschob, den Thron der Osmanen einem kräftigeren Herrscher freigebend. Eine internationale Konferenz der europäischen Staatsmänner regelte die Verhältnisse im Balkan. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung konnte auf Illyriens blutgetränktem Boden die Freiheit endlich ihr wehendes Banner entfalten. Und als Apostel der Freiheit zog, von der Bevölkerung mit Palmenreisern und brausendem Jubel empfangen, ein junger deutscher Prinz als Fürst von Illyrien in der Landeshauptstadt Garica ein.
Von diesem Tage ab hielt sich Emich die Kölnische Zeitung, die einen besonderen Korrespondenten in Garica hatte und fast allwöchentlich ziemlich ausführliche Stimmungsberichte aus dem neuen Fürstentum brachte. Unter dem mächtigen Schutze Rußlands schienen sich die Zustände in dem kleinen Staate allgemach ordnungsgemäß entwickeln zu wollen. Das Suzeränitätsrecht des Sultans beschränkte sich nur noch auf Äußerlichkeiten; die Proklamierung seiner Konstitution sicherte Illyrien seine Unabhängigkeit, aber freilich hinter der Konstitution stand der Russe, in einer Hand die Knute, in der andern halb offenen den lockenden Rubel. Trotzdem schien das Volk zufrieden zu sein; der Glücksrausch währte fort. Unzweifelhaft hatte Fürst Leopold einen vortrefflichen Berater in dem Marquis Veresco, der zu einer Art illyrischem Nationalhelden geworden zu sein schien. Veresco war ein Mann der Kompromisse, ein vorsichtiger Diplomat, der sich vor dem Zaren tief zu neigen verstand und im geheimen fort und fort und rastlos daran arbeitete, seinem Vaterlande die völlige Autonomie zu sichern. Es war klug gehandelt von Leopold, daß er die Pläne des Alten nicht aus eigener Machtvollkommenheit durchkreuzte.
»Du glaubst nicht,« schrieb Maffeo Veresco eines Tages an Emich, »wie man hier in Garica und auch auf dem platten Lande Deinen Vetter vergöttert. Ich kann Dir gegenüber ja offen sein: vielleicht entsinnst Du Dich, daß ich Dir eines Tages einmal sagte, es wäre das Beste für uns, man setzte uns einen kleinen europäischen Fürsten auf den Thron. Denn wäre einer aus dem einheimischen Hochadel zur Regierung gekommen, so würden Nepotismus und Eifersüchtelei uns binnen kurzem von neuem der Revolution in die Arme gestürzt haben. Und Fürst Leopold macht sich gut. Das ›macht‹ sich ist wörtlich zu nehmen. Er ist kein Genie (trotzdem er Dein Vetter ist – tu ne dois pas m'en vouloir, aber Du verstehst schon, wie ich es meine), doch er weiß sich famos in Positur zu setzen. Er ist mit allem einverstanden, was ihm die Minister vorschlagen, tut aber dabei so, als wäre er absoluter Herrscher. Und dann seine rosige Jugend! Die entzückt unser leicht empfängliches Volk am meisten. Zudem ist er auch noch blond und sieht immer so appetitlich und frisch gewaschen aus, daß es vom Meer bis zum Rhodogas-Gebirge kein Frauenzimmer bei uns gibt, das sich nicht bereits in ihn verliebt hätte. Hättest dabei sein sollen, als er neulich auf dem muridischen Felde die erste Parade über die neugeschaffenen Regimenter abhielt! Er selbst in der schimmernden Generalsuniform seiner Heiduckengarde – schimmern muß bei uns alles, sonst sind wir nicht glücklich – strahlend wie der junge Siegfried in Euerm Berliner Opernhause, den blanken Säbel in der Faust, auf seinem prächtigen Schimmel die Front herabgaloppierend. Die Soldaten jauchzten einfach – und ich habe mitgejauchzt, nicht nur, weil dieser junge Fürst einen mir ach, wie lieben Familiennamen trägt, sondern weil auch ich begeistert war von seiner frischen Kraft und sieghaften Schönheit. Kurzum: Fürst Leopold scheint gerade der zu sein, den wir brauchen. Scheint, sage ich, denn sein Regiment hat ja eben erst angefangen. Und eben, weil ich glaube, daß wir mit einem selbständigeren, mehr nach Großem und Hohem strebenden Herrscher bei der Eigentümlichkeit unserer Verhältnisse vielleicht durchaus nicht besser fortgekommen wären, deshalb unterdrücke ich auch manche meiner Herzenswünsche – Wünsche, die selbst mein Vater nicht kennt... Und nun noch eins, liebster Emich: der Fürst sagte mir gelegentlich, daß Du einmal einen Manöverurlaub benutzen wolltest, uns hier zu besuchen, Dio, würde das eine Freude sein! Und auf diese Freude hin mache ich Dir das anliegende Geschenk: eine vor kurzem erschienene französisch-illyrische Grammatik nach Art der Toussaint-Langenscheidtschen Unterrichtsbriefe; studiere ein bißchen darin herum, damit Du bei Deinem Besuche nicht ganz allein auf die deutschen Freunde und die international Abgeschliffenen angewiesen bist...«
So schrieb Veresco. Er schrieb anfänglich öfter; dann erlahmte die Korrespondenz, wie auch der Wunsch Emichs, IIlyrien kennenzulernen, sich allgemach verlor. Er hatte in der Heimat genügend zu tun.
Er war nun auch gerichtlich majorenn erklärt worden. Seiner geistigen und körperlichen Reife nach war er allerdings längst mündig. Ein Jüngling noch, war er doch schon ein ganzer Mann. Ein Mann in dem geraden verständigen Ernst seiner Lebensanschauung und der Strenge seiner Gesinnung. Er hatte anfänglich geglaubt, sich nach seiner Standeserhöhung auf größerem Fuße installieren zu müssen, aber er gab diese Absicht rasch auf. Er blieb in seiner Wohnung oberhalb der Mohrenapotheke und änderte auch in seiner Lebensführung nichts. Den einzigen Luxus, den er sich gönnte, war eine Vergrößerung seiner Bibliothek. Noch immer war Mac Lewleß sein geistiger Berater. An die Stelle der schönen Literatur waren Geschichte und Kulturgeschichte getreten. Auch eine Anzahl landwirtschaftlicher Werke ließ er sich kommen, um dem alten Settegast gegenüber nicht gar zu sehr als Laie in agrarischen Dingen zu erscheinen.
Die Aufwirtschaftung von Seesenheim erforderte mancherlei Opfer. Das war auch der Grund, der Emich nötigte, sich nach anderer Richtung einzuschränken, und der Grund dafür, daß er den versprochenen Besuch in Illyrien von Jahr zu Jahr weiter hinausschob. Denn jeden Urlaub benützte er, sich persönlich von dem Stand und dem Fortschritt der Dinge in Seesenheim zu überzeugen. Das Herrenhaus war wieder auf wohnlichen Fuß eingerichtet worden; hier pflegte er auch den längeren Urlaub zu verleben, der den Offizieren gewöhnlich nach Ablauf der Herbstmanöver bewilligt wurde. Das war für ihn immer die köstlichste Zeit im Jahre. Er war kein Feind der Einsamkeit; sie hatte für ihn die heiteren Reize eines ruhigen Sichselbstlebens, unbeeinflußt vom Dienst des Tages und dem oft genug nicht minder harten Dienst der Geselligkeit. Und nur hier empfand er das Glück, im besten Sinne Herr sein zu können. Hier war er es ganz. Seine Scholle war sein Reich. Er gab und nahm und hatte nur sich allein Rechenschaft darüber zu erstatten, ob das, was er gab und was er nahm, das rechte war. Aber er blieb sich diese Rechenschaft nicht schuldig. Er war auch streng gegen sich selbst. Das »Besser Herr als Knecht« stand noch immer in Goldbuchstaben über der Denktafel des alten Gotthold Schöningh in der Kirche zu Seesenheim – und in seiner idealsten Bedeutung hatte dies Wort in der Seele Emichs Leben empfangen. Er war nicht frei von mancherlei kleinen Vorurteilen, doch sie beherrschten ihn nicht. Er war auch kein Himmelsstürmer, sondern nur ein redlich empfindender Mann; selber ein rechtschaffener Arbeiter und ein gütiger Arbeitgeber den andern. Er war warmherzig und rasch von Entschluß, ohne sich jedoch von seinem Temperament fortreißen zu lassen; war kein Genie, aber fleißig und voll guter Gaben, wenn es ihm auch an Weltklugheit mangelte. Und was ihn am besten als freisässigen Edelmann reinen Schlages charakterisierte: er war keine Höflingsnatur, die sich im Schranzendienst wohlfühlt, sondern durch seine Adern quoll und seine Seele füllte und alle seine Fibern schwellte ein starkes Unabhängigkeitsgefühl.
Und dieser Unabhängigkeitstrieb wuchs, wenn Emich in der Herbstfrühe oder im Dämmerschatten des Abends über sein Land ritt und Feld und Wald und Wiese zu seinen Füßen sah. Dann jauchzte sein Herz: das ist mein! – aber es war nicht nur die Freude am Besitz, an dem Erbe, das er von neuem erwarb, sondern auch das Frohempfinden, Herr zu sein, das ihn erfüllte. Mit diesen autokratischen Regungen verband sich jedoch bei ihm immer noch ein jenen strikte widerstrebendes Gefühl: das eines unbewußten Sozialismus. Gleich sich wollte er auch die Seinen glücklich wissen in dem Bewußtsein, innerhalb gewisser Grenzen Herr sein zu können. So gab er den Leuten keine Deputate außer ihrem Lohn, sondern freies Land zu eigener Bewirtschaftung, Feld und Garten und begann schließlich auch mit dem Bau neuer Einfamilienhäuser.
Fürst Ferdinand hatte ihn nie wieder an seinen Wunsch erinnert, ihn mit dem Prinzen Heinrich gemeinsam bei dem gleichen Truppenteil zu wissen. Vielleicht lag dies nur daran, daß Heinrich sich auch ohne die gewünschte Oberaufsicht beim Regiment gut einführte. Er war als Erbprinz von Schöningh-Stubbach direkt als Leutnant eingestellt worden und machte sein Examen mit den Epauletten auf der Schulter nach. Einmal hatte Emich ihn bei Gelegenheit eines Abstechers nach Berlin besucht, und die beiden hatten gemeinsam mit ihrem Vetter Waldegg, der noch immer der alte Gigerl war, einen lustigen Abend verlebt. Dabei wurde dann natürlich auch viel von Leopold gesprochen. Prinz Waldegg erzählte, daß er eine französische Chansonettensängerin kennengelernt habe, die in Garica engagiert gewesen sei; sie habe ihm einen Brillantschmuck gezeigt, den Leopold ihr geschenkt hätte. »Wenn es wahr ist«, setzte Emich hinzu. Aber Waldegg wollte auch eine Photographie Leopolds bei ihr gesehen haben, mit einer eigenhändigen Widmung...
Mac Lewleß verkehrte wieder in der Gesellschaft. Sein »Cromwell« war beendet und sollte bei Mittler in Berlin im Druck erscheinen. »Nun kann ich nicht mehr«, erklärte er eines Tages Emich; »ich muß Zerstreuung haben...« Und er machte überall seine Besuche.
Emich ahnte wohl, was den Freund aus dem Hause trieb. Es war die unglückliche Mutter und ihr fortschreitendes Leiden... Geralds Nerven waren auf das höchste gereizt. Emich sprach nochmals ernsthaft mit ihm, riet, die Mutter unter ärztliche Pflege zu stellen und sich selber einen längeren Erholungsurlaub zu gönnen. Aber sein Rat und seine Mahnung blieben fruchtlos. »All das ist Unsinn«, entgegnete Gerald; »die Mutter muß bei mir bleiben. Es hilft nichts. Ich selbst bedarf nur ein klein wenig der Aufkratzung. Ich sehe ein, daß ich mich zu sehr von der Welt zurückgezogen habe. Gerade das Lockere und Oberflächliche unserer Geselligkeit wird mir gut tun und mich ablenken helfen...«
Er nahm auch den Verkehr mit Stenzig wieder auf. Graf Wiegel war anfänglich ein wenig erstaunt und verschnupft darüber, aber er fügte sich, als er sah, daß Ruth gegen die erneuten Besuche Geralds nichts einzuwenden hatte. Nur die Tante schüttelte zuweilen den Kopf: sie verstand ihre Ruth nicht mehr. –
An einem warmen Augusttage war ein Diner in Stenzig gewesen. Ruth feierte ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag. Sie hatte nicht gewünscht, daß ein »besonderes Wesen« davon gemacht würde. Trotzdem wurde ein kleiner Kreis geladen – »nur zum Anstoßen«, wie Wiegel meinte: Oberst von Hildringen mit seinem dreiblättrigen Kleeblatt, Blohme als Verwandter des Hauses (»Gott sei Dank recht weitläufiger«, pflegte Frau Irmela stets zu betonen), Mac Lewleß und Emich, der Kottauer Rietzow, der Landrat und noch einige jüngere Herren.
Während man unter den Linden im Park den Kaffee trank, stellten die Hildringenschen Mädchen die Reifen zum Krocketspiel auf. Gerald und Emich halfen dabei und machten sich liebenswürdig. Schon seit einiger Zeit war es Emich aufgefallen, daß Mac Lewleß sich in seinem Wesen auffällig verändert hatte. Er trug häufig eine Lustigkeit zur Schau, die man bei ihm nicht gewohnt war und die öfters, zumal wenn er stark und rasch getrunken hatte, unangenehm laut wurde. Daß sie nicht vom Herzen kam, spürte Emich wohl; sie ängstigte ihn fast, denn sie erschien ihm wie ein krampfhafter Versuch, Kummer und Leid im hellen Lachen zu ersticken.
Auch beim heutigen Diner hatte Gerald entgegen seiner früheren Mäßigkeit ziemlich stark pokuliert und schäkerte nun beim Aufstellen der Reifen mit den jungen Mädchen, die über die Lebhaftigkeit des sonst so schweigsamen »Schotten« (Mac Lewleß hieß beim Regiment nur »der Schotte«) ganz glücklich waren.
Eine Kugel war weithin in die Bosketts gerollt. Emich suchte sie und Ruth war ihm gefolgt – mit Absicht. Sie wollte Emich sprechen.
»Sag', Vetter, was ist das heute mit Mac Lewleß? Ich kenn' ihn nicht wieder.«
»Ich längst nicht mehr, Ruth. Ich weiß auch nicht, ob es gut war, daß er Stenzig wieder aufgesucht hat.«
»Weshalb? – Ah – du meinst, wegen der Geschichte von damals?... Lieber Junge, man kann wohl einmal eine Dummheit machen, pflegt sich ihrer aber nicht gern zu erinnern. Es gibt, denk' ich, auch in deinem Leben manche kleine Torheit, die du glücklich vergessen hast.«
»Ich bin ein anderer als Gerald. Der vergißt nicht so leicht. Namentlich, wenn ihm das Vergessen schwer gemacht wird.«
Ruth schaute Emich von der Seite an.
»Bitte – was soll das heißen? Es liegt irgend etwas Verstecktes in dieser Redewendung.«
»Ich brauche dir gegenüber nicht zu heucheln, Ruth. Gerald drückt schweres Leid, und du verdoppelst es.«
»Ich –?!«
»Nicht so laut!... Ja, du! Ich kann dir einen leisen Vorwurf nicht ersparen. Vielleicht weißt du selbst nicht, was du tust. Gerald hat deine Abweisung noch lange nicht verwunden; vergessen wird er sie, wie ich ihn kenne, vermutlich nie. Dadurch aber, daß du ihn vor anderen bevorzugst und ihm eine gewisse Ausnahmestellung einräumst, nährst du Hoffnungen in ihm, deren Nichterfüllung ihn schließlich gänzlich zu Boden werfen wird...«
Emich hatte leise und sehr rasch gesprochen. Er war sichtlich in leichter Erregung. Ruth war ernst geworden, biß sich auf die Lippen, zuckte dann mit den Achseln und entgegnete:
»Ich glaube, mein lieber Junge, aus dir spricht ein klein wenig die Eifersucht. Und daß dies lächerlich ist, wirst du mir ohne weiteres zugestehen. Im übrigen: Monita von deiner Seite verbitte ich mir. Deine geschlossene Krone und dein ehrwürdiges Alter in Ehren – aber ich bin ich!«
Sie nahm die Kugel und warf sie den Spielern zu. Das Krocket wollte kein Ende nehmen. Mé, Ma und Mi klagten unter Lachen und Scherzen, wie zerstreut die anderen seien.
»Mylord, Sie nehmen schon wieder einen falschen Ball!« rief Mé Gerald zu. »Den blauweißen, wenn ich bitten darf!«
»Richtig – den blauweißen! Verzeihung, gnäd'ges Fräulein! Aber Sie tragen an meiner beginnenden Farbenblindheit Schuld! Wer soll nicht alles rosig sehen, wenn Sie neben einem stehen!«
»O, edler Häuptling,« kicherte Mé »Sie werden galant!«
Ruth schürzte die Lippe. Mac Lewleß galant – das kam ihr zu albern vor. Das stand dem schottischen Recken nicht. Sie schlug mit ihrem Hammer kleine Kieselsteine aus dem Wege und schaute dabei träumend ins Grüne. »Ich bin ich« hatte sie vorhin zu Emich gesagt – aber sie war schon lange nicht mehr sie selbst. Ein fremdes Gefühl hatte von ihrem Herzen Besitz genommen. Sie schlief schlecht und suchte die Einsamkeit auf. Sie träumte viel und war ewig zerstreut.
Die Mahnung Emichs ärgerte sie. Aber Ruth sollte sie in ähnlicher Form heute noch einmal hören. Sie tat ermüdet und bat Fräulein von Oest, die Tochter des Landrats, für sie einzutreten. Dann schlenderte sie langsam die Allee hinab und schlug den Fußweg nach dem Weiher ein, der mit Wasserrosen übersät war. Die Rohrsperlinge zirpten im Schilf, und ein Mückenschwarm wogte über dem bleifarbenen trägen Wasser auf und nieder.
Herr von Rietzow stand am Ufer und fütterte die Schwäne. Als Ruth ihn sah, schien ihr Fuß stocken zu wollen. Es zuckte rasch und unmutig über ihr Gesicht. Einen Moment überlegte sie: umkehren oder Folge leisten? Dann schritt sie weiter, aber langsam und mit schleppendem Gange.
Rietzow war interessiert mit den beiden Schwänen beschäftigt. Die lange Gestalt im schwarzen Überrock hob sich scharf von dem Erlengestrüpp und dem niederhängenden Gezweige der Silberweide ab. Er hatte den Kopf ein wenig geneigt, so daß die untere Partie des Gesichts im Schatten lag. Aber da er barhäuptig, flutete die Sonne hell um seine Stirn, die breit, eckig und hoch war.
Nun schaute er auf und lächelte.
»Ihre gehorsame Dienerin, Herr von Rietzow«, sagte Ruth im Nähertreten. »Sie sehen, daß ich folgsam bin. Was befehlen Euer Gnaden?«
»Befehlen? – O Komtesse, ich bat nur. Was wir uns zuweilen zu erzählen haben, braucht ja doch nicht alle Welt zu hören!« Er trat an ihre Seite. »Also zunächst etwas Erfreuliches. Ich habe Ihre kleine Novelle glücklich an den Mann gebracht. Sie wird im nächsten Quartal in der ›Katholischen Welt‹ veröffentlicht werden.«
Ruths Augen glänzten.
»Ah – das ist prächtig! Ich danke Ihnen herzlich, Herr von Rietzow. Und welches Pseudonym haben Sie für mich gewählt?«
»Noch gar keins. Absichtlich nicht. Ich hoffe noch immer, Sie werden mir die Erlaubnis geben, die Erzählung unter Ihrem Namen veröffentlichen zu dürfen. Sie kommen in gute Gesellschaft.«
Ruth schüttelte den Kopf. »Trotzdem, Herr von Rietzow – es geht nicht. Die Tendenz des Blattes und – nun ja, auch die meiner Novelle macht es unmöglich. Ganz unmöglich.«
»Liebe Komtesse, man muß den Mut der Wahrheit haben. Alle Schleier sind von dem Bilde zu Sais gefallen; die Erkenntnis schmettert uns nicht mehr nieder, sondern richtet uns auf. › Satya nasti pradh‹ sagt brahmanische Weisheit – nichts Höheres als das Wahre... Sie haben der Wahrheit die Ehre gegeben und sie ausgesprochen. Ihre Novelle ist ein Bekenntnis. Warum verstecken Sie sich noch länger?...«
Mit gesenktem Kopf schritt Ruth neben ihm her, die Stirne kraus, die Lippen fest geschlossen... Es war Herrn von Rietzow nicht schwer gefallen, diese eitle und törichte Seele für seine Kirche zu gewinnen. Ein Menschenkenner wie er täuschte sich selten. Die innere Unzufriedenheit und das geistige Unbefriedigtsein Ruths waren der Acker, auf dem er Aussaat hielt. Und daß er vorsichtig zu Werke ging, den Reiz des Geheimnisvollen ausnützend und nachgebend den kleinen Eitelkeiten seines Opfers, nie drängend, aber in rastloser Maulwurfsarbeit ihren Lebensweg unterhöhlend – das lohnte sich für ihn. Auch jetzt zog er den Pfeil, den er schon auf die Sehne gespannt hatte, wieder zurück.
»Sie geben mir keine Antwort, Komtesse«, sagte er. »Ich will auch keine. Ich zwinge Sie nicht; ich bin kein Seelenfänger. Überlegen Sie sich in Ruhe, wann Sie es für an der Zeit halten, sich offen zu erklären. Daß Sie nichts und niemand zu fürchten haben, wissen Sie, auch nicht Ihren Vater... Doch da wir grade einmal allein miteinander sind, noch eine Warnung, Ruth. Hüten Sie sich vor Mac Lewleß!«
Ruth warf den Kopf zurück, und ihr blaß gewordenes Gesicht rötete sich.
»Wollen vielleicht auch Sie mir, wie mein Vetter Schöningh, den Vorwurf machen, ich sei zu liebenswürdig gegen Mac Lewleß? – Wider den guten Takt, Herr von Rietzow, glaube ich mich noch nie versündigt zu haben!«
»Davon ist keine Rede, Komtesse. Mißverstehen Sie mich bitte nicht absichtlich. Ich weiß, daß Mac Lewleß schon einmal abgewiesen wurde. Aber er hofft wieder – und das darf nicht sein. In Ihrem Interesse nicht...«
Ruth war unter der alten Kastanie stehengeblieben, deren Früchte bereits abfielen und den Weg zu übersäen begannen. Sie lehnte sich, wie erschöpft, mit dem Rücken gegen den Stamm. Eine kleine finstere Falte zeigte sich oberhalb der Nasenwurzel und schien die Augenbrauen vereinen zu wollen.
»Ich will ebensowenig wie Sie Mißverständnisse zwischen uns«, sagte sie. »Wenn ich mich gegen Mac Lewleß nicht schroff abweisend verhalte, so spricht außer dem natürlichen Empfinden, die Gäste unseres Hauses mit Freundlichkeit zu behandeln, auch noch der Umstand mit, daß die Unterhaltung mit ihm mir Genuß und Anregung zu geben pflegt. Ich bin keine glücklich veranlagte Natur. Ich kann mich in der Schablone der Alltäglichkeit nun einmal nicht wohlfühlen. Vater und Mutter sind lieb und gütig zu mir und geben mir in allem nach. Ich müßte ihnen dankbar dafür sein – und ich bin es doch nicht. Hätte ich dann und wann einmal zu kämpfen, mich aufzulehnen gehabt gegen irgendeine zwingende Autorität – ich hätte meine Natur wiedergefunden. Aber das Hindämmern vom Morgen zum Abend, im ewigen Gleichschritt, in ewiger Monotonie, ist gräßlich für mich. Ich habe lange geschwankt, ob ich nicht endlich den Wunsch der Kronprinzessin erfüllen sollte, Hofdame bei ihr zu werden. Doch ich fürchtete die Sklaverei – und ich sehne mich nach einer kraftvollen Betätigung im Herrschen!«
»Im Herrschen«, wiederholte Rietzow kopfnickend. »Ruth – Sie können nur Herrin sein – nur herrschen, nicht dienen...« Sein sonst ziemlich ausdrucksloses graublaues Auge füllte sich plötzlich mit Licht und nahm eine stählerne Färbung an. »Wer herrscht denn über die Geister, wenn nicht wir?! Wir allein!?«
Auch die Komtesse neigte zustimmend den Kopf.
»Ich habe es nie bezweifelt, und deshalb nahm ich den Kampf auf, den Sie in meine Seele trugen. Es ist mir nicht leicht geworden, die Meinen zu täuschen. Ich habe lange Nächte geopfert, um die Werke durchzustudieren, die Sie mir schickten – um mir Klarheit zu schaffen. Aber es war ein Opfer, das mich mit einer gewissen wilden Freude erfüllte; es stählte meine Kraft, denn es war ein Ringen um den höchsten Preis, um den Einsatz meines Ichs... Daß mir in dieser Zeit das schale Geschwätz der nachbarlichen Geselligkeit um so widriger war, ist wohl begreiflich. Und deshalb begrüßte ich die Besuche Mac Lewleß' stets mit gleicher Freude wie die Ihren. Man kann mit ihm sprechen, ohne ewig und ewig an der Oberfläche bleiben zu müssen... Sie sagen, er ›hoffe‹ wieder, Herr von Rietzow. Woher wissen Sie das? Können Sie in sein Herz schauen?«
»Ich mutmaße nur. Und ich möchte auch nur Ihnen Aufregungen und Peinlichkeiten ersparen. Mac Lewleß geht mich nichts an; ich gestehe sogar, daß er mir unsympathisch ist.«
»Weshalb unsympathisch? Emich Schöningh schwärmt für ihn. Und ich verstehe das. Wär' ich ein Mann, so glaub' ich, würde ich mir auch Mac Lewleß als Freund zu gewinnen suchen. Seine Persönlichkeit übt einen starken Zauber aus. Ich sage das selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen wieder einmal falsch verstanden zu werden.«
Es blitzte rasch, wie ein zuckendes und gleich wieder verschwindendes Irrlicht, im Auge des Herrn von Rietzow auf. Lächelnd verneigte er sich und hob dabei abwehrend die rechte Hand.
»Ich verstehe Sie immer recht, liebste Komtesse«, entgegnete er. »Begreife übrigens auch, daß ein Mann wie der Schotte auf leicht zur Schwärmerei neigende Gemüter Eindruck machen muß. Er ist immerhin keine Erscheinung, wie man sie auf allen Lebensstraßen findet. Trotzdem – – ich habe nicht viel für ihn übrig. Vielleicht nur, weil mir eine Episode aus seinem Leben bekannt geworden ist, die er selbst mit Ängstlichkeit geheim zu halten alle Ursache hat.«
»O, Herr von Rietzow – das klingt ja ganz mysteriös!«
Er zuckte mit den Schultern, warf einen raschen Blick ringsum und hob lauschend den Kopf, als wolle er sich vergewissern, daß er ungestört sei. Aber nur aus der Ferne klang das fröhliche Lachen der Krocketspieler herüber. In der Nähe war es still; von Zeit zu Zeit fiel eine Kastanie vom Baum und schlug hart auf den Boden auf.
»Sie wissen nicht, daß ich einen älteren Bruder besitze, Komtesse. Er gehört auch längst nicht mehr der Welt an; schon als Sechzehnjähriger nahm er die Weihen. Später ging er nach Rom; Seine Heiligkeit fanden Wohlgefallen an ihm und beriefen ihn an den päpstlichen Hof. Er legte seinen weltlichen Namen ab und nannte sich Massimo. Als Monsignore Massimo wurde er auch in die Familie Mac Lewleß eingeführt. Zu seinem besonderen Amte gehörte es, irrgeleitete Seelen auf die Bahn des Glaubens zurückzubringen. Das war bei den Mac Lewleß der Fall. Exzellenz Mac Lewleß war selbst Protestant, seine Gattin aber, einem alten westfälischen Adelsgeschlechte angehörig, erst nach ihrer Verheiratung ihrem Glauben abtrünnig geworden. Sir Lewleß kam schwerkrank nach Rom; strafend ruhte die Hand Gottes auf ihm. Unter dem Eindruck jener kummervollen Tage schien die geprüfte Frau Einkehr halten zu wollen. Da starb der Gouverneur, und sein Sohn eilte herbei, um dem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Er sah, was vorging, und in der Brutalität seines Zornes legte er Hand an meinen Bruder. Mit der Faust schlug er ihn nieder. Mit der Faust ... Mein Bruder blieb ein Krüppel – die Mutter von Gerald Mac Lewleß aber wurde wahnsinnig ...«
Herr von Rietzow hatte eine große Gewalt über seine Stimme. Er besaß das Organ eines gewandten Schauspielers, und da er sich sonst im Leben außerordentlich schlicht zu geben wußte, so konnte er bei besonderen Gelegenheiten um so stärker wirken. Er hatte für seine kleine Geschichte keine Ausdrücke lebhaften Empfindens gewählt, aber die Art, wie er sie vortrug, ließ sie bedeutungsvoll erscheinen. Es war, als verschleiere er hie und da etwas, um das Folgende, das ihm gewichtiger erscheinen mochte, stärker hervorheben zu können; er senkte zuweilen die Summe und ließ sie dann wieder rasch anschwellen, und schließlich wurde sie, bei der letzten Wendung des erzählten Geschehnisses, zu fast tonlosem Flüstern.
Ruth fand nicht sogleich eine Antwort. Sie hatte sich auf eine Gartenbank unter den Kastanien niedergelassen. Ihre Augenlider zuckten, und auch an den feinen und sensitiven Mundwinkeln sah man die Nerven spielen. Sie strich ein paarmal über ihr Kleid, legte die Spitzen der Finger aufeinander und knipste mit den Nägeln.
»Das ist schrecklich,« sagte sie halblaut, »das ist schrecklich ...« Es klang so, als kämpfe sie mit hysterischem Weinen. »Und – und Mac Lewleß weiß nicht, daß das – damals Ihr Bruder gewesen –?«
»Nein«, entgegnete Rietzow; »er soll es auch nicht wissen. Er kennt nur den Monsignore Massimo, der im Dienste seiner Pflicht sich schweigend beschimpfen und mißhandeln ließ ... Sie wunderten sich, daß mir Mac Lewleß nicht sympathisch sei, Komtesse; deshalb erzählte ich Ihnen den Grund. Ich hasse den Mann wirklich nicht, denn in der reinen Ätherhöhe des Glaubens schweigt jeder Haß. Zudem hat er sich selber am schwersten gestraft –«
Er brach rasch ab, denn man sah Emich, Gerald und die Mädchen näherkommen. Die älteren Herren folgten ihnen in einiger Entfernung. Wiegel wollte ihnen seinen Koniferengarten zeigen; er züchtete da seit einigen Jahren amerikanische Blautannen, auf die er stolz war.
Hildringen und Blohme zankten sich wie gewöhnlich; wenn sie zusammenkamen, gerieten sie nach fünf Minuten wie zwei Kampfhähne aneinander. Dann schnaufte und blubberte der Oberst, und der Major zischte. Der nervöse Landrat, dem vor Wut die Finger zitterten und der deshalb die Hände in den Hosentaschen vergrub, wollte die Unterhaltung auf ein anderes Thema bringen, begann dreimal mit ganz ausgefallenen und möglichst entlegenen Dingen und rief schließlich Wiegel zu:
»Sagen Sie mal, liebster Graf – liebster Graf, sagen Sie mal, wie geht es denn eigentlich Ihrem Herrn Neffen da in Dingskirchen, in Mesopotamien – nee, in Illyrien, mein' ich? Geht es ihm gut?«
»Na, es wird sich wohl halten lassen, bester Landrat«, erwiderte Wiegel. »Ein angenehmer Posten ist es ja nicht. Aber mein Schwager Ferdinand hat den Eitelkeitsteufel im Kopf. Übrigens – da fällt mir ein – Emich?!«
»Ja, Onkel?«
»Hast du die letzten Meldungen aus Garica verfolgt?«
»Seit einigen Tagen nicht. Gibt es etwas Neues?«
»Nein – man kabbelt sich wieder ein klein bißchen im Parlament – aber das hat nichts auf sich – c'est tout comme chez nous ... Nein – aber was mir auffiel, war ein neuer Name und ein bekannter dazu. Nämlich, da spielt jetzt ein Herr von Polzien in Garica eine gewisse politische Rolle –«
»Was?! Polzien?! – Sollte das unser Polzien sein? Mein viellieber Freund aus Seesenheim?«
»Ja, das weiß ich nicht, Emich. Aber unmöglich ist es nicht. Ein geweckter Mensch war ja der Polzien. Er scheint die russischen Interessen vertreten zu wollen oder zu sollen, hat einen Klub und eine Zeitung gegründet und macht dem armen Leopold nach allen Regeln der Kunst Opposition ...«
Emich war näher getreten.
»Das ist jedenfalls interessant. Er ging nach Rußland, soviel ich weiß, denn ich erhielt einen letzten Drohbrief von seiner Hand aus – aus Wilna, wenn ich nicht irre –«
»Das wird stimmen – er hatte Verwandte in Rußland, ist auf einem polnischen Gute aufgewachsen und beherrschte das Russische vollkommen. Ich entsinne mich dessen genau. Leopold sollte ihn hängen lassen. Ich glaube, in Illyrien hängt man noch.«
»Der Galgen ist eine sehr schöne Erfindung«, bemerkte Blohme. Hildringen war mehr für das Guillotinieren, und so gerieten die beiden wieder aneinander.
Kurz vor dem Aufbruch der Gäste fand Mac Lewleß Ruth in einem kleinen Salon am Fenster stehend und in den Glanz der Mondnacht hinausschauend.
»Störe ich, Komtesse?« fragte er. »Man muß Sie suchen. Sie sind heute schweigsamer und zurückgezogener als sonst. Macht der Geburtstag Sie melancholisch? Ich würde es verstehen.«
Ruth hatte sich umgewendet. Es lag etwas wie heimliche Angst, wie das Gefühl eines schweren Nervendrucks in dem Blick ihres Auges.
»Es ist möglich«, erwiderte sie. »Leben zu müssen, ohne nützlich leben zu können, hat in der Tat einen wehmütigen Beigeschmack. Aber im Augenblick lockte mich nur eine ästhetische Anwandlung an das Fenster: der Zauber der Nacht.«
Gerald schlug die Portieren weiter zurück und blickte gleichfalls hinaus in den Park, der sich wie ein Märchengarten, ganz in Silber getaucht, im Schweigen der Nacht weithin dehnte.
»Der Zauber Klingsors«, sagte Gerald. »Ich liebe die Natur, weil sie ablenkt und Beschaulichkeit predigt. Aber sie hat auch ihre Gefahren; sie wirkt zu stark auf das Gemüt ein und erschlafft das Denken.«
»Ach, wie gut!« Mac Lewleß lachte leise auf.
»Das war ein Stoßseufzer, der fast wie befreiend klang, Komtesse! Kam er von Herzen?«
»Ja, wahrhaftig. Denken und Grübeln hat nur dann seine Reize, wenn ihnen das köstlichste Ausruhen: das Träumen folgen kann. Aber nicht jeder versteht zu träumen.«
»Komtesse, ich weiß nicht, was mit Ihnen ist. Die alte frische Sorglosigkeit von früher fehlt mir bei Ihnen.«
»Ist das ›früher‹ die Backfischzeit? So lange kennen wir uns ja wohl. Und inzwischen bin ich ein paar Jahre älter geworden. Übrigens kann ich Ihnen Ihre Bemerkung zurückgeben. Der Alte sind auch Sie nicht mehr.«
»O Komtesse, welch' Unterschied zwischen Ihnen und mir! Haben Sie je empfinden müssen, daß das Leben auch eine Last sein kann?!«
»Ich habe nur öfters das Gefühl gehabt, daß das Leben sehr langweilig ist, wenn es keinerlei Hindernisse und keinerlei Lasten bietet; wenn es so glatt und gerade wie eine Pappelallee zur letzten Aussicht führt.«
»Komtesse, Verzeihung – aber das klingt fast blasiert. Es muß Ihnen doch leicht sein, sich einen kleinen Wirkungskreis zu schaffen, und ganz gewiß wird auch der Ihnen die Lasten und Hindernisse bieten, die Sie gern tragen und überwinden möchten, um Abwechslung – nun ja, Abwechslung, denn um etwas anderes handelt es sich ja nicht – in Ihr Dasein zu bringen. Auf ein Drohnenleben sind Sie doch nicht angewiesen!«
Fast unmutig zuckte Ruth mit der rechten Schulter.
»Ich hatte geglaubt, Sie müßten mich besser kennen, Mac Lewleß. Nach dem Hühnerhof und der Milchwirtschaft sehne ich mich nicht. Auch nicht nach dem Leinenschrank. Jeder nach seiner Art. Ich möchte – – ach du lieber Gott, was plaudern wir über so unnütze Dinge! Ich möchte vieles und habe Sehnsucht nach tausenderlei. Aber vorläufig versuche ich nur, davon zu träumen ...«
Sie stand mit dem Rücken gegen den Fenstersims. Der Mondschein streifte die eine Seite ihres Gesichts und tauchte sich tief in das eine Auge. Das war wie ein weiblicher Januskopf oder wie das Antlitz einer Sphinx, was Gerald vor sich sah. Ein Doppelgesicht voll Lebensfreude und jugendlichem Hoffen und heimlichem Sehnen und dem Durst nach der Quelle der Erkenntnis.
Draußen rasselte der erste Wagen auf die Rampe. Es wurde lebendig vor dem Portal; das flackernde Gelb der Laternen und Lichter blitzte durch den Mondschein.
Gerald seufzte leise auf.
»Addio, Komtesse«, sagte er und reichte Ruth die Hand und wunderte sich darüber, daß ihre schmale, schlank geformte, nervige Rechte sich fiebrig heiß anfühlte. »Also, als letzten Wunsch für Ihr Wiegenfest: Erfüllung dessen, was Sie ›möchten‹!«
Sie zog rasch und mit starkem Ruck ihre Hand zurück.
»Nein,« sprach sie hastig, »wünschen Sie mir das nicht! Vielleicht irr' ich – und meine Sehnsucht ist Torheit. Gewiß. Torheit, Mac Lewleß. Alles Sehnen ist Torheit. Ist's nicht so? Klopfen Sie bei sich selbst an. Gut, daß Sie nicht erreichten, was Sie vor ein paar Jahren ersehnten. Ich glaube, Sie wären sehr unglücklich geworden. Und vielleicht werd' auch ich es, sollte Wahrheit werden, was ich gern ›möchte‹ ...«
Er wollte noch etwas erwidern. Aber Emich trat heran; der Oberst, Blohme, der Landrat und einige andere folgten. Man empfahl sich geräuschvoll.