Fedor von Zobeltitz
Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz

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XII

Ein einsamer Winter folgte für Emich, der sich fast völlig von dem Verkehr zurückgezogen hatte, seit ihm Stenzig entfremdet worden war. Denn in Stenzig hatte der Herbststurm gewaltig gehaust, hatte niedergebrochen und entwurzelt, und dann war es öde geworden.

Eines Tages ließ Graf Wiegel Emich aus der Reitbahn holen. Er war vierspännig nach Klempin gekommen und in gewaltiger Aufregung, die er nur mühsam zu dämmen vermochte.

»Emich, ich muß dich um einen Kavalierdienst bitten,« sagte er, »einen Dienst, den du mir nicht verweigern kannst...« Seine umdüsterten Augen brannten, und ein ganzes Netz von Falten lag unter der grauen Hahnenlocke; von gestern zu heute war der Mann ein Greis geworden... »Nicht verweigern kannst, Emich. Bring' Rietzow meine Forderung. Fünfzehn Schritt; Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit.«

Nun wußte Emich, was geschehen war. Wiegel hätte es ihm nicht erst zu erzählen brauchen. Ruth hatte, um jeder Beeinflussung von seiten ihres Vaters vorzubeugen, ihren Übertritt zum Katholizismus heimlich vollzogen; ihr Führer und Pate und der geschickte und umsichtige Leiter der Angelegenheit war Rietzow gewesen.

Trotz seiner gemischten Ehe war Wiegel ein starker und eifriger Protestant. Er war außer sich vor Grimm über die Konversion seiner Tochter, und seine Wut gegen Herrn von Rietzow wuchs, als zu gleicher Zeit auch in der »Katholischen Welt« die Novelle Ruths unter ihrem vollen Namen zu erscheinen begann. »Die katholische Welt« war jenes Blatt, an dem sich der Kottauer mit einem großen Kapital beteiligt hatte, und seiner Tendenz entsprach auch die Erzählung Ruths: dilettantisch in der Form, mager in der Erfindung und ganz unmöglich in der Psychologie, aber durchlodert von den Flammen eines fanatischen Renegatentums. Sie führte den Titel »Mein Golgatha« und war in Tagebuchform gehalten. Nur, wer aufmerksam und mit hellem Auge zwischen den Zeilen zu lesen verstand, konnte aus den wirren und leidenschaftlichen Bekenntnissen dieser Blätter den gellen Aufschrei einer sehnenden Seele vernehmen, der das Leben im sorgenlosen Alltag erbärmlich schien und die in mystischer Ekstase nicht nur kämpfen, sondern auch leiden wollte.

In Stenzig gab es unbeschreibliche Szenen. Der gegen seine Tochter sonst so nachgiebige Graf schrie und tobte durch die Zimmer. Rietzow hatte ihm in letzter Zeit allerhand Liebenswürdigkeiten erwiesen und war ihm auch in politischer Beziehung dienstbar gewesen. »Er hat mich ködern wollen, Irmela! Hat vielleicht gehofft, ich würde ein Auge zudrücken oder gar – oder gar mit der Ruth zusammen die Wallfahrt nach Rom antreten! Ich tränk' es ihm ein, so wahr ich August Wiegel heiße! Vor die Pistole soll er mir – vor die Pistole!...«

Die arme Gräfin Irmela schluchzte und weinte nur noch. Ihre geröteten Augen erzählten von langen durchwachten Nächten. Bei aller ihrer Duldsamkeit waren die Sympathien ihres Herzens auf seiten der Tochter, die nun ihren Glauben teilte. Aber sie hütete sich wohl, das auszusprechen. Und um des Friedens im Hause willen hätte sie auch gewünscht, es wäre beim Alten geblieben. Konnte nicht jeder zum lieben Gott beten, wie es ihm gefiel und richtig dünkte? Würde der Streit um den Glauben denn nie ein Ende nehmen in der Welt...? Ruth blieb die ruhigste in allen diesen Stürmen. Sie verließ nur noch zu den Mahlzeiten ihr Zimmer; dann erschien sie bleich, gewöhnlich dunkel gekleidet und sprach wenig. Als ihr Vater ihr einmal während des Diners eine Szene machen wollte, erklärte sie ruhig, sie werde sich künftighin auf dem Zimmer servieren lassen, wenn man mit ihr streiten wolle. Dagegen empfing sie den Pastor von Stenzig und hatte eine längere Aussprache mit ihm. Als der Pastor später mit Wiegel zusammenkam, zuckte er nur mit den Achseln und sagte: »Da ist nichts mehr zu machen, Herr Graf. Sie ist fest und wankt nicht. Sie muß sich allein mit ihrem Gott abfinden...«


Emich war sich der Schwierigkeit seiner Mission wohl bewußt. Abschlagen konnte er die Bitte seines Oheims nicht. So verständigte er denn den Ehrenrat und fuhr über die Grenze nach Kottau.

Rietzow lehnte den Zweikampf ab oder suchte wenigstens eine Verständigung herbeizuführen. Ruths Übertritt sei das Fazit reiflicher Erwägungen und bedeute den Friedensschluß nach schweren seelischen Kämpfen. Er selbst habe nichts getan, sie in ihrem Entschluß zu bestärken, es dagegen für seine Pflicht erachtet, ihr in formaler Beziehung hilfreich zu sein, nachdem sie erklärt habe, daß keine Macht der Erde sie hindern werde, das zu tun, was sie für recht halte. Von einer Ehrenkränkung könne auf keinen Fall die Rede sein, da es sich hier lediglich um eine Glaubensfrage handle...

Rietzow gehörte zu den wenigen Menschen, die Emich stets zuwider gewesen waren. Aber er sagte sich auch, daß es Wahnwitz wäre, Rietzow mit aller Gewalt zu dem Duell zu zwingen. Nach dem Ehrenkodex mußte Wiegel Rietzows Erklärung genügen; nur Ruth selbst konnte beweisen, daß sie falsch war. Es blieb also lediglich das Faktum übrig, daß der formale Übertritt Ruths heimlich in der Pfarrkirche von Kottau vollzogen worden war. Rietzow betonte, daß er – ganz abgesehen von seinen religiösen Überzeugungen – schon als Kavalier der Komtesse die erbetene Beihilfe nicht hätte versagen können.

Unverrichteter Sache kehrte Emich heim. Wiegel hatte ihn in Klempin erwartet, und zwar im Hause Blohmes. Und nun nahm sich der Major der Angelegenheit an; das kam ihm gerade zurecht. Als Emich ein Wort der Beruhigung sprach, wurde Blohme ausfallend und Wiegel scharf. So bat Emich denn, sich zurückziehen zu dürfen. Es war unmöglich, mit den beiden Herren noch weiter zu verhandeln. Blohme gegenüber wurde Emich niemals das Gefühl los, sich zu einer Insubordination hinreißen zu lassen, und Wiegel hatte vollständig den Kopf verloren. Seine glättende Korrektheit hatte sich in maßlose Wut aufgelöst.

Noch am selben Tage raste der Major nach Kottau. Spät abends lehrte er heim, hochrot vor Erregung und triumphierend. Er hatte erreicht, was er wollte. Er hatte Rietzow im Namen Wiegels so schwer beleidigt, daß der Zweikampf unvermeidlich war. Das Duell wurde auf der Niederung hinter der Königseiche ausgefochten. In Stenzig ahnte man von dem blutigen Austrag nichts. Blohme sekundierte dem Grafen, ein Herr von Pernitz Rietzow; Hauptmann von Wallwitz, ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, war Unparteiischer, Doktor Rösicke überwachender Arzt. Im ersten Gang traf die Kugel Wiegels den linken Arm Rietzows. Der Blutverlust fühlte eine leichte Ohnmacht herbei, doch erklärte Rietzow, den Kampf fortsetzen zu wollen. Er war plötzlich ein anderer geworden als bei Beginn des Duells. Sein Auge erwiderte den Haß Wiegels; er zielte scharf. Unter seiner Kugel brach Wiegel zusammen. Doktor Rösicke erklärte die Lunge für gefährdet und bestand auf Abschluß des Zweikampfs. Den versöhnenden Handschlag wies der Graf zurück.

Herr von Rietzow zeigte sich selbst beim Gericht an und wurde zu acht Monaten Festung verurteilt. Wiegels Wunde heilte nach wenigen Wochen, aber eine Unvorsichtigkeit warf ihn auf das Krankenlager zurück. Abermals wurde die nach kaum überstandener Krankheit noch stark empfindliche Lunge in Mitleidenschaft gezogen; eine Entzündung trat hinzu, und ihr erlag Graf Wiegel. Er starb am letzten Novembertag.

Die Beisetzung fand in der Stenziger Familiengruft statt. Bei dieser Gelegenheit war Emich zum letzten Male in seiner zweiten Heimat gewesen. Die ganze Nachbarschaft, der halbe Adel der Provinz und fast alle Offiziere aus Klempin wohnten dem Begängnisse bei.

Emich führte als nächster Verwandter die Gräfin, Blohme Komtesse Ruth. Während Irmela in Tränen zerfloß und das Taschentuch nicht von dem Gesicht ließ, schritt Ruth am Arme des Majors ruhig ihres Wegs. Die Trauerkleidung hob die geisterhafte Blässe ihres Antlitzes noch stärker hervor; die Augen lagen tief unter der Stirn. Aber die köstliche Gestalt war frei und stolz erhoben, und wenn auch der Blick den Boden suchte, so schien selbst in dieser Demut etwas von bewußter Hoheit zu liegen.

In dem kleinen Mausoleum fanden nur die wenigsten Platz; die übrigen scharten sich draußen vor der geöffneten Tür unter den Birken und Edeltannen. Taktvoll vermied der Geistliche in seiner Rede jede Anspielung auf den unseligen Zweikampf und seine Ursachen. Es war sehr still, während er sprach; man hörte nur das leise, krampfhafte Schluchzen der Gräfin. Und dann wurde, nach dem letzten Gebet, der Sarg in die Gruft hinabgesenkt. Er schwebte auf Stricken in die Tiefe, zu den Ahnen des Geschlechts, die dort unten ausruhten vom ewigen Kampfe des Lebens. Und plötzlich fühlte Herr von Blohme, daß die Komtesse neben ihm erzitterte. Sie sank mit einem Wehlaut in die Knie und wurde, ohnmächtig...

Spät am Abend nahm Emich Abschied von Frau Irmela. Sie hielt lange seine Hand in der ihren, und die armen verweinten Augen tropften noch immer.

»Emich, mein Liebling,« sagte sie, wir haben beide an ihm viel verloren, du wie ich. Denn hatte er auch seine Fehler – o ja, er hatte sie –, so machten seine Rechtlichkeit und die Solidität seiner Grundsätze – ich kann mich nicht anders ausdrücken – sie doch auch wieder gut. Daß er mir niemals die Treue gebrochen hat, darauf lege ich meine Hand ins Feuer, und in der heutigen Zeit, wo die Verführungen so groß Wesens, das ihn vor häßlichen Eskapaden schützte; später ließ das auch sein Rheumatismus nicht mehr zu. Wir wollen beide sein Andenken in Ehren halten, Emich; gib mir die Hand darauf!«

Das tat Emich gern, und die Gräfin fuhr fort:

»Was nun weiter geschehen soll, weiß ich nicht. Dieser große Besitz und ich alte schwache Frau! Wenn doch die Ruth sich zu einer Heirat entschließen könnte, aber ach, als eigene Mutter weiß ich mich nicht mehr in ihr zurechtzufinden! Dickerchen, rücke doch nicht so viel auf dem Stuhl hin und her; ich lasse dich doch nicht fort – ich habe noch so viel auf dem Herzen! Was hältst du denn von der Ruth und ihrem plötzlichen Glaubenswechsel?«

Emich zog die Schultern hoch.

»Tantchen, wahrhaftig, ich weiß es nicht!... Es ist geschehen – was sollen wir noch weiter darüber verhandeln?!«

Die Gräfin nickte lebhaft. »Ja, ja, du hast schon recht. An sich – an sich ist es ja gar nicht so schlimm. Ich meine das so aus meinem katholischen Herzen heraus, das sich ja auch bei dir nicht verleugnen wird, und deshalb denke ich, du wirst mich verstehen. Das Drum und Dran beklage ich natürlich auf das tiefste, und wenn ich Rietzow einmal begegnen sollte, tue ich so, als ob ich ihn nicht kenne. Aber ich spreche jetzt nur von der vollzogenen Tatsache. Sage einmal, Emich: glaubst du an erbliche Belastung?«

Das war eine unerwartete Frage, die Emich ein wenig aus der Fassung brachte.

»Wieso, Tantchen? Ich denke mir, darüber kann dir ein Arzt bessere Auskunft geben als ich.«

»Ist richtig, Emich. Ich habe auch schon mit unserm alten Heuer darüber gesprochen. Der meinte, es käme darauf an, wobei man sich nun freilich gar nichts denken kann. Das gute Blut wäre immer die Hauptsache... Du guckst mich so erstaunt an, und ich kann dir das am Ende gar nicht einmal verdenken. Aber du weißt doch, daß es immer ein Lieblingsgedanke von mir gewesen ist, dich ganz als meinen Sohn betrachten zu können – und da nun auch keine konfessionellen Bedenken mehr vorwalten –«

Emich hatte sich mit einem Ruck erhoben.

»Ich bitte dich, Tante, hör' auf«, sagte er ernst. »Das, was du da planst, ist unmöglich. Frag' nicht, weshalb: es ist unmöglich, wiederhole ich dir. Und dies ›unmöglich‹ würde auch, soviel ich weiß, dem Sinne des Onkel August entsprochen haben.«

»Emich, doch nur, weil der gute Selige sich in seine Vererbungsangst verrannt hatte! Und doch nur, weil er für seine Tochter keine gemischte Ehe wünschte! Und schließlich auch – mein Gott, er litt doch nun einmal an einer gewissen krankhaften Antipathie gegen alles, was Schöningh heißt!...«

Emich war mit finsterem Gesicht vor der Gräfin stehengeblieben.

»Tante,« sagte er in bittendem Tone, »laß uns nie – nie wieder dies unfruchtbare Thema berühren! Läge auch alles noch so glatt und eben, gäbe es keinerlei äußere Hindernisse mehr, gleich welcher Art – Ruth würde mich doch niemals heiraten!...«

Nun war auch die Gräfin aufgestanden, Sorge und Angst in der Miene, mit forschendem Auge im Antlitz Emichs lesend.

»Emich – du verschweigst mir etwas«, sagte sie. »Du hast dich bereits mit Ruth ausgesprochen... Du weißt, daß sie – – großer Gott, sie liebt doch nicht etwa den unglückseligen Rietzow?!«

»Nein, Tante. Wenigstens weiß ich nichts davon. Und wäre es so – eine Ehe dieser beiden wäre nach Lage der Sache doch ausgeschlossen. Ich weiß nichts – nur das eine: daß Ruth mich – nicht liebt!... Tantchen, laß Zeit vergehen! Laß uns alle zur Ruhe kommen! Dich selbst und Ruth und auch mich... Ich habe mir fest vorgenommen, mich in den nächsten Monaten nicht in Stenzig zu zeigen. Oder doch nur, wenn du dringend meiner bedarfst. Aber ich glaube, das wird nicht nötig sein. Die Wirtschaft ist so tadellos im Zuge, daß sie von selber geht. Übrigens hast du den Onkel oft genug vertreten, wenn ihn der parlamentarische Dienst nach Berlin rief... Glaubt mir, es ist besser für uns alle, wenn ich euch einige Zeit fernbleibe. Um deinetwillen wird es mir schwer – aber es geht nicht anders. Es muß sein...«

Die Gräfin war wieder in den Sessel gesunken und weinte von neuem.

»O Gott, Emich,« schluchzte sie, »nun verstehe ich! Ruth hat auch dich abgewiesen – das ist mein größter Schmerz! Gibt es denn kein Glück mehr für mich auf der Welt?!...«

Emich nahm ihre Hand und küßte sie schweigend. Sein Herz war bewegt und gerührt, denn er liebte die Tante, als sei sie seine Mutter. Aber um seiner selbst willen mußte er hart sein.

Er benützte den Winter, seine Studien in der illyrischen Sprache fortzusetzen. Er hatte sich vorgenommen, im nächsten Jahre sein Versprechen auszuführen und die Freunde in Garica zu besuchen. Seesenheim machte ihm freilich noch mancherlei Sorgen, doch der alte Settegast war ein tüchtiger Verwalter, der auf Ordnung hielt; wenn das Gut auch noch keine Erträge abwarf, so ließen sich unter der energischen Bewirtschaftung des Inspektors die Fortschritte der Kultur doch aus den Rechnungsabschlüssen erkennen.

Im Januar trat ein Geschehnis ein, das Emich in große Erregung versetzte. Durch Vermittlung der amerikanischen Gesandtschaft in Berlin erhielt er die Nachricht, daß sein Onkel Hans-Carl – jener tolle Hans-Carl, der bei Abschluß seiner europäischen Karriere den Namen eines Freiherrn von Griesbergen angenommen hatte – verstorben sei und ihn zu seinem Universalerben ernannt habe. Emich wurde ersucht, nach Berlin zu kommen und persönlich Einsicht in die Papiere zu nehmen, die der Gesandtschaft von Louisville aus zugeschickt worden seien.

Anfänglich hatte Emich an keine bedeutendere Erbschaft geglaubt. Er entsann sich allerdings, daß Tante Irmela ihm gelegentlich einmal erzählt hatte, der Onkel Hans-Carl sei drüben in Kentucky Bergwerksbesitzer oder dergleichen geworden und habe eine reiche Frau geheiratet – »Ermyntrud Leslie, Tochter des Francis Leslie und seiner Gemahlin Kate, geborenen Schultze«, so stand im Gothaer. Aber das Renommee, das Hans-Carl in Europa und insonderheit bei seiner Familie hinterlassen hatte, schien dennoch die Möglichkeit auszuschließen, daß er auch einmal als reicher Mann sterben würde. So faßte Emich denn diese kentuckysche Erbschaft zunächst als eine Art schillernder Seifenblase auf und ließ sich von den Kameraden gutmütig als neuer »Goldonkel« necken.

Um so erstaunter war er – ein Erstaunen, das in seiner Wirkung fast einem heftigen Schrecken glich –, als er auf der Gesandtschaft erfuhr, daß Hans-Carl von Griesbergen ein ungeheures Vermögen hinterlassen hatte. Es handelte sich nicht nur um einen Barbesitz von gegen vier Millionen Dollars, sondern vor allem um ausgedehnte Farmen, die in den besten und fruchtbarsten Landstrichen Kentuckys gelegen waren, den Alluvionen am Ohio River, seiner um umfangreiche Steinkohlengruben, Salpeterlager und Marmorbrüche, also um agrarische und industrielle Anlagen, die abermals einen Wert von vielen Millionen repräsentierten. Die Erbschaft selbst war unanfechtbar. Hans-Carl war ohne direkten Leibeserben verstorben und hatte seinen Gesamtbesitz testamentarisch seinem Bruder Erich vermacht, dessen einziger Erbe wiederum Emich war.

Emich war von diesem unerhörten Glücksfall so benommen, daß er stundenlang in einer Weinstube vor einem Schoppen Mosel saß und vor sich hinbrütete. Fortuna hatte ihn von einem Tage zum andern zum Millionär gemacht. Er war nicht mehr das arme Prinzlein ohne Säckel und Ar; er konnte tatsächlich im Golde wühlen, und das Gold gehört in unserer Zeit zu den Mitteln zur Macht. Mit diesem Golde ließ sich herrschen, ließ sich wahrhaft Herr sein!...

Emich schauerte leicht zusammen; seine Stirn wurde finster. Er ärgerte sich, daß er sich so häufig auf der fixen Idee des Herrschenwollens ertappte. Seit Ruth ihm im Kleegrün unter der Königseiche höhnend zugerufen hatte: ›Prinzlein, was bietest du mir?! Ein Krönchen – kein Reich! Ich aber will Herrin sein – oder nichts!‹... seitdem hatte er den Widerklang jener Worte oft, o wie oft in seiner Seele vernommen... Er rieb sich die Augen und reckte sich. Was sollte werden, wenn die Millionen Hans-Carls erst in seiner Hand waren? Alle Sorgen um Seesenheim waren dann von ihm genommen; er konnte sein Besitztum vergrößern und es einer glänzenden Zukunft entgegenfühlen; er konnte –

Nun sprang er auf. Es war töricht, sich in allerhand Perspektiven zu verlieren. Auch dies Ererbte mußte erworben werden, denn nur auf dem Erworbenen ließ sich Herr sein. Er trank sein Glas aus, zahlte und ging. Man hatte ihm aus auf der Gesandtschaft einen Rechtsanwalt, Doktor Zwerner, empfohlen, der in amerikanischen Rechtsverhältnissen sonderlich gut Bescheid wußte. Zu ihm fuhr Emich, um ihm die Erhebung der Erbschaft zu übertragen. Außerdem hatte er beschlossen, sich an Mac Lewleß wegen des Verkaufs der Territorien und industriellen Anlagen zu wenden. Gerald weilte in Tenessee auf der Farm eines Freundes, die an der Südgrenze Kentuckys lag. Es war nicht zu bezweifeln, daß er der Bitte des Freundes willfahren würde, und in bessere Hände als in die seinen konnte Emich, davon war er überzeugt, seine Angelegenheiten nicht legen. – Als Emich nach Klempin zurückgekehrt, fand er nach langer Zeit wieder einmal einen Brief von Maffeo Beresco aus Garica vor. Maffeo schrieb:

»Mein lieber Emich!

Es kriselt bei uns. Eigentlich kriselt es immer, und die kurze Spanne Zeit anhaltenden Friedens nach der Thronbesteigung des Fürsten Leopold war schier zum Verwundern. Aber um des Fürsten willen bedauere ich die neuerliche Zuspitzung der Verhältnisse. Es handelt sich um Finanzfragen: um die Verstärkung der Befestigungswerke von Garica und die Schaffung von einigen neuen Regimentern, um einen Kanalbau zu militärischen Zwecken und derlei andere Notwendigkeiten, für die unsere Opposition keine Gelder bewilligen will. Ich sagte Notwendigkeiten, denn als solche hat sie die Regierung anerkannt. Im nachbarlichen Suevenreiche ist man nämlich einer Grenzstreitigkeit wegen der Abwechslung halber wieder einmal schlecht auf uns zu sprechen, und bei dem etwas hitzigen Temperament König Michaels muß der Möglichkeit eines unvermuteten Angriffs vorgebeugt werden. Aber alles das kannst du auch in den Zeitungen lesen. Was dich mehr interessieren dürfte, ist die Tatsache, daß Monsieur de Polzien wirklich mit deinem davongeprügelten ehemaligen Inspektor identisch ist. Er hat, um in seinen Schmähungen gegen die Familie Schöningh auch den Fürsten zu treffen, in seinem Journal ›Der Volksfreund‹ die tollsten Lügen über die schmachvolle Behandlung erzählt, der er durch dich ausgesetzt worden sei. Preßprozesse gegen den Burschen helfen nichts mehr; jede Verurteilung verstärkt seine Beliebtheit bei der Opposition.

Die Berescos haben selbst an die hundert Jahre zur Opposition gezählt – nun aber macht sie den Berescos Sorgen. Rußland hat mit den Sueven Fühlung genommen, und unsere ganze Opposition hat einen suevisch-russischen Anstrich. Das ist insofern schlimm, als dadurch unsere Unabhängigkeitspläne stark ins Wanken kommen. Übrigens hat auch der Fürst eine große Dummheit gemacht. Er brauchte Geld und wandte sich, statt nach Petersburg, an die Ottomanische Bank; das verschnupfte an der Newa. Es ist greulich, mit welchen Ärgernissen man zu kämpfen hat. Der Finanzminister Sowojeß ist ein persönlicher Gegner meines Vaters und hat den Fürsten völlig in der Hand. Der Fürst selbst aber leidet an chronischer Geldverlegenheit – trotzdem eine erhebliche Erhöhung seiner Zivilliste durchgesetzt werden konnte. Das hat schon vor Jahresfrist böses Blut gemacht, und der große Pump in Konstantinopel hat die Gemüter natürlich noch mehr erregt. Der Fürst tändelt über alle diese Sorgen lustig fort. Er ist glücklich darüber, daß er in diesem Winter eine italienische Oper nach Garica bekommen hat – und der Star dieser Oper, eine Neapolitanerin, die schöne Dina Marconi, hat Eintritt zum Schlosse. Allerdings immer hinten herum; unsere Witzblätter haben eine besondere Bezeichnung für diesen ›Liebespfad‹ gefunden. Schade nur, daß die Marconi zu den Unersättlichen gehört und eine übertriebene Vorliebe für Brillanten hat... Der Fürst soll also nun verheiratet werden. In Petersburg hat man ihm bereits eine niedliche kleine Prinzessin reserviert. Aber mein Vater hat andere Absichten: er zieht Wien vor...

Man kann dem Fürsten Leopold gar nicht gram sein. Er ist eine so sonnige, glücklich heitere Natur, daß man ihn liebhaben muß. Und es ist merkwürdig genug: wo er sich zeigt, jubelt man ihm entgegen. Unser Volk ist ein großes Kind und der Fürst seine Lieblingspuppe. Aber Volk und Parlament sind auch hier zweierlei. Dieser Polzien hat sich binnen kurzem eine erstaunliche Beachtung zu verschaffen verstanden. Er ist ein kluger Kopf und ein Satan...

Saß macht sich gut. Daß mein Vater ihn nicht direkt als Offizier einstellen ließ, weißt du. Aber Saß ist rasch avanciert und heute Adjutant des Generals Koskul, Kommandeurs der Garde-Division. Man sagt, Mita Koskul, das Töchterchen des Generals, sei bis über die Ohrläppchen in ihn verschossen und angle nach ihm. Was die Hauptsache ist: Saß scheint in der Tat vernünftig geworden zu sein. Er haßt die Karten und behauptet, auch die Weiber zu hassen. Letzteres glaube ich jedoch nicht...

Pfui, Emich, daß du dein Wort nicht hältst! Pfui, Emich, daß du unsern Sricoccio vergessen hast! Besuchst du uns nicht im nächsten Jahre, so fluche ich dir. Emich, ich bitte dich, komm einmal nach Garica!« – – –


Am Tage nach dem Empfang dieses Briefes las Emich zu seinem Entsetzen das folgende Telegramm in der Zeitung:

»Garica, 11. Februar. Fürst Leopold ist gestern abend ermordet worden. Um 6 Uhr fand in der Kathedrale ein Hochamt zur Feier der hundertjährigen Wiederkehr des Sieges von Acabane über die Sueven statt. Als der Fürst beim Verlassen der Kirche in seinen Wagen steigen wollte, drängte sich ein gutgekleideter Mann mit einer Bittschrift in der Hand an ihn heran. Die Umgebung des Fürsten wollte ihn zurückweisen; Fürst Leopold befahl jedoch, den Mann durchzulassen und nahm ihm die Bittschrift ab. In diesem Augenblick zog der Fremde blitzschnell einen Revolver und feuerte ihn auf den Fürsten ab. Der Fürst brach zusammen und starb in den Armen des ihn auffangenden Premierministers Marquis Beresco; die Kugel hatte das Herz getroffen. Mit einer zweiten Kugel zerschmetterte sich der Attentäter den Kopf. Er heißt Dimitri Rujula und steht, wie man hört, mit keiner der politischen Parteien des Landes in Verbindung. Allem Anschein nach handelt es sich um das Attentat eines Irrsinnigen. Trotzdem ließ der Premierminister den Belagerungszustand über Garica verhängen. Der Ministerrat war bis nach Mitternacht beisammen. In allen Kirchen wurden Messen gelesen. Das Volk zeigt tiefe Trauer.«


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