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Auf der Rampe gab es noch ein lebhaftes Hin und Her. Der Major schnauzte seinen Kutscher an, weil die eine Wagenlaterne auszugehen drohte. Die Pferde des Landrats scheuten vor den vielen Lichtern. Kichernd und lachend kletterten Mé, Mi und Ma auf den Krümperwagen, den der Oberst gewöhnlich zu Fahrten über Land zu requirieren pflegte. Der Wagen war so eng, daß der dicke Hildringen die kleine Mé auf seinen Schoß nehmen mußte. Herr von Rietzow war in einem geschlossenen Coupé gekommen. Er war sehr empfindlich in bezug auf die Nachtluft, trug über seinem Sommerpaletot noch einen Havelock und einen Schal um den Hals. Als er sich von Ruth verabschiedete, neigte er seinen Kopf ein wenig vor.
»Am Dienstag an der Königseiche,« flüsterte er, »zu gewöhnlicher Stunde... Ich habe Ihnen noch manches zu sagen...«
Ruth nickte. Rietzow war der einzige, dem sie fast willenlos gehorchte.
Emich kutschierte seinen Selbstfahrer. Neben ihm saß Gerald, hinten Bob mit gekreuzten Armen.
In scharfem Trabe ging es durch die Mondnacht. Das Nachtgestirn hatte noch immer seinen rötlichen Hof: es stand Regen bevor, vielleicht auch ein Gewitter, denn die Luft war schwül und drückend. Am Himmel hatten sich in Massen schneeweiße Wölkchen geschart, die sich wie die großen Schneeballen einer Lawine scheinbar übereinander türmten.
Ein leichter Wind wehte zuweilen auf, stoßweise und warm. Er rauschte in den Bäumen, die unter dem Druck der Luft angstvoll zusammenschauerten, und quirlte den trockenen Staub von der Straße empor. Im Dorfe schlugen ein paar Hunde an. Die Zikaden lärmten im Grase, und die Frösche quakten...
Emich hatte die Zügel locker gelassen. Der Braune griff kräftig aus und brauchte keine Nachhilfe.
»Hast du dich amüsiert, Gerald?« fragte er. Er sprach gewöhnlich englisch mit Mac Lewleß, um sich zu üben – jetzt auch, damit Bob nicht Ohrenzeuge der Unterhaltung würde.
»Ich müßte lügen, wollte ich es bejahen«, erwiderte Gerald müde. Er hüllte sich fröstelnd in seinen Mantel. »Es ist mir übrigens nicht allein so ergangen. Ruth selbst schien nicht allzu rosiger Stimmung zu sein.«
»Das ist sie seit langem nicht mehr. Wollte ich boshaft sein, so würde ich sagen: es ist Zeit, daß sie heiratet. Aber sie scheint noch immer nicht daran denken zu wollen.«
Erst nach einer kleinen Weile entgegnete Gerald:
»Es gärt in ihrer Seele, Emich. Und insofern hast du schon recht, wenn du sagst: es ist Zeit, daß sie heiratet, als sie einer führenden Hand bedarf, einer liebevollen und zärtlichen, aber zugleich starken. Sie fühlt sich sehr unglücklich daheim, und bei ihrer Natur begreife ich das. Sie möchte aus dem Kleinlichen und Alltäglichen heraus; ich glaube, es gelüstet sie, eine Rolle zu spielen, die Schwingen zu entfalten, Gebieterin zu sein in größerem Kreise. Ich möchte sagen, sie hat gewisse despotische Instinkte. Und das schadet nichts, denn es ist schließlich nur ein Überschuß des eigenen Kraftgefühls. Es keimt das alles vorderhand auch erst in ihr und wuchert ungeregelt durcheinander. Findet sich der Rechte, der das Unkraut ausrotten und die wilden Schößlinge beschneiden kann, dann werden die Blumen weiter treiben. Fällt diese gärende Seele aber in unrechte Hände, dann wehe ihr. Ja, bei Gott, dann wehe ihr!... Ach, das kann traurig stimmen!...« Emich überließ sich seinen Gedanken und antwortete nicht.
Er hatte sein Etui gezogen und sich noch eine Zigarre angesteckt, warf sie aber plötzlich wieder fort, nachdem er rasch einige Züge geraucht hatte.
Eine Stille entstand. Auch Gerald war stumm geworden und starrte mit verschleiertem Blick vor sich hin.
Man war im Walde. Es schien in der Tat, als nahe ein Wetter. Im Osten schob sich eine graue Wolkenwand den Horizont hinauf. Der Mond war fast blutrot umsäumt; die dicke Luft flimmerte. Der Wind hatte sich gelegt, aber alle Blätter an den Bäumen zitterten leise, gleichwie in heimlicher Furcht vor dem Kommenden; ein Rieseln ging durch den Wald.
Auch das Pferd wurde unruhig; Emich mußte die Zügel straffer ziehen. Es warf den Kopf und schüttelte sich im Geschirr, knirschte mit den Zähnen und ließ zuweilen die Kinnkette leise klirren.
Gerald streckte sich und begann von neuem mit weicher, mattklingender Stimme:
»Ruth sagt, sie liebe das Träumen. Ich nicht; ich bin zu positiv. Aber eben träumte ich doch. Weißt du, was? Ich träumte, Ruth wäre die meine geworden. Ich habe den Dienst quittiert und bin nach Schottland gezogen, und da habe ich mir eine Herrschaft gekauft, Berge, Land und See, und am See, auf steiler Felsplatte, ein Schloß. Da leben wir, sie und ich. Und in der stillen und hehren Einsamkeit des Hochlandes habe ich mir Ruth zum Weibe erzogen. Habe mir langsam Stück um Stück ihres Herzens erobert und habe im blühenden Garten ihrer Seele wie ein pflichtgetreuer Gärtner geschaltet. So ist ihre Seele freigeworden von wucherndem Unkraut. Sie ist mir dankbar dafür und liebt mich. Oh, sie liebt mich, und fast wunschlos ist sie in ihrer Liebe! Sie ist meine treue Gefährtin bei der Arbeit und doch auch meine Gebieterin. Sie hat eingesehen, daß das Weib keine Herrscherin ist als über das Herz des Geliebten. Alles Sehnen ist tot, nur eine einzige Sehnsucht lebt noch: glücklich zu bleiben... Emich! – Emich, sage ›Du Narr‹ zu mir!...«
Emich sagte es nicht. Er schwieg. Er biß die Zähne fest aufeinander. Sein Herz brannte vor Eifersucht...
Das Wetter stieg höher. Wie graue Riesenschwäne flogen die Wolken empor und verhüllten den Mond. Der Wind quoll wieder auf und fauchte mit starken Stößen durch den Wald, in dem es rauschte und knarrte und knisterte. Am Wege bogen sich die jungen Birken, daß ihre schwanken Zweige den Sand peitschten. Ganz in der Ferne blitzte es schon...
An die Schlafzimmertür des Grafen Wiegel pochte es leise. Wiegel öffnete selbst.
»I, Irmela – ?« sagte er erstaunt.
»Nun ja, Irmela – aber das verwunderte I war unnötig. Dein Schlafzimmer ist ja doch kein eiserner Geldschrank. Komm her, ich will dir in die Joppe helfen! So, nun bist du wieder so korrekt angezogen, daß du mich beruhigt empfangen kannst.«
Sie setzte sich und warf mit einem energischen Ruck die Schleppe ihres Schlafrocks über ihre Füße.
Wiegel strich sich über die Hahnentolle. Diese energischen Bewegungen seiner Frau waren ihm unangenehm. Dann gab es gewöhnlich irgendeine Auseinandersetzung. Er schob den Teller mit den Backpflaumen, der auf dem Tische stand, etwas zur Seite, rückte die Lampe weiter vor und nahm gleichfalls Platz.
»Na – also, liebe Irmela – ?« sagte er in fragendem Tone. »Wenn du mich bloß ein einziges Mal anders anreden wolltest, als ›liebe Irmela‹, August! Sage doch einfach ›Irmela‹ oder gewöhne dich an ein paar andere Beiwörter. Aber das ›liebe Irmela›‹ klingt immer so nach Öl oder Lebertran – es fließt dir so glatt von der Zunge – freilich, du liebst nun mal das Glatte. Na – reden wir von Wichtigerem!«
»Meine ich auch, liebe – meine ich auch, Irmela –«
»Ruth ist nun dreiundzwanzig geworden –«
»Ja, ja – die Zeit vergeht!«
»Im nächsten Jahre feiern wir silberne Hochzeit –«
»Ich habe auch schon daran gedacht, liebe... Eine Perlenkette war ja wohl immer dein Wunsch?«
»Nein, war er nicht, August. Oder war er's mal, so hab' ich ihn aufgegeben. Ein Enkelkind ist mein Wunsch!«
Der Graf erhob sich.
»Das dachte ich mir. Wieder die alte Litanei. Ich kann dir doch die Enkelkinder nicht aus den Wolken herunterholen, Irmela, oder aus den Ärmeln schütteln! Vier oder fünf – nein, sechs – genau sechs Freier hat die Ruth schon abgewiesen. Rietzow würde sie vom Platz weg nehmen, wenn sie katholisch werden wollte. Höre mal, Irmela, soll ich die Ruth etwa zur Ehe zwingen?«
»Ach was, zwingen! –« Die Gräfin fuhr mit der Hand durch die Luft. »Hier sind wieder Mücken im Zimmer!... Ach was, zwingen! Nur nicht ewig gegen die Ehe sollst du reden! Der Beruf des Weibes ist nun einmal das Heiraten.«
»Das ist eine veraltete Ansicht. Das ist überhaupt ein Gemeinplatz, Irmela. Und wenn es schon sein muß, kriegt Ruth im dreißigsten Jahre auch noch einen Mann. Laß sie uns doch noch ein bißchen! Sie ist doch, du lieber Gott, unser Ein und Alles!«
»Du bist ein Egoist. Bloß um Ruth noch ein paar Jahre bei dir zu behalten, redest du immer so gegen die Ehe. Sage mal, was soll denn aus Stenzig werden? Für wen hast du denn zusammengescharrt und zusammengespart? – Für wen anders als für Ruth? Und wenn Sie nun einmal, was Gott verhüten möge, als alte Jungfer stirbt – wer kriegt dann Stenzig mit allem, was drum und dran ist? – Einer deiner verbummelten Vettern. Oder glaubst du vielleicht, daß der liebe Gott uns noch einmal einen männlichen Sprossen schenken wird? – Na, August –«
»Irmela, wenn das ein Spaß sein soll, so ist dies ein Spaß, der mir nicht gefällt. Bleiben wir bei der Sache. Erlaubst du, daß ich dabei meine Pflaumen esse?«
»Iß sie immerhin. Aber verlaß dich darauf, daß ich nicht eher wieder fortgehe, ehe wir uns nicht genügend ausgesprochen haben. Bei Tage bist du doch nicht zu fassen. Wer kann bei Ruth in Frage kommen? Rietzow scheidet aus, von wegen der Konfession. Bleiben noch Emich und Mac Lewleß –«
Wiegel erstickte fast an einem Pflaumenkern. Er legte den Löffel klirrend auf den Teller zurück.
»Irmela, mit dir ist eben nicht vernünftig zu reden!« meinte er. »Verzeihe mir, daß ich das sage – aber ich sag' es. Es ist wirklich so. Ist Emich nicht etwa auch katholisch?«
»Gewiß, aber er würde die Ruth auch protestantisch nehmen. Mit allen zehn Fingern. Wir leben ja doch auch in sogenannter ›gemischter Ehe‹ und tun uns nichts zuleide dabei. Ich möchte wohl wissen, ob dem lieben Gott damit gedient ist, daß man die Religion in alle Lebensfragen hineinträgt!«
»Also lassen wir das religiöse Moment einmal ganz aus dem Spiel, Irmela! Es kommt noch etwas anderes dazu, das eine Ehe zwischen Ruth und Emich einfach unmöglich macht –« »Na, da bin ich wirklich neugierig –«
»Du hast wohl noch nie etwas von Vererbung gehört, Irmela? Von geistiger und körperlicher, mein' ich, von Generationslehre und Degenerationslehre und den darwinschen Theorien?«
»Ach du lieber Gott, August, laß mich doch mit den vielen Fremdwörtern in Ruhe! Was hat denn das alles mit unsrer Sache zu tun!«
»Sehr viel. Eminent viel. Ruth und Emich sind Cousine und Vetter im ersten Grade. Schöninghsches Blut in beiden, wenn bei Ruth vielleicht auch das meine überwiegt. Ergo – die korrekte Folgerung: sie können sich nicht heiraten, weil bei ihren Nachkommen Entartung zu fürchten sein würde.«
Die Gräfin schüttelte den Kopf. Die Sache leuchtete ihr entschieden nicht ein. Aber sie war doch kleinlaut geworden.
»Und Mac Lewleß?« begann Wiegel von neuem. »Ich spreche gar nicht davon, daß Ruth ihn schon einmal abgewiesen hat. Aber denke an seine Mutter! Und damit wollen wir das Thema beschließen.«
Er nahm wieder den Teller mit den Pflaumen zur Hand.
Irmela faltete die Hände im Schoße.
»Na und, August?«
»Ja, was denn ›na und?!‹ Ich denke, nun sind wir uns klar. Oder soll ich noch ausführlicher werden? Soll ich dir erzählen, daß zum Beispiel bei Kretinismus, Albinismus, Hypochondrie, ja selbst bei Diabetes mellitus –«
»August, ich bitte dich, laß das alles!«, und die Gräfin erhob sich. »Du suchst mir mit deinem medizinischen Wissen zu imponieren, aber du imponierst mir nicht. Ich bin der Ansicht, daß diese ganze Vererbungsgeschichte nur ein Vorwand deinerseits ist. Ich werde einmal mit unserm Doktor sprechen, was eigentlich daran ist. Soviel weiß ich jedenfalls, daß ich eine ganze Masse Vettern und Cousinen kenne, die sich geheiratet und recht vernünftige Kinder bekommen haben. Du willst mich bloß graulich machen. Und das ist unrecht von dir. Gute Nacht.«
Sie rauschte hinaus. Wiegel brachte sie bis zur Tür. Er war sehr zufrieden. Wozu denn diese übereilte Suche nach dem Mann?! Konnte es Ruth irgendwo in der Welt besser haben als hier in Stenzig? – –
Hätte der Graf seine Tochter in diesem Augenblick beobachten können, so würde er vielleicht doch anderer Ansicht geworden sein. Ruth lag in ihrem Zimmer vor dem Bette auf den Knien und betete. Aber ihrem Gebete fehlte die fromme Weihe und die Gläubigkeit der Seele. Es war ein heißes und stürmisches Anklagen, ein langer Verzweiflungsschrei, ein Hadern mit sich selbst.
Mit tränenüberströmtem Antlitz erhob sie sich. Es brannte kein Licht im Zimmer, aber durch die Fenster strömte die Helle der Nacht. Als Ruth sich im Spiegel sah, erschrak sie. Ihr Haar hatte sich gelöst und umfloß ein geisterhaft bleiches Gesicht – ein ganz weißes Gesicht mit feuchtschimmernden umschatteten Augen. Der erste Schreck wich dem Empfinden geschmeichelter Eitelkeit. Sie fand sich so wunderschön. Und dann zuckte und sprang es wieder in ihrem Herzen. O Gott, wie fühlte sie sich unglücklich!
Sie riß das Balkonfenster auf. Über dem Park stiegen die ersten grauen Wetterwolken empor. Es wehte dunstig von unten herauf. Auf dem Rondell blühten die Rosen zum zweiten Male, und der laue Wind trug ihre Düfte auf seinen Schwingen. Wie ein rotes verschleiertes Auge blickte der Mond vom Himmel.
Ruth rollte einen Sessel dicht an den Balkon und ließ sich nieder. Ihr Heiz klopfte stark. Warum nur – warum?! Warum war sie so unglücklich, so unbefriedigt, so leer?! – Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie hätte sich das Gewand von der Schulter reißen und blutig geißeln mögen, wie die heilige Katharina von Siena, um in körperlichem Schmerz den Aufschrei ihrer Seele zu ersticken...
Emich hatte am folgenden Tage gehört, daß Gerald sich hatte krank melden lassen, und ging nach Beendigung des Dienstes zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Er sah, daß alle Fenster der Villa Mac Lewleß nach der Straße hinaus verhängt waren, und das erfüllte ihn mit banger Ahnung.
Der Bursche Geralds öffnete. Emich schaute scharf in das betrübte Gesicht des braven Uckermärkers und fragte kurz: »Ein Unglück passiert, Buggenau?«
»Ja, Durchlaucht,« entgegnete der Bursche, »unse' gnä'ge Frau is in der Nacht gestorben...«
Die Ärmste hatte also ausgelitten. Ein Atemzug der Befreiung schwellte die Brust Emichs.
»Fragen Sie, ob ich den Herrn Leutnant auf fünf Minuten sprechen kann, Buggenau«, sagte er. »Aber betonen Sie gleich, daß ich gern wiederkommen würde, wenn es dem Herrn Leutnant jetzt nicht recht sein sollte...«
Er wurde vorgelassen. Gerald empfing ihn in seinem großen Arbeitszimmer: totenblaß, mit roten Augen, seltsam verstörtem Gesicht und Kratzwunden auf Wangen und Stirn.
Stumm drückte Emich ihm die Hand.
Gerald nickte wehmütig und wies auf einen Stuhl.
»Es war die schrecklichste Nacht meines Lebens, Emich. Sieh die Risse auf meinem Gesicht. Ich habe ringen müssen mit ihr. Ich...« Er konnte nicht weiter. Plötzlich brachen alle Dämme in ihm; es war vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Er schlug die Hände vor die Augen und schluchzte laut.
Emich ließ ihn ausweinen. Er saß still neben ihm. Und plötzlich ließ Gerald die Hände sinken und schaute den Freund groß an, mit einem Ausdruck im Auge, der Emich eigentümlich fremdartig berührte.
»Ich habe meine Mutter getötet, Emich«, sagte er. Aber es war mehr ein Flüstern, ein Raunen als ein Sprechen.
Unwillkürlich erbleichte Emich. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um gefaßt zu bleiben. Er schüttelte den Kopf.
»Was soll das heißen, Gerald! Was soll ein so törichter Selbstvorwurf!?«
»Es ist die Wahrheit. Nichts weiter als die Wahrheit. Ich bin schuld an all ihrem Leiden. Deshalb ließ ich sie auch nicht von mir. Ich konnte sie nicht von mir lassen, bis... Und doch mußt' ich so handeln. Hör' zu, Emich, und dann urteile! Mein Vater starb in Rom. Als ich nach Rom kam, ihn zu beerdigen, fand ich meine Mutter in den Fängen eines seelischen Beutejägers. Sie war katholisch gewesen, aber nach ihrer Hochzeit zum Protestantismus übergetreten. Ein glattzüngiger Priester wollte sie seiner Kirche zurückgewinnen. Und um ganz sicher zu gehen, stahl er sich auch in ihr Herz. Er war ein schöner, großer, feuriger Mann mit Flammenaugen und metallen klingender Stimme und von einschmeichelndem Wesen. Seit einem Jahre, seit mein Vater krank nach Rom gekommen war, hatte er hinter dem Rücken des Leidenden an seinen Minen gearbeitet. Meine Mutter liebte ihn – und so hatte er die schwache Frau umgarnt, daß sie sich schon bereit erklärt hatte, des Vaters Erbschaft der Kirche zu vermachen. Zweimal konnt' ich die beiden belauschen; was mir die Domestiken nicht schon gesteckt hatten, vernahm ich mit eigenen Ohren, sah ich mit eigenen Augen. Und da packte mich ein unbändiger Zorn, und eines Tages schlug ich den Schuft zu Boden und warf ihn die Treppe hinunter... Erspare mir die Schilderung der Szenen mit meiner Mutter, die folgten. Von jenem Tage ab umdunkelte sich ihr Geist. Man schob ihr Nervenleiden auf den Tod des Vaters – ich aber wußte es besser. So teilte ich denn ihr Leiden; es ward das meine. Ich ließ sie nicht wieder von mir. Sie liebte mich immer noch, aber wenn ihre Anfälle kamen, schlug sie nach mir und kratzte mich blutig und hatte entsetzliche Worte für mich. Seit zwei Jahren wiederholten sie sich Woche für Woche – zuletzt fast Tag für Tag. Eine unaufhörliche Marter für mich, eine furchtbare Qual für sie. Oft habe ich sie an Selbstmordversuchen gehindert. Nun – nun ist es vorbei...«
Emich hatte schweigend zugehört. Er vermochte Mac Lewleß in dieser Stunde keine harte Antwort zu geben; er wollte es auch nicht. Aber fühlte er sich auch frei von Engherzigkeit der Empfindung – es lag in der Erzählung Geralds etwas, was ihn dennoch heimlich verstimmte und verletzte.
Er erhob sich und nahm Geralds Hand.
»Nun ist es vorbei«, wiederholte er. »Eine Erlösung für sie und auch für dich, Gerald. Du wirst sie betrauern und ihr Andenken im Herzen behalten und wirst wieder gesund werden. Wenn du nach mir verlangst, so laß mich rufen ...«
Nach drei Tagen begrub man Jenny Mac Lewleß. Das ganze Offizierkorps wohnte der Beerdigung bei. Nur Blohme fehlte. – – – –
Es regnete. Über das Pflaster strömte das Wasser, und von allen Dächern tropfte und rieselte es. Emich hatte seinem Zuge Reitunterricht gegeben und trat nun aus der verdeckten Reitbahn ins Freie. Neben ihm schritt der Oberstabsarzt des Regiments, Doktor Rösicke.
»Teufel, so ein Wetter«, sagte Doktor Rösicke und schlug den Mantelkragen in die Höhe. »Warum dürfen wir zur Uniform nicht auch Regenschirme tragen? ... Also, liebste beste Durchlaucht, was ich Ihnen erzählt habe, bleibt unter uns. Ich war schon in Ihrer Wohnung. Warnen Sie Mac Lewleß! Der Major kann ihn nun einmal in den Tod nicht leiden. Ob sich denn nicht bald eine Versetzung für den roten Helfershelfer findet!? Wollte man im Kriegsministerium doch Einsehen haben, ihn zum Oberstleutnant befördern und ihm ein Regiment geben, damit wir ihn loswürden! Adjö, Durchlaucht.«
Die beiden trennten sich. Emich ging sehr langsam die Straße hinauf. Mit rollendem Geräusch fiel der Regen auf den Gummimantel und troff langsam zur Erde. Die weiße Mütze sah grau aus, hatte sich gesackt und mit Feuchtigkeit vollgesogen.
Emich achtete nicht auf den Guß des Himmels. Es war eine neue Sorge, die ihm der Oberstabsarzt in das Ohr geflüstert hatte. Herrgott, hörten denn die Aufregungen nicht auf! – Sicher lag nur ein unseliges Versehen vor – aber seine Folgen konnten für Gerald schwer wiegen. Er mußte auf der Stelle benachrichtigt werden.
Glücklicherweise war er zu Hause.
»Ich muß dich in einer unangenehmen Geschichte sprechen, Gerald«, sagte Emich. »Sei mir nicht böse, wenn ich frische Wunden berühre.«
»Ich habe Schmerzen ertragen gelernt, Emich. Also los!«
Emich suchte nach Worten; er wollte schonend zu Werke gehen.
»Der Kreisphysikus«, begann er, »hat eine Dummheit begangen. Er hat irgendwo am Stammtisch erzählt, deine selige Mutter –«
Er stockte wieder.
»Weiter, Emich«, rief Gerald drängend. »Mein Gott, es muß doch heraus!«
»Ja – es muß. Er hat erzählt, deine Mutter sei an Herzlähmung gestorben, wie ja auch der Totenschein besagt – aber der Tod sei infolge einer zu starken Dosis von Morphium eingetreten. Und dieser gräßliche Blohme hat davon gehört und speit nun Feuer und Flamme: Du hättest nicht genügend Obacht gegeben – die Sache erfordere eingehende Untersuchung, die Staatsanwaltschaft müsse benachrichtigt werden – was weiß ich, Gerald! Ich bin hergekommen, dich zu warnen. Du mußt auf neue Unannehmlichkeiten gefaßt sein...«
Mac Lewleß schaute ernst vor sich nieder. Ein leichtes Zittern, einem Schauer ähnlich, durchflog seine Glieder.
Er nickte.
»Es ist so, Emich«, sagte er. »Das Morphium brachte ihr Schlaf, und sie mußte in letzter Zeit die Dosen sehr verstärken. Wir bezogen die Arznei aus Berlin, um hier kein unnötiges Aufsehen zu erregen – und ich weiß, daß die Mutter einmal das Rezept eigenhändig gefälscht hat, um eine größere Dosis zu erhalten... Sie wollte Schlaf finden – sehnte sich auch nach dem ewigen Schlaf... Emich, wer konnte es ihr verdenken!? Wäre es nicht ein Werk der Barmherzigkeit gewesen, der Unheilbaren den Todestrank zu lassen?...«
Emichs Kopf flog empor. Er starrte Gerald in das Gesicht; eine Frage drängte sich auf seine Lippen, aber er hielt sie zurück.
»Deine Mutter hat ihren Frieden gefunden«, sagte er ausweichend.
»Den Frieden, den sie suchte. Gott sei mit ihr. Und nun ich, Emich?! Ich habe auch Verlangen nach Ruhe des Gemüts. Ich habe zu viel gelitten. Ich scheue mich vor jeder neuen Erregung... Schon in der letzten Nacht kam mir der Gedanke, den Abschied einzureichen. Man kann ihn mir nicht verweigern; der Arzt wird bestätigen müssen, daß meine Nerven zerzupft und zerrissen sind. Man verweigert ja nur ausnahmsweise einmal ein Abschiedsgesuch!«
»Und wohin willst du?«
»Das kommt darauf an.«... Er erhob sich und streckte Emich beide Hände entgegen. »Willst du mir einen Freundschaftsdienst erweisen, Kleiner? Einen über alles großen?«
»Gewiß – du kennst mich. Mit tausend Freuden.«
»So fahre morgen nach Stenzig und frage Ruth in meinem Namen, ob sie den Traum zur Wahrheit machen will, von dem ich dir vor einigen Tagen vorschwärmte.«
Emich schnellte erblassend empor.
»Gerald!«
»Ist das eine so große Kühnheit, Emich? – Ich sage dir, nein. Nicht sie wies mich vor vier Jahren ab, sondern ihr Vater. Sie ist älter und reifer geworden; auch sie will ihren Frieden haben. Und ich habe in ihrem Auge vieles gelesen, das mich hoffen läßt. Sage ihr, wie ich sie liebe. Sprich auch vom Praktischen. Ich bin wohlhabend. Ich will mich irgendwo ankaufen – in ihrer Heimat oder in den Bergen Schottlands... Sprich für mich mit der ganzen Wärme deiner Freundschaft!...«
Gerald hielt noch immer die Hände Emichs fest. »Willst du es tun?« fragte er.
»Gerald – ich will – ja, ich will! Aber, sag' mir, weshalb scheust du dich, selbst vor sie hinzutreten und –«
»Ich fürchte mich, Emich. Das ist es. Ich fürchte meine eigene Leidenschaft. Ich will mich nicht hinreißen lassen wie damals. Es könnte noch schlimmer kommen. Aber ich quäle dich nicht mit meiner Bitte. Sage nein – und unsre Freundschaft wird trotzdem die alte bleiben.«
»Du weißt, daß ich nicht nein sage. Ich bin morgen dienstfrei. Am Abend bin ich bei dir.«
»Dank dir im voraus! Ich kann mir keinen besseren Freiwerber wünschen als dich. Und nun will ich mich ankleiden und zum Obersten gehen, mir vorläufigen Urlaub erbitten und mit ihm über meinen Abschied sprechen...«
...Am Abend dieses Tages ging Emich nicht in das Kasino, sondern blieb zu Hause. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, mit den Kameraden über allerhand Gleichgültiges zu scherzen und zu plaudern. Er fühlte das Bedürfnis, allein zu sein.
Bob, dessen Dienstzeit verflossen, den Emich aber als Kammerdiener behalten hatte (eine Konzession an die Standeserhöhung), war soeben dabei, den Tisch zu decken. Er hatte den Spiritus unter der Teemaschine angesteckt, warf einen letzten Blick über den Tisch, schlug dann die Absätze zusammen und fragte, ob Durchlaucht noch etwas zu befehlen hätten.
Emich schrak, auf dem Diwan ausgestreckt, wie aus tiefem Traume empor. Er verneinte, schickte Bob hinaus und versuchte, zu Abend zu essen. Aber es war keine Freude dabei, es war eine mechanische Tätigkeit. Zwischen jedem Bissen quollen trübe Gedanken und bittere Erinnerungen in ihm auf. Und die Gedanken wurden zu Personen und saßen mit ihm am Tisch und starrten ihn an. Gerald starrte ihn an, müdes Hoffen in den Augen, und Ruth und ihr Vater und plötzlich auch – seltsam genug – der Kottauer Rietzow ... Und dann Saß – – ja, war das nicht die Stimme Sassenhausens?! ... Emich lauschte.
»Lassen Sie nur, Bob,« hörte er deutlich, »ich finde mich schon allein zurecht ...«
Es klopfte an; Saß trat ein – in Zivil, triefend vor Regen, den Hut tief in die Stirn gedrückt.
»Saß!?« rief Emich und sprang auf.
»Ja – Saß – ich bin es, Emich! Bleib auf dem Sofa, Alterchen – na, dich brauch' ich ja nicht erst zu fragen, wie es dir geht! Du sitzest wie ein Berliner Rentier am wohlbesetzten Tische – – gib mir eine Tasse Tee – nee, ein Glas Grog – ich bin naß bis auf die Haut. Eine Sintflut draußen! ...«
Die erste Begrüßung war vorüber. Sassenhausen hatte sich einen Flauschrock Emichs angezogen und rasch seinen Grog geleert. Emich beobachtete ihn heimlich und mit Unruhe. Saß sah elend aus; das Gesicht war fahl, die Augen brannten.
»So,« sagte er, »jetzt kann höchstens noch ein Schnupfen kommen. Nein, danke – ich esse nichts, Emich! Weshalb ich hier bin? Weil es mir hundsmiserabel geht und ich dir adjö sagen wollte. Falle nicht um, Emich: es ist aus mit mir. Schlichter Abschied und dann Amerika – heidi! ...«
Es war eingetroffen, was Emich seit langem gefürchtet hatte. Die Rotte der Gläubiger hatte Saß den Hals zugeschnürt. Aber Saß trug selber die Schuld an seiner Erwürgung. Der eigene Leichtsinn während seines Kommandos zur Zentralturnanstalt hatte ihn zugrunde gerichtet. In Berlin war er in Spielerhände gefallen; das hatte ihm den letzten Stoß gegeben.
Mit gefurchter Stirn hatte Emich zugehört. Für einen so wahnwitzigen Leichtsinn fehlte ihm das Verständnis. Aber er überhäufte Sassenhausen nicht mit Vorwürfen. Der moralische Untergang des Freundes tat seinem Herzen weh. Er schwieg.
Dies Schweigen verwirrte Sassenhausen. Er schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Potzdonnerwetter, Emich, sitz' nicht wie ein Ölgötze da!« schrie er. »Sage, daß ich ein Schuft bin!«
»Ich bin kein Narr, Saß«, antwortete Emich ernst. »Schimpfen und Wüten hilft dir ebensowenig aus der Patsche als Klagen. Um wieviel handelt es sich diesmal?«
»Um eine Riesensumme. Frage nicht erst! Ich war schon zu Hause. Du kannst dir denken, wie der Papa mich aufgenommen hat. Meine Schwester Röschen hat sich mit einem armen Maler verlobt – das ging dem Alten auch im Kopfe herum. Und nun meine Dummheit! Mir ist zu Mute, als hätte ich einen Mord begangen, hätte die Polizei auf den Fersen und müßte schleunigst ins Ausland flüchten. Mit den Eltern ist also alles besprochen. Papa gibt keinen Pfennig mehr; die Mama spendet noch achthundert Taler Reisegeld. Abschied von Eltern und Geschwistern habe ich bereits genommen – das war eine Stunde, die ich meinem ärgsten Feinde nicht gönne ...«
Er strich mit der Hand über die Augen, schluchzte auf und machte sich ein neues Glas Grog zurecht.
»Ich habe auch an eine gute Partie gedacht«, fuhr er fort. »Doch wo findet man die im Handumdrehen, und das Messer sitzt mir an der Kehle! ... Deine Cousine Ruth – das wäre so etwas. Die habe ich immer sehr lieb gehabt. Aber der alte Graf würde mich wahrscheinlich vor die Türe setzen –«
»Und ich würde dabei helfen, Saß«, warf Emich ein. »Sprich nicht solchen Unsinn! Es fehlt nur noch, daß du als letztes Allheilmittel an eine Kugel denkst –«
»Hab' ich auch schon! Die Welt verliert wenig an mir.«
»Das will ich nicht bestreiten. Trotzdem möchte ich dir einen anderen Vorschlag machen. Willst du nicht versuchen, ob sich Veresco für dich verwenden kann?«
Sassenhausen schlug wieder auf den Tisch.
»Donnerwetter, Emich – Donnerwetter!... Das ist ein guter Gedanke! Illyrien ist das Land der Zukunft, der Fürst dein Vetter, unser Freund Maffeo der Sohn des Premierministers – an Verbindungen fehlt es mir also nicht.«
»Die dir aber allesamt nicht viel nützen werden, wenn du nicht tatsächlich die Absicht hast, ganz energisch mit deinem Leichtsinn zu brechen. Saß, ich hasse das Moralpauken. Ich habe auch keine Begabung dazu. Ich schwöre dir aber, daß ich kein gutes Wort für dich bei meinem Vetter Leopold einlege, wenn du dich nicht mit Handschlag und auf deine Ehre verpflichtest, nie wieder zu hasardieren. Willst du das tun?«
Sassenhausen stand auf und reichte Emich seine Rechte.
»Ein Schurke will ich sein, rühre ich je wieder die verdammten Karten an!«
»Hast du dir das nicht schon einmal zugeschworen, Saß?«
»Zwanzigmal mir selbst – ja, es ist wahr. Aber dir brech' ich mein Wort nicht. Es sind ein paar Schlingen, die mich knebeln. Auch den Eltern habe ich es mit der Hand und Ehre versprechen müssen. Was soll also mit mir geschehen, Emich? Amerika bleibt links liegen; Illyrien ist die Parole. Mein Abschiedsgesuch ist genehmigt; Vater war persönlich beim Kriegsminister. Soll ich an Veresco telegraphieren?«
»Nein. Besorge deine Abmeldungen, schreibe deinen Gläubigern, daß sie warten müßten, und dann setze dich auf die Bahn und fahre nach Garica. Ich werde dafür sorgen, daß Fürst Leopold dir den Eintritt in die illyrische Armee ermöglicht. Du bist immer ein tüchtiger Frontoffizier gewesen, ein guter Reiter und Instruktor, auch Soldat von Passion – vielleicht machst du noch einmal dein Glück.«
Sassenhausen warf sich an Schöninghs Brust. »Adjö, Emich – Teufel, Donnerwetter, ich heule wie ein Lausbub, aber ich kann nicht anders! Ich – weißt du, ich bin ganz froh, daß es so gekommen ist! Bin ganz froh darüber. Hier hätt' ich's doch niemals zu etwas Ordentlichem gebracht – aber da unten, wo es alle anderthalb Jahre eine tüchtige Revolution gibt, da werd' ich schon meinen Mann stehen!... Was ist die Uhr? – Erst neun – ich fahr' noch heut' abend nach Berlin zurück! Gut, daß es wie mit Kannen gießt – da kann ich mich heimlich durch die Straßen drücken, denn ich schäme mich, einem Kameraden zu begegnen. Es braucht mich niemand zu sehen...« Er war wieder in Rock und Paletot geschlüpft. »Adjö, Emich – wenn du wieder einmal etwas von mir hörst, wird es Gutes sein! Grüß' mir den Gerald – die andern nicht! Adjö, Emich!...«
Und Emich war wieder allein. Draußen rauschte der Regen.