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... Auf den flachen Kuppen, die die Talmulde von Valenta umgaben, hatten sich die Illyrier verschanzt und erwarteten die suevische Armee. Es war Anfang März, und der Frühling zog schon über die Berge, hatte den Schnee zum Schmelzen gebracht und trieb die Wasser der Sareb in langen, schäumenden Wogen durch die Ebene. Bei Valenta teilte sich der Fluß und bildete eine kleine bewaldete Insel; das Dorf lag ihr gegenüber am Rande ausgedehnter Moor- und Sumpfstrecken, welche die illyrische Position schützten.
Der Marquis Veresco hatte mit seiner Prophezeiung recht gehabt. Ehe General Koskull seine Mobilisierung beenden konnte, hatte die suevische Armee bereits die illyrische Grenze erreicht und rückte in Eilmärschen gegen Garica vor. Aber auch Fürst Emic war seines Generalstabs sicher. Auf eine suevische Invasion war man vorbereitet und der Plan, wie einer solchen am zweckmäßigsten zu begegnen sei, längst entworfen. Die beiden Festungen an der unteren Sareb hielten den Vormarsch des Feindes auf; ein paar kräftige Ausfälle splitterten die Linie des Heeres in drei Teile. König Michael, der die Oberleitung seiner Armee übernommen hatte, mußte sich zu einer langen und zeitraubenden Umgehung des Festungsterrains entschließen, um seine Truppen wieder zusammenziehen zu können. Inzwischen war es General Koskull möglich geworden, den Aufmarsch des illyrischen Heeres zu vollenden. Die Hauptarmee, das mittlere Korps, befehligte Fürst Emic selbst. Er nahm hinter den Schanzen von Valenta in überaus günstiger Position Aufstellung, während die in der Hauptsache aus Kavallerie bestehenden beiden anderen Korps im Osten und Westen die Flanken der Mitte zu decken hatten. Diese Korps, von den Generälen Berger und Dimitrowicz kommandiert, lieferten in leichter Plänklerarbeit den Sueven die ersten Gefechte. Abermals zeigte sich hier die Überlegenheit der illyrischen Taktik. Die Generalstabskarten der Sueven erwiesen sich als mangelhaft. Zwei Bataillone suevischer Scharfschützen und ein Artillerieregiment gerieten infolge der Unzuverlässigkeit der den Führern mitgegebenen Karten in den Engpaß von Silvnitza und wurden dort völlig zerrieben.
Im großen Europa erregte der illyrisch-suevische Feldzug wenig Interesse. Bismarck sprach im Deutschen Reichstage sein berühmtes Wort von »dem bißchen Illyrien« und meinte bei Gelegenheit eines parlamentarischen Frühschoppens: wenn der »Leutnant Schöningh« da unten seine Pflicht tue, sei es unrecht, ihn daran hindern zu wollen. Mit um so größerer Spannung verfolgte man in den Balkanstaaten die Entwicklung dieser Kampagne. Feinde besaß das junge Fürstentum Illyrien ringsum; aber diese Feinde hüteten sich, in die Aktion einzugreifen, ehe es möglich war, die Entscheidung zu überblicken. Und gönnte man auf der einen Seite Illyrien auch eine gehörige Schlappe, so war man andererseits des russischen Einflusses müde und verhehlte sich nicht, daß dieser durch den Sieg Illyriens sehr leicht ins Wanken kommen könne. Aber auch Rußland stand schon auf der Lauer, im geeigneten Augenblick einzugreifen. Von Beginn des Feldzuges ab weilte der Staatsrat von Polzien in strengstem Inkognito in Petersburg. Auf die Entwicklung des Krieges hatte er keinen Einfluß. Erst später erfuhr man, daß dieser genaue Kenner Illyriens die Niederlage des suevischen Heeres ahnte und daß er gerade im Siege Illyriens den Triumph seiner Sache sah – wie man heute auch weiß, daß damals schon das verhängnisvolle Gegenspiel des alten Veresco begann.
Im Dorfe Valenta, dessen ärmliche Lehmhütten sich an die Hänge der Kuppen anlehnten, herrschte das bewegte Leben eines Feldlagers. Die Truppen kampierten teilweise auf den Straßen; hier flammten die Kochfeuer, über denen riesige Kessel hingen. Marketender zogen umher, Zigeuner boten gestohlene Hühner und Gänse zum Kauf an; Geschrei und Gelächter scholl durch die Gassen, dazwischen auch die Töne der Trommelflöte und der mandolinenartigen Gusla. In der Rundung eines Torwegs spielten ein paar Soldaten auf einem leeren Sliwowitzfaß Karten, und durch die weit geöffneten Türen der kleinen Schenke sah man, daß drinnen ein Schwarm Heiducken mit drallen Mädeln den Stratpotka tanzte, während ein zerlumpter Walache dazu den Dudelsack blies.
Oben auf den Anhöhen lugten über die Schanzendeckung die Eisenstücke der illyrischen Artillerie. In der Ebene dahinter lagerte die Hauptarmee in Erwartung des Feindes. Hier befand sich auch, zwischen vier alten verkrüppelten Weiden, das Zelt des Oberstkommandierenden.
Der Fürst stand vor einem Tische, auf dem eine große Karte lag, über die er sich im Augenblick tief geneigt hatte, um den ihn umgebenden höheren Offizieren die Route zu erläutern, die seiner Vermutung nach die feindliche Armee allein einschlagen konnte.
»Sehen Sie hier, meine Herren,« sagte er, »das ist der Weg Bergers. Berger hat die im Defilee von Silvnitza geschlagenen Truppen vollkommen zerstreut; sie irren im Gebirge umher. Eine Verfolgung würde zu viel Zeit erfordern, die Berger nötiger brauchte; denn er soll den Pelim-See umgehen, um sich hinter dem Rücken der feindlichen Armee mit dem Korps Dimitrowicz zu vereinigen. Von Dimitrowicz fehlen noch die Depeschen. Seine Aufgabe ist, sich zwischen das Gros und die Reserven König Michaels zu schieben und durch geschickte Bewegungen die letzteren so nahe an Bergers Korps heranzudrängen, daß sie vom Gros abgeschnitten werden müssen.«
Eine eintretende Ordonnanz unterbrach den Vortrag des Fürsten. Der Kurierdienst war ausgezeichnet geregelt; eine große Anzahl Stafetten traf täglich im Hauptquartier ein und erleichterte die Aufklärung.
Emich riß das Kuvert auseinander, das die Ordonnanz ihm reichte.
»Sieh da, – das ist wichtig! ... Messieurs, es kann noch in der Nacht zum Tanze kommen. Die Spione von drüben sind unzuverlässige Leute; wir bieten ihnen ein paar Dukaten mehr, und da kommen sie lieber zu uns. Also, meine Herren, die Avantgarde der Sueven steht drei Meilen vor uns, und noch ahnt man drüben nichts von unserer Aufstellung. Man weiß nur, daß wir die Defensive beibehalten wollen. Jawohl« – und er lachte heiter auf – »beibehalten, aber nur solange es uns beliebt! ... Was gibt es, Mac Lewleß?«
Der Major war in das Zelt getreten.
»Durchlaucht vergeben, wenn ich störe: die dritte Sanitätskolonne ist eingetroffen, zugleich mit dem Wagenzug der freiwilligen Krankenpflege« –
»Das ist Sache des Obersten Dwernicki –«
»Sehr wohl, Durchlaucht, – aber bei der dritten Kolonne befindet sich auch eine Dame, die« – das Gesicht des Majors färbte sich mit heißer Röte – »untertänigst um kurze Audienz bitten läßt.«
Der Fürst wurde ungeduldig.
»O Himmel, nur keine Damen im Feldlager!« rief er. »Eine Pflegerin aus der Aristokratie? Vielleicht Mitra Sassenhausen – es sähe ihr ähnlich –«
»Nein, Durchlaucht, – es ist die Komtesse Wiegel«, antwortete Mac Lewleß ruhig.
Emich trat einen Schritt zurück; auch sein Antlitz rötete sich.
»Ruth, Gerald?! – Ruth?!... Versteh' ich dich recht? Ruth Wiegel hier?!«
»Komtesse Ruth, Durchlaucht«, bestätigte Mac Lewleß. »Ich habe sie selbst gesprochen. Sie ist unmittelbar nach Beginn des Feldzuges von Breslau abgereist, hat in Bukarest ganze Wagenladungen von Verbandstoffen erworben und über die Grenze geschafft und hofft, daß Sie ihr verstatten werden, sich unsrer Krankenpflege zu widmen.«
Emich schüttelte noch immer den Kopf.
»Das ist Ruth – ganz Ruth!... Selbstverständlich, daß ich sie empfangen muß. Es ist jetzt drei Uhr; bitte sie, sich um vier in meinem Zelt einzufinden. Und sorge für ihre Unterkunft. Oberst Dwernicki soll sich ihrer besonders annehmen.«
Er wandte sich wieder an den Kartentisch und an seine Offiziere zurück. – –
Am Nachmittag begann es neblig zu werden. Aus der Sareb stiegen graue Schatten auf, und über die schwarzbraunen Sumpfstrecken mit ihren grünlich schillernden Lachen und Kanälen huschte und flatterte es, ein ganzes Heer von Nachtgespenstern, das sich ausbreitete und ein großes Schleiertuch über die Landschaft deckte. Im Dorfe war der Lärm verstummt – das fröhliche Lagerbild wie fortgewischt von der Erde. Ein Armeebefehl hatte tiefste Stille angeordnet. Cymbal und Gusla und Trommelflöte erklangen nicht mehr, kein frohes Gelächter, Schimpfen und Fluchen und Schreien – – es war, als schritte der stumme Tod im Nebel daher und rührte mit eisiger Hand an allem Lebendigen.
Ein düsteres Bild. Im grauen Gebräu nur ein schattenhaftes Hin und Her. Dann und wann ein gedämpftes Kommando, leises Waffenklirren, oder aus der Höhe der mißtönige Kreischlaut eines über den Sumpf streichenden Reihers.
Auf dem großen Tische im Fürstenzelt standen ein paar primitive Leuchter mit brennenden Kerzen. Sie erhellten wenig. Es war ein unruhiges, flackerndes Licht, das den Augen Ruths weh tat und über ihr Gesicht rasch aufzuckende und wieder verwehende gelbe Reflexe warf.
Es war noch immer dasselbe schöne, stolze und vornehme Antlitz, das Emich bei seinem Abschiede von Klempin zum letzten Male gesehen hatte. Ernster geworden und reifer und frauenhafter, gleich der ganzen Erscheinung, die etwas wie Weltflucht und klösterliche Einsamkeit auszuströmen schien, ein Hauch stiller und demütiger und doch nicht unfroher Resignation.
Sie saß auf einem Feldsessel dem Fürsten gegenüber. Er mußte sie immer wieder betrachten; – das braune Haar, das sonst in freiem Gelock ihre Stirn umspielt hatte und sich nun in schlichter Scheitelung unter der großen Flügelhaube hervordrängte – die glänzenden Augen, die mit freundlichem Ernst zu ihm hinüberschauten – die köstliche Gestalt, von dem dunklen Gewand der Entsagung umschlossen, dem nur eins zum Schmucke diente: das weiße Malteserkreuz auf der Brust. ... »Daß ich dich noch einmal in Illyrien wiedersehen würde, Ruth,« sagte der Fürst, »hätte ich mir niemals träumen lassen. Aber ich freue mich von Herzen, daß du den Entschluß gefaßt hast, uns in der Pflege unsrer Verwundeten hilfreiche Dienste zu leisten – und ich danke dir auch dafür.«
»Danke nicht, Emich«, entgegnete sie; »es ist mir eine liebe Pflicht – und auch mehr, ich gesteh' es dir zu. Ich bedurfte des Herausreißens aus einer Tätigkeit, die auf die Seele wie lindernder Balsam wirkt, in ihrer Eintönigkeit aber doch auch wieder zur Ermüdung führt ... Mißversteh mich nicht, Emich«, fuhr sie unter raschem Erröten fort, als sie sah, daß der Fürst mit einer Bewegung freudigen Staunens den Kopf erhob; »ich sehne mich nicht etwa wieder nach den Freuden der Welt zurück, denen gegenüber ich mich schon in meiner Mädchenzeit ziemlich passiv verhalten habe – o nein! – ich bedurfte nur einer äußeren Abwechslung, sagen wir einer Nervenerfrischung, und die hat mir bereits die Reise hierher geboten.«
»Ich begreife, Ruth – aber ich fürchte, daß die Entbehrungen der Kampagne zu deiner Erholung nicht gerade beitragen werden.«
»Erholung – – wer spricht davon! Ich bin ja doch nur glücklich in der Arbeit. Nein, du verstehst mich immer noch nicht. Du – aber lassen wir das! Ich werde auch hier meine Pflicht tun wie daheim; du sollst zufrieden mit mir sein ... Emich, ich habe mir in Garica eine kurze Audienz bei der Fürstin erbeten. Nun weiß ich, daß du sehr glücklich bist. Du mußt es ja sein. Darf ich deine Frau auch lieb haben?«
»O Ruth – wie sprichst du! Hat Marie dir nicht gesagt, wie viel und wie oft ich von dir erzähle?«
»Ja, Emich – und meine Mutter hat mir auch von ihr so lebendige Schilderungen entworfen, daß ich – wahrhaftig, daß ich begierig war, sie kennenzulernen ... Solch kleines, süßes, rosiges Geschöpfchen allein konntest du lieben. Im tiefsten Kern deines Wesens lag doch immer das Frohe und Heitere, das deinem Empfinden Stimmung gab. So ist alles ausgeglichen, was zwieträchtig war, und gottlob, wenigstens einer von uns vieren hat zur Höhe gefunden ...«
Es war sehr still, nicht einmal der Schritt der Schildwache draußen zu vernehmen. – Emich konnte jedes Wort Ruths verstehen, obwohl sie fast flüsternd sprach.
»Von uns vieren?« wiederholte er fragend.
Sie nickte. »Du, ich, Rietzow und Mac Lewleß.«
»Wo ist Rietzow?«
»Auf Reisen. Und er wird nicht wieder zurückkehren. Er kam zu mir nach Breslau und bot mir seine Hand an. Ich sagte nein und lachte. Mein Lachen ließ ihn erbleichen. Vier Wochen später verkaufte er seine Kottauer Herrschaft und reiste nach Japan ...«
Emich suchte in den Zügen Ruths nach dem Reflex einer Seelenregung. Aber dies schöne Sphinxgesicht war ruhig und gleichmäßig geblieben.
»Und Gerald?« fragte Emich. »Du, hast Mac Lewleß gesprochen? Wie fandest du ihn?«
Jetzt erst schien es dem Fürsten, als blitze es im Auge Ruths auf: ein warmer Strahl, der den Nebel zu verscheuchen schien. Und dann hob sie mit sanfter Bewegung die linke Hand, strich über das Kreuz auf ihrer Brust, neigte den Kopf ein wenig und, sagte gleichgültig:
»O, ich finde, er sieht trefflich aus ...« Nichts weiter. Sie reichte dem Fürsten die Hand. »Ich will zu meinen Leuten zurück, Emich. Es gibt noch viel zu schaffen. Ich höre, ein Kampf steht bevor.« Sie drückte fest seine Rechte. »Mein Gebet wird bei den Euren sein ...«
Draußen promenierten, leise plaudernd, ein paar Offiziere im Nebel auf und ab.
»Oberst Dwernicki!« rief der Fürst hinaus. Der Gerufene sprang herbei.
»Haben Sie die Güte, die Gräfin Wiegel zu ihrer Kolonne zurück zu geleiten.«
Der Oberst verneigte sich und reichte Ruth den Arm.
Emich trat wieder in das Zelt und schlug die Leinwand zu dem Nebengelaß auseinander. Dort saß Mac Lewleß vor einem roh gezimmerten Tische und hatte den Kopf auf die Arme gelegt.
»Hast du unsre Unterredung gehört, Gerald?«
Mac Lewleß erhob sich langsam. »Jedes Wort, Emich; du hattest mir befohlen hierzubleiben, und die Zeltwand ist keine Mauer. Ich mußte euch hören. Aber es hat mir wehe getan. Wenn sie spricht, bäumt sich mein Herz.«
»Also alles wie früher, Gerald?«
»Wie sollte es anders sein! Ich bin keine Natur, die sich modelt. Ich kann vergessen, doch nicht verschmerzen.«
Der Fürst schlang seinen Arm um die Schulter des Freundes.
»Gerald, hör' zu. Erschrick nicht und jauchze nicht. Was ich dir sage, ist keine Gewißheit, sondern nur ein unbestimmtes Ahnen ... Sie kam hierher – um deinetwillen!«
Als habe Mac Lewleß ein Faustschlag getroffen, so zuckte er zusammen, mit großen Augen Emich anstarrend, kalkig im Gesicht. Und im Ungestüm leidenschaftlich erwachender Hoffnung warf er sich an des Fürsten Brust.
Ein Klirren vor dem Zelteingang ... Der Fürst riß die Leinwand zurück und trat hastig in den vorderen Raum. Sassenhausen stand salutierend, in beschmutzter Uniform und anscheinend zu Tode erschöpft, vor ihm.
»Durchlaucht, melde ganz gehorsamst, daß die Patrouille geglückt ist. Die Vereinigung der Korps Berger und Dimitrowicz hat stattgefunden; die Reserven des Feindes sind nach den Rhodogasbergen zurückgedrängt worden. Der Nebel ist uns günstig. Das Gros der Sueven hat kaum eine Meile von hier, unweit des Marktfleckens Jübaschi, Lager bezogen und ahnt nichts von unsrer Stellung. Nichts, nichts, Durchlaucht – wie eine Hammelherde laufen die Kerle in ihr Verderben – – Verzeihung!«, und er schlug sich auf den Mund.
Der Fürst lachte. »Ich verzeihe ... O du segensreicher Nebel – halt aus bis zum Frührot – und dann mag uns die Sonne leuchten!... Saß, du siehst toll aus!«
»Durchlaucht – elf Stunden zu Pferde –«
»Trink!...« Emich reichte dem Patrouillenoffizier den auf dem Tische stehenden gefüllten Feldbecher.
»Gehorsamsten Dank. Auf Euer Durchlaucht Wohl –«
»Und auf das deiner Mitra!... Saß, jetzt mag sie an dich denken. Hast heiße Sehnsucht im Herzen – ich glaub's... Ach, mein Junge, es geht dir wie mir!...«
Ein Hahn krähte ... Im Röhricht am Moor erwachte das Leben: Zirpen, Schreilaute, Hämmern und Zwitschern. Ein Schwarm Trappen strich auf ... Noch immer hingen die Nebelschleppen dicht über der Erde. Aber sie waren nicht mehr grau. Ein flimmerndes Licht schoß in sie hinein, eine rote Lohe: der erste Gruß des neuen Tages.
An der vordersten Linienreihe der Trancheen hörte man das Knattern einer Flintensalve, – ein paar kurze Anrufe – dann wieder das Kommando »Feuer!« und abermals knatterndes Gewehrfeuer. Das ging rasch vorüber. Zu sehen war in den roten Dünsten, die schwer und dick über die Erde strichen, so wenig wie zuvor.
Ein kleiner Schwarm Reiter, suevische Aufklärer, die das Gelände sondieren wollten, jagte in rasender Karriere nach der Vorhut der Armee zurück. König Michael schlief noch, aber er wurde unsanft geweckt. Bei Valenta hatte sich der Feind verschanzt! Wo?! Bei Valenta! – König Michael, in Unterhosen und noch ach, wie verschlafen, ließ sich von seinem Adjutanten die Karte unter die Nase halten. Valenta – da lag's! Heilige Panagria, da hatte man ja den Feind dicht auf dem Leibe! Und wußte nichts davon ... König Michael brüllte, daß die Zeltwände zitterten. Den Kommandeur der Avantgarde! Den Chef des Generalstabs! »Lümmel, geb' Er mir meine Hosen!« Dies galt dem Kammerdiener ... Das Zelt füllte sich mit glitzernden Uniformen, während sich der König einen Eimer Wasser über den kurzgeschorenen dicken Kopf gießen ließ. Dabei brüllte er immer noch. Warum wußte man nichts von den Positionen des Feindes? Warum stand man wie ein Ochse vorm Scheunentor? – Der König liebte kräftige Ausdrücke ... Allgemeines Achselzucken: der Nebel allein trug die Schuld, nur der Nebel, der verdammte Nebel. Aber man mußte hindurch durch den Nebel, in Stücke mußte man ihn hauen – man mußte wissen, was sich alles hinter den Verschanzungen der Illyrier barg! Himmeldonnerwetter, warum umging man die Positionen nicht?! Unmöglich: ostwärts riesige Sumpfstrecken, im Westen die Sareb mit ihren gesprengten Brücken ... Neues Gefluche: dieser verdammte Nebel! Dann eine kurze, inhaltsschwere Generalstabssitzung ... Die Sonne wollte nicht Herrin des Nebels werden. Sie lugte schon über den Horizont und sandte goldene Pfeile in das dichte Gebräu hinein, das sie purpurn färbte, das aber immer noch Moor, Tal und Heide füllte, eine glühende Wolkenschicht. Und durch diese rosige Lohe galoppierte ein Kavallerieregiment: König Michaels Leibpanduren sollten die Bresche legen. Sie wußten, es war ein Todesritt. Allen voran ein stattlicher Offizier, mit dem blanken Stahl geradeaus weisend – die Schenkel heran und nicht die Sporen geschont – vorwärts in der Karriere – »Zivio! Zivio! ...«
Der erste Anprall ist so furchtbar, daß die Postenkette der Illyrier über den Haufen geworfen wird. Aber nun gellen die Hörner und die Trommeln rasseln Alarm. Musketenfeuer von allen Seiten, ein unaufhörliches Knattern, dazwischen der dröhnende Einschlag der großen Eisenstücke. Verderben ergießt sich auf das prachtvolle Pandurenregiment; unter dem Speien der Geschütze sinken ganze Reihen danieder – aber die Überlebenden kämpfen mit Todesmut – ihre Säbel sausen herab – es ist ein Ringen und Würgen Mann gegen Mann. Blutleuchtend quellen und wogen die Nebelmassen. Die Sonne ist höher gestiegen. Der rote Dunst lichtet sich und fliegt gleich brennenden Schwaden empor.
König Michael hält mit seinem Hauptquartier auf einer Anhöhe, dicht unter den still hängenden breiten Flügeln einer Windmühle. Er sitzt auf einem weißen Rosse mit Muschelzäumung und Purpurschabracke und hat ein Fernrohr in der Rechten, durch das er hinabspäht in den roten Nebel. Dieser Nebel ist nicht mehr undurchsichtig. Er gleicht nur noch einem feinen Schleier, den jeder Windzug in Fetzen zerflattern lassen kann ... »Meine braven Panduren!« stöhnt König Michael, das Glas am Auge; »sie kämpfen wie die Löwen – da – sind sie nicht schon an der Kehle der mittleren Batterie?! Ich seh' ihre weißen Röcke leuchten – General Paßwan, werfen Sie die Infanterie im Sturmschritt nach! Reitende Jäger rechts und links zur Deckung ihrer Flanken! Die Illyrier schlagen Pontons über den Sumpf! Rasch, rasch, eh' ihre Operationen beendet sind! ...«
Ratatata – der Sturmmarsch dröhnt! ... Längst haben die Illyrier ihre Defensive aufgegeben. Zweifellos, dem ersten Ansturm sind sie unterlegen: die Michael-Panduren haben im Kartätschenhagel der Batterie Wunder verrichtet. Und plötzlich schweigt das Dröhnen der großen Geschütze. Aus dem Defilee von Valenta quellen, ehe noch die suevische Infanterie Zeit zur Aufstellung gewonnen hat, ungeheure Menschenströme hervor – eine glitzernde Schlange, die sich mit rasender Geschwindigkeit ausdehnt ... Vom Moor herüber schallen gelle Kommandos, rastloses Hämmern, der klingende Einschlag der Axthiebe. Über diesem lockeren, schwammigen Sumpf mit seinem grünlich schillernden Netz kleiner Kanäle wird es lebendig. Über diesen Sumpf rollen sich neue Menschenwogen, den Feind in der rechten Flanke zu fassen ... Und auch linker Hand, über den Wogen der Sareb, wachsen schwebende Brücken empor. Die Pioniere arbeiten, daß ihnen der Schweiß über die Wangen tropft. Die Koskull-Dragoner donnern über die Brücken; hinterher Kürassiere und ganze Fluten von Fußvolk.
König Michael auf seinem weißen Rosse knirscht mit den Zähnen. »Wo kommen diese illyrischen Bestien nur alle her? ...« Es ist eine bittere Täuschung. Verdammter Nebel! Man hat die ganze Armee des Feindes vor sich.
Nun hat die Sonne ihre Macht erwiesen. In blendender Pracht steht sie am blauen Himmel. Kein Nebel mehr. Über dem weiten Schlachtfeld liegt goldener Glanz ... Auf allen Seiten entspinnt sich der Kampf. Auch die illyrischen Batterien haben ihre Stellungen geändert; sie schützen den Aufmarsch an der Sareb, während vom Sumpfe aus schon die Bajonette der Leibgarde-Infanterie und des Regiments Fedor Konstantin herüberblitzen. Der Angriff gilt der rechten Flanke des Gegners ... Es ist ein mörderisches Fechten. Dem »Zivio« der Sueven schallt das »Zaó« der Illyrier entgegen und hüben wie drüben der Allahruf der eingestellten Mohammedaner. Brust liegt an Brust; in einem Knäuel menschlicher Leiber sieht man verzerrte Gesichter, geschwärzt von Pulverrauch und blutüberrieselt, glänzende Augen, aus denen die Mordlust strahlt ... Es ballt sich zusammen; über zertretene Menschenleiber stürmt das Leben, das sterben will.
Bis zum Mittag schwankt die Entscheidung hin und her; auch die Sueven sind tapfer. Aber sie sind eingekeilt in ein furchtbares Dreieck, dessen eiserne Schenkel sie fester und fester umschließen. Nur die dritte Seite, die Rückzugslinie ist noch frei. Von dorther erwartet man die Reserven. »Wo sind die Reserven?!« keucht König Michael; »Himmel und Hagel, wo stecken sie nur?!...« Ja, wo sind sie? – Von den Generälen Berger und Dimitrowicz in die Schluchten des Rhodogasgebirges hineingeworfen, und an ihrer Stelle nähern sich nun jene beiden Korps in vereinigter Kolonne dem Rücken des Feindes, um auch die letzte Seite des Dreiecks zu schließen ... Die Mittagsglut scheint die Raserei der Kämpfenden noch zu steigern ... Der Hügel, auf dem König Michael mit seiner Suite hält, wird immer mehr eingeengt von den Wogen der Schlacht. Aber der dicke König sieht es nicht oder achtet nicht darauf. Er keucht, stöhnt und flucht; seine Befehle überstürzen sich; seine an sich schon rauhe Stimme klingt nur noch wie ein Krächzen ... Diesem Hügel entgegen sprengen die Garde-Heiducken Fürst Emics. Beim Rasseln des Sturmschlags folgt ein Regiment Infanterie. Wahnsinn – will man dem König selber zu Leibe?! – Ja, man will es! Fürst Emic galoppiert an der Spitze seiner Heiducken. Er will den König fangen – und damit die Schlacht und den Krieg beenden und seinem Lande Ruhe schaffen.
Es ist keine Zeit zu verlieren. König Michael sieht die Gefahr nahen. »Die Reserven!« schreit er noch einmal auf; dann jagt er davon und setzt sich an die Tete der Tschegula-Reiter, seiner letzten intakt gebliebenen Kavallerie, deren Lanzenfähnchen wehen und deren Kürasse in die Sonne gleißen ... »Zaó! Zaó!« – Die Regimenter prallen aufeinander – ein wütendes Schlachten beginnt ... Emich pariert seinen schäumenden Gaul mitten im Kampfgewühl. Seine Hiebe sitzen; sein Stahl trieft. Aber man hat ihn erkannt. König Michael zeigt ihn seinen Panzerreitern. Gebrüll und Geheul füllen die Luft, Dröhnen und Knattern; die Sonne hat sich umdüstert, wolkengleich weht der Pulverrauch empor ... Zwei Schützer hat Emich zur Seite: Maffeo Veresco und Gerald. Sie wappnen seine Brust; ihre Klingen scheinen zu dampfen; jeder ihrer Hiebe bringt Tod.
»Hund!« schreit Maffeo auf, und sein Stahl zischt auf einen Tschegula-Reiter hernieder, der sich dicht an den Fürsten herangedrängt hat und sein Pistol auf ihn abfeuert.
Aber es ist zu spät. Auch Mac Lewleß schreit auf. Er kann nichts weiter tun, als Emich in seine Arme gleiten zu lassen. Der Fürst ist verwundet worden – eine Ohnmacht umfängt ihn.
Der Kampf braust weiter. Doch einer Insel im Strome der Schlacht gleicht jene Stelle, da der Fürst mit blutender Wunde liegt. Gerald hält Emichs Kopf im Schoße. Maffeo hat ihm die Uniform aufgerissen und versucht, das quillende Blut zu stillen. Ringsum haben die Garde-Heiducken einen eisenstarrenden Wall gebildet, an dem sich die Flut der Feinde blicht.
Der Kampf braust weiter ... Ratatata – nun auch im Süden illyrische Hörner, Sturmschlag und schmetternde Fanfaren. »Die Reserven!« jauchzt König Michael auf. Aber nein – er hat falsch gehört. Die Armeen Berger und Dimitrowicz sind es, die dem Feind in den Rücken fallen! Das eiserne Dreieck ist endlich geschlossen – die Zermalmungsarbeit beginnt.
Ein einziger Schrei des Entsetzens gellt über das Schlachtfeld. Dann eine tolle und wahnsinnige Flucht, blutig und fürchterlich.
Die Wunde Emichs war nicht schwer. Sie war verheilt, als er den Waffenstillstand unterzeichnete, den König Michael zur Einleitung der Friedensverhandlungen angeboten hatte.
Dies geschah zu Gumurdja, einem Nest an der Grenze, mitten in den Morästen der Sareb, über denen beständig Wolken von Raben kreisten. Gumurdja war eine sogenannte Freistadt, ein neutraler Flecken, der bei der Grenzregulierung von 1878 vergessen worden war, eine Republik von drei Kilometer Umfang, die einen kleinen spitzen Keil in suevisches Gebiet hineinschob. Der alte Veresco, der den Fürsten in Valenta abholte, hatte vorgeschlagen, diesen Fetzen Land den Sueven zu überlassen; man kam den Besiegten mit Klugheit entgegen und forderte an Stelle jeder Kriegsentschädigung nur eine unbedingte Anerkennung der Rechte Illyriens auf den Natschali-Paß. So wünschte es Veresco, und der Fürst erklärte sich einverstanden. Er wollte nichts als sein Recht, keine Demütigung des Gegners. Er bot König Michael die Freundeshand.
Das Hauptquartier und der persönliche Dienst waren in Valenta zurückgeblieben. Auch von der gegnerischen Seite wurde als Vertreter der Regierung nur Herr von Polzien erwartet. Diese Staatsaktion, die den Frieden auf dem Balkan wiederherstellte, sollte keine Augenweide für den Pöbel der Welt werden. Es war eine Versöhnung wie nach einem Zweikampf, und auch damit hatte der Fürst sich zufrieden gegeben, daß ein russischer Unterhändler, der General von Kaulen, als Unparteiischer fungierte. Emich wußte, daß sein Sieg den Panslawismus von neuem gereizt hatte, und wollte ihm entgegenkommen. Rußland sollte gehört werden.
Man fuhr, begleitet von Bob, dem Kammerdiener, in einem Salonwagen von Valenta nach Gumurdja. Es war eine vierstündige Eilfahrt, durch strömenden Regen, der einen rinnenden Schleier über die Fensterscheiben warf. Veresco und Emich saßen sich gegenüber, beide blaß: der eine von dem kaum überstandenen Wundfieber, der andere vielleicht von den Anstrengungen der letzten Tage, die sein hohes Alter spürte. Sie sprachen auch nicht viel miteinander. Es war alles abgemacht und alles in Ordnung, es war nichts mehr zu erledigen. Es war aber auch seltsam, daß Emich nicht froh sein konnte. Veresco hatte nach der Schlacht von Valenta darum gebeten, wieder seine alte Staatsstellung einnehmen zu dürfen, und ohne weiteres hatte Emich dem Wunsche nachgegeben. Doch er wurde das Gefühl nicht los, daß der alte Illyrier nicht mehr der alte Freund war. Irgend etwas saß, stand, schwebte zwischen ihm und seinem Kanzler. Es lebte in der Luft und füllte sie mit einer feindseligen Stimmung.
In der Dämmerstunde hielt der kleine Zug vor dem elenden Bahnhof, auf dessen Perron nur ein paar Petroleumlampen brannten. Alles war abgesperrt. Emich empfand ein starkes Unbehagen, und es legte sich auch nicht, als General von Kaulen ihn mit noch einigen russischen Offizieren in großer Unterwürfigkeit empfing und sogar deutsch anredete. Diese russischen Herren ärgerten Emich. Er war darauf nicht vorbereitet; es wäre ihm doch lieb gewesen, hätte er sein Hauptquartier mitgebracht. Er hatte im allgemeinen wenig Sinn für Feierlichkeit; immerhin – eine etwas stärkere Betonung seiner Stellung würde am Platze gewesen sein. Donnerwetter – er kam doch als Held und Sieger! –
Aber er schluckte den Ärger herunter. Ein paar Wagen hielten hinter dem Bahnhof. General von Kaulen entschuldigte sich wegen der jämmerlichen Gefährte – aber in dieser seltsamen Republik – und er lachte – kannte man die Kultur des Westens nur vom Hörensagen.
Es regnete noch immer. Emich, Veresco und Kaulen saßen in einer riesigen sogenannten Viktoriachaise mit Polstern aus rotverblichenem Sammet, der nach Mottenpulver roch. Man hatte die Fenster offen gelassen. Die Chaise rumpelte über schlechtes Pflaster und fuhr durch Wasserlachen. Man hörte das Klatschen und Spritzen. Pappeln huschten vorüber. Am Wege mußten auch Menschen stehn, doch in der Dunkelheit sah Emich nur schattenhafte Gebilde und vernahm ein leises Murmeln und Flüstern. Einmal erschien einer dieser Schatten dicht vor dem Wagenfenster. Eine heisere Stimme rief »Zaó«, und ein Brief fiel in den Schoß des Fürsten. Dann wurde der Schatten draußen zurückgerissen.
General von Kaulen stieß einen kurzen russischen Fluch aus.
»Bettelei«, sagte Veresco und nahm den Brief an sich. Eine Bettelei, wiederholte sich Emich. Derlei kam oft vor. Aber er spürte, wie sich plötzlich sein Heiz zusammenzog. Er spürte ein rasendes Bedürfnis nach freier Luft – ja, nach Freiheit! Am liebsten hätte er die Tür aufgerissen und wäre hinausgesprungen und hätte nach Maffeo, nach Saß, nach Mac Lewleß, nach seinen Getreuen gerufen. Dies Gefühl verstimmte ihn. Es war kindisch. Es war eine letzte Nachwirkung des Wundfiebers, eine krankhafte Angstbeklemmung. So ließ es sich deuten. Unsinn! Konnte er sicherer sein, als hier auf neutralem Gebiet? Und saß nicht sein erster Minister neben ihm? Und wollte man nicht dem besiegten Feinde den Frieden diktieren?.
Nun floß heller Lichtschein in den Wagen. Vor dem Gasthofe des Städtchens standen Leute mit Fackeln. Die Flammen flackerten hoch. Emich sah niedrige Häuser, die vor der Helle zurückzuweichen schienen, und ein Gewimmel von Menschen. Das alles kam ihm merkwürdig unwirklich vor, und er sagte sich wieder, daß er doch noch immer an leichten Fieberanfällen leiden mußte. Vielleicht war es auch die verdammte Sumpfluft, die ihm auf die Nerven fiel.
Ein roter Teppich war über die Straße bis an den Wagen gelegt worden. Emich hatte das Gefühl, in Blut zu treten. Dann verfing sich sein rechter Sporn in einem Riß des Teppichs. Ein Paar Arme fingen ihn auf.
»O – Euer Durchlaucht«, rief eine scharfe Stimme, aber in heiterem Tonfall. Ein schlanker Mann, barhäuptig, eng in seinen schwarzen Überrock geknöpft, verneigte sich ehrfurchtsvoll. »Ich habe die Ehre, Euer Durchlaucht untertänigst zu begrüßen«, sagte er.
»Guten Abend, Herr von Polzien«, entgegnete der Fürst. Nun stockte sein Fuß nicht mehr. Eine Musikbande mußte auf dem Platze stehen. Die illyrische Nationalhymne ertönte, dann die suevische. Auch die Musik hielt auf Neutralität.
Der Wirt des Hauses war in schmierigem Frack. Er dienerte unendlich tief.
»Bob!« rief der Fürst.
»Durchlaucht zu Gnaden?«
»Nicht erst auspacken. Ich denke, wir werden in zwei Stunden weiterfahren können. Ist die Bahnlinie nach Garica frei und können wir unsern Salonwagen behalten?«
Die Frage war an Veresco gerichtet. Der Herzog verbeugte sich stumm. Sein altes faltenzerrissenes Gesicht war weiß wie Linnen.
Der Eßsaal des Gasthauses war als Konferenzzimmer eingerichtet. Ein kahles Gemach mit niedergelassenen Rouleaus vor den Fenstern. Die Rouleaus bestanden aus Wachstaffet; auf jedes war eine Alpenlandschaft gemalt, von einem knallblauen Rahmen umgeben. An einer Wand hing ein Abreißkalender. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Zimmers standen ein paar Armleuchter, die einer Kirche entnommen schienen, dazwischen Tintenfässer. Vor einigen Plätzen lagen Papierbogen, Bleistifte und Federhalter.
Die drei Türen wurden geschlossen. Fürst Emich sah nicht, daß draußen vor jeder Tür einer der russischen Offiziere Wache hielt.
Nun waren die vier Herren allein: der Fürst, Veresco, der Geschäftsträger Sueviens und der General von Kaulen.
Herr von Polzien war sehr aufgeräumt. Er machte ein paar lustige Bemerkungen über die Umgebung, war aber von respektvoller Liebenswürdigkeit gegen Emich. Er schien jede persönliche Gegnerschaft vergessen zu haben.
»Beginnen wir«, sagte der Fürst und nahm Platz.
Es währte nicht zwei Stunden, sondern nur fünfundzwanzig Minuten. Herr von Kaulen verlas die Protokolle. Suevien verpflichtete sich zur Räumung des Natschali-Passes, die binnen drei Tagen gewährleistet wurde. Dann sollte der vorläufige Waffenstillstand automatisch in den Friedensschluß übergehen. Illyrien sah von einer Kriegsentschädigung ab und erklärte seine Zustimmung zu der Überlassung des bisherigen Gebiets von Gumurdja an das Nachbarland. Beide Kontrahenten gaben schließlich die feierliche Versicherung ab, daß unter ihren Mächten fortan »Friede herrschen« sollte.
Veresco und Polzien unterzeichneten für ihre Regierungen, dann setzte auch General von Kaulen seinen Namen als »Bürge« unter das Protokoll.
Emich atmete tief auf und erhob sich.
»Ihre Hand, Herr von Polzien«, sagte er. »Wir haben Frieden geschlossen. Auch Sie und ich.«
Der Rücken des Staatsrats krümmte sich. Emich fühlte eiskalte Finger in seiner Hand.
Dann sah er, daß Veresco wankte.
»Mein Gott,« rief er, »Veresco, was ist Ihnen?!«
»Nichts, Durchlaucht,« entgegnete der alte Mann und straffte sich, »eine Schwäche überfiel mich – sie ist vorüber – und sie war erklärlich in diesem – diesem schwersten Augenblick meines Lebens. Euer Durchlaucht sind Herr geworden über den Gegner, und nun bitte ich Sie: seien Sie auch ein getreuer Diener des Staates, den Sie so heiß lieben wie ich. Fügen Eure Durchlaucht sich dem unvermeidlich Gewordenen und räumen Sie den Platz der provisorischen Regierung!«
Er hatte ein Aktenstück aus der Tasche gezogen und legte es auf den Tisch. Emich warf nur einen Blick auf das Papier und sah: es war seine Abdankungsurkunde.
Die drei russischen Offiziere, die vor den Türen Posten standen, hörten einen kurzen Aufschrei.
Der Fürst war totenbleich. Er nahm das Dokument und machte eine Bewegung, als wolle er es zerreißen. Aber er tat es nicht. Er warf das Papier wieder auf den Tisch.
»Warum das?« fragte er. Seine Stimme klang hell und fest.
Veresco trat näher. Der Greis war in gewaltiger Erregung. Er mußte sich erst sammeln, ehe er weiter sprechen konnte.
»Euer Durchlaucht werden sich entsinnen,« sagte er »daß ich vor diesem Kriege gewarnt habe. Ich wußte, daß Sie siegen würden, und wir durften nicht zu groß für Rußland werden. Nun ist es gekommen, wie ich ahnte. Der Zar schickte drei Armeekorps an die Grenze, um Suevien zu unterstützen. Da griff ich ein. Vernichten lassen wollte ich Illyrien nicht. Ich habe Illyriens Freiheit durch das Versprechen Ihrer Abdankung erkauft.«
»Und haben Ihren Fürsten in eine Falle gelockt«, rief Emich schneidend. »Wird das Volk Ihnen danken?«
»Ich halte die Zügel fest in meinen alten Händen, Durchlaucht. Dankbarkeit ist keine Volkstugend. Wie man Ihnen zujubelte, so wird man auch den neuen Herrscher empfangen, den Rußland durch die Tore von Garica läßt.«
Emich lächelte bitter.
»Steht er schon im Vorzimmer, der Nachfolger?«
Veresco überhörte den gereizten Ton. »Ich führe vorläufig mit dem bisherigen Ministerium die Regierung weiter«, entgegnete er. »Nur mein Sohn scheidet aus.«
»Armer Maffeo«, sagte der Fürst. »Und was wird sonst mit meinen Getreuen im Lande?«
»Ich mußte Verhaftungen vornehmen lassen, und Ausweisungen werden folgen. Aber in wenigen Tagen wird die Ruhe wiederhergestellt sein.«
Der Blick Emichs flog durch das kahle Zimmer und blieb auf dem Abreißkalender auf der Wand haften. Eine große schwarze Acht stand auf dem Blatte. An diesem achten wurde ein Held zum Gefangenen – und ein ganzer Mann wurde heimtückisch erwürgt.
Herr von Polzien hatte sich in eine Ecke zurückgezogen. Er hielt den Kopf gesenkt.
Das Auge des Fürsten traf auf den russischen General.
»Was hat man mit mir vor, Exzellenz?« fragte er.
»Ich habe den Allerhöchsten Auftrag,« erwiderte Herr von Kaulen, »Euer Durchlaucht zu bitten, mir auf russischen Boden zu folgen. In Reni werden Euer Durchlaucht von dem Großfürsten Fedor Konstantin erwartet.«
Emich sah sich um. Ihm war, als höre er unter den Fenstern ein leises Waffenklirren.
Da nahte sich wieder Veresco, haschte nach seiner Hand und küßte sie.
»Fürst Emic,« sagte der Alte, und der Strom seiner Seele schwang mit in seiner zitternden Stimme, »du warst mir mehr als mein Sohn, du warst wie Fleisch und Blut von mir, du bist noch immer ein Stück meines Heizens. Schmähe mich – und wenn deine Hand mich schlagen will, ich werde nicht zucken. Was ich tat, geschah um Illyriens willen. Ich kann auch leiden meinem Lande zuliebe. Du, Fürst, bist noch jung, und die Jugend wird dein Leid lindern und dir die Überwindung erleichtern. Sieh, du ziehst ja als Sieger von dannen und nicht als geschlagener Flüchtling. Daheim wartet ...«
Mit einer schroffen Handbewegung hieß Emich ihn schweigen. Ohne ihn anzusehen griff er zur Feder, und während er seinen Namen unter die Urkunde setzte, sprach er halblaut und doch jedes Wort bewertend:
»Rußland als Schützer Illyriens ...« Die Feder flog auf den Tisch zurück. Die Tinte spritzte über das Leinen ... »Pfui Teufel! ...«
Der Fürst erhob sich. »Exzellenz Kaulen, ich bin bereit ...«