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(Geb. 24. März 1873, † 15. März 1907).
Detta Zilcken wurde am 24. März 1872 in Köln geboren. Ihre Schulbildung erhielt sie von ausgezeichneten Lehrern in Bonn, wo sie von l878 bis 1889 mit ihren Eltern wohnte, und war dann ein Jahr in einem Pensionat in der französischen Schweiz. Schon als Siebzehnjährige schrieb sie kleine Geschichten für Kinder, die in Jugend-Zeitschriften gedruckt wurden. Bald wandte sie sich ernsteren Stoffen zu und wurde 1893 Mitarbeiterin der Straßburger Post und ein Jahr später der Kölnischen Zeitung, die außer Skizzen und Novellen auch Beiträge literar- und kunstkritischer Art von ihr veröffentlichten. Ihre besten belletristischen Arbeiten sind die Novellen Wunsch und Peter Mathias, die in der Kölnischen Zeitung und Die Wut des Lebens, die in der Deutschen Revue erschienen. Von einschneidender Bedeutung für sie wurde die Düsseldorfer Kunst- und Industrie Ausstellung von 1902, über die sie die Berichterstattung für die Norddeutsche Allgemeine Zeitung und die Straßburger Post übernommen hatte. Das eindringliche Studium dieser Ausstellung bereitete den Boden vor, auf dem sie später weiter baute: nationale Wohlfahrt durch die Arbeit, kulturelle Rasseveredlung durch die Kunst. Die Anerkennung aber dieser berichterstatterischen Leistung, die sie fand, brachten den schon lange gehegten Vorsatz zur Reife, sich vornehmlich der Journalistik und Publizistik zu widmen. Zum Zwecke weiterer Versuche und Studien begab sie sich auf Reisen und lebte zwei Jahre in München und ungefähr je ein Jahr in Paris und London; dazwischen fielen kürzere Aufenthalte in Belgien und Holland. Neben ihren Kunst- und Literaturstudien wandte sie sich bereits in München praktischsozialen zu, die sie später in Paris und London nachdrücklicher verfolgte. Hauptsächlich waren es die Bedingungen der Erwerbsmöglichkeit auf sich selbst angewiesener Frauen, mit denen sie sich beschäftigte. Dabei war sie nicht Frauenrechtlerin in dem Sinne, daß sie für die Frau alle Gebiete der männlichen Arbeit und Rechte beanspruchte; sie stand solchen Bestrebungen in ihren letzten Konsequenzen eher ablehnend gegenüber. Um das Leben der unteren Volksklassen kennen zu lernen, unternahm sie es in München einmal zwei Wochen in einem Arbeiterinnenheim, in Paris in einem Logierhause für Lehrerinnen und kleine, weibliche Angestellte, in London in einem solchen für bessere Dienstboten zu wohnen, und sehr nachdrücklich beschäftigte sie sich mit den Bestrebungen der Heilsarmee, an deren sogenannten Patrouillengängen sie in London wiederholt teilnahm, was sie dabei sah und beobachtete, schilderte sie mit warmem Herzen in wertvollen Aufsätzen. Denn ein warmes Herz hatte sie, voll unendlicher Güte. Aus den Eindrücken von Armut und Elend und oft auch sittlicher Verkommenheit, die sie bei solchem Tun in sich aufnahm, flüchtete sie dann zeitweilig in die Einsamkeit des Gebirges oder an das Meer, für deren erhabene Schönheiten sie eine empfängliche Seele hatte, und immer wieder in das Studium von Kunst und Geschichte. In der National-Bibliothek und in den Museen in München, in der Bibliothek St. Geneviève und im Louvre in Paris, im British Museum in London hat sie viele Tage zugebracht. Eine Reihe glänzend geschriebener Feuilletons und Essays waren die Frucht davon. Um einige zu nennen: aus der Münchener Zeit über Elisabeth von Saarbrücken, George Sand und Alfred de Muset, aus der Pariser über Julie Récamier, Madame Roland, Gabrielle d'Estrées, die Königsgräber in St. Denis und Dianne de Poytiers, aus der Londoner eine kunsthistorische Studie über Canterbury und die Vorarbeiten zu einer unvollendet gebliebenen Arbeit über Heinrich VIII. und seine sechs Frauen, wenige deutsche Zeitungen und Zeitschriften von Bedeutung gibt es, die nicht Beiträge aus ihrer Feder nach der einen oder anderen Richtung veröffentlicht haben. Im Winter 1906 kehrte sie von London in das Elternhaus nach Köln zurück mit der Absicht, im Frühling die Universität Heidelberg zu beziehen, um rite Volkswirtschaft und Geschichte zu studieren. Aber mitten in ihren Plänen und Arbeiten erlag sie am 15. März 1907 einer tückischen Krankheit. Nach ihrem Tode schrieb die Straßburger Post von ihr: sie war ein starkes, literarisches Talent, dem sicher eine große Zukunft bevorstand, und ein Mensch von hervorragenden Eigenschaften, klug, treu und gut. Die Kölnische Zeitung sagte: sie verband ein reiches Wissen mit rastloser Strebsamkeit. Die Frankfurter Zeitung: Viel vom Reichtum ihres Herzens und Geistes hat sie gegeben, vieles noch hätte man von ihr erwarten dürfen. Das Amsterdamer Weekblad rühmte von ihr: sie hatte viel Gefühl, ohne jemals sentimental zu werden, und die Berliner Zeit am Mittag nannte sie die bedeutendste deutsche Journalistin.
Skizze
Also du kommst, wenn es herbstet. Wie mich das freut, wenn du kommen wirst. Wenn es nur nicht solang noch dauerte. Immer, wenn ich daran denke, ist eine Furcht in mir, daß ich's nicht erleben könnte. Erschrick nicht, ich bin nicht krank. Man würde dir sogar sagen, daß ich lustig bin. Bloß – ich traue dieser Vergnügtheit nicht. Es schläft etwas darunter, regt sich zuweilen, das, wenn es erwacht, gefährlich ist. Es ist vielleicht eine Art Wahnsinn, aber ich kann von dem Gedanken nicht loskommen, daß ich einmal durch eigene Hand sterben werde. Wie ein Zwang ist das. Tief drinnen, weißt du, da wo des Menschen Macht nicht hinreicht, wurzelt es, und so fest, daß ich das Leben, diese schöne Welt, die voller Wunder ist, in der steten Erwartung des Todes genieße.
Wie der Gedanke entstanden? Er war lange da, ehe ich's deutlich gewußt; aber wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich klar seinen Anfang sehen.
Er war in der Zeit, als mein Vater starb. Ich war sechzehn damals.
Es hatte schon lange im Haus nach Gewitter ausgesehen. Ich fühlte auch wohl den dumpfen Druck, aber unser Gut lag so einsam, daß ich keine Gelegenheit zu Vergleichen hatte. So war ich weder glücklich noch bekümmert. Aber ich liebte das ruhig geschäftige Treiben auf dem großen Hof, liebte die himmelweiten Felder, meinen bergigen Wald und mein kleines Zimmer, das voller Sonne war. Aber am meisten liebte ich meinen Vater. Noch wohl erinnere ich mich aus jener Zeit, wie ich in halbkindischen Gedanken dachte, ich würde niemals heiraten, weil nie ein Mann mir teurer sein könnte als er. – Dann fanden sie ihn eines Tages mit durchschossener Stirn im Schafstall. Eine Stunde zuvor noch hatte er mit der Mutter und mir gescherzt. Er war gern munter – so wie ich jetzt auch gern lustig bin.
Und dann fielen die Leute über uns her, er habe sie um ihr Geld gebracht. sein Bruder aber, ein gefühlloser Mann, dem der Verlust die Gerechtigkeit nahm, sagte dies Wort von ihm:
»Lump!«
Lieber, in dem Augenblick ist etwas in mir zerbrochen, das nie wieder heil geworden. Irgendwie ist seitdem das gesunde Gleichgewicht in mir verrückt, und damals auch kam mir zum erstenmal der Wille zum Tod. Nicht so klar, wie er mich jetzt manchmal erschreckt, wo ich den giftgrünen, schäumenden Fluß nicht ansehen kann ohne die Vorstellung, wie schnell ein Sprung dahinein wirken würde. Es war mehr noch ein Gefühl als ein Gedanke, und ich ging den seltsamen Weg, den ich wählte, ohne recht zu wissen, daß ich zum Sterben gehen wollte:
Ich hungerte.
Es tat nicht weh. Es war ein langsames Absterben der Organe, die immer matter ihre Arbeit taten, ein sanftes Einschlafen aller Kräfte. Monatelang. Niemand begriff, was mir fehlte. Ich aber sah mit einer süßen Genugtuung, einer müden Freude auf das Ende, mich von Woche zu Woche schwächer werden.
Bloß ein Zufall hat damals verhindert, daß es bis an das Letzte kam. Wir mußten fort von dem Gut, in die Stadt, und da, noch fremd, ward meine Mutter krank. Ich hatte den Rest meiner Kräfte für ihre Pflege nötig, und in der Sorge um sie erlosch meine Sehnsucht.
Zwei, drei Jahre, dann schlief sie. Ich fand den Mann, der mein Schicksal war, soweit Liebe unser Schicksal bedeutet. Aber es war eine Liebe ohne Hoffen von Anfang an. Sie nährte sich an dem verstohlenen Genuß von des Geliebten Nähe, von unbeachtetem Nachblicken, von heimlichen Küssen auf die Gegenstände, die er berührt hatte. Und eines Tages wurde selbst dieses karge, qualvolle Glück Diebstahl an dem Recht einer andern.
Und da – wie ein Blitz – stand das Verlangen nach dem Nichtmehrsein wieder auf. Und ich merkte: es war nie gestorben. Es war bloß eine Zeitlang untergetaucht. Aber wie manchmal ein Begriff sich in unserer Seele klärt, ohne daß wir bewußt daran denken, so daß er am Morgen beim Erwachen deutlicher dasteht als am Abend zuvor, so war der dunkle Trieb von damals jetzt ein bewußtes Wollen.
Ich konnte kaum erwarten, es auszuführen. Mit einer süßen Verheißung lockte die Tat. Ich hatte das Glas schon am Munde, fühlte das Gift schon fast an den Lippen – in meiner Seele war so viel Licht, daß alles um mich her davon verklärt war – da fiel mir meine Mutter ein. Wie grausam es wäre, ihr auch das noch anzutun.
Noch einmal war das Leben stärker. Das Glas flog durchs Fenster.
Nie habe ich einer größeren Versuchung widerstanden, nie ein schwereres Opfer gebracht. –
Dann kam eine lange Zeit, Jahre, von denen ich nichts weiß, als daß sie farblos waren.
Aber dann fand ich dich. Ich weiß noch, wie wir über den See fuhren, in einem kleinen Dampfboot mit fröhlichen Menschen. Und wie ich dann allein mit dir im Walde ging, der dunkel und heimlich war nach der Helle draußen. Alles, was damals war, weiß ich noch. Wie du den Käfer aufhobst, der auf dem Rücken zappelte, und wie deine Hand stützte, als sie mir über den Graben half. Und was du sagtest. Von dem Elend der Gottverlassenheit, das auch du kennen gelernt, und von der Seligkeit des Wiederfindens in unseren tüchtigen Taten. Es ging ein Wille zum Leben von dir aus, daß er auch anderen Kraft gab, und man gleich hätte Hand anlegen mögen an alles, was da wachsen und werden wollte.
Lieber, es ist nicht Verliebtheit, was mich zu dir hinzieht. Es ist der Trieb der Selbsterhaltung, das Verlangen des Schwachen nach einem starken Halt.
Aber nun bist du solange schon fort, der Ton deiner Stimme ist in mir verklungen, dein Bild wird blasser in meiner Seele, und dein Wesen beginnt seine Macht über mich zu verlieren. Und tief drinnen wächst wieder die müde Traurigkeit. Mutter aber ist tot.
Ich will immer Lachen jetzt und laute Bewegung. Ich fürchte mich, die Stimme der Stille zu hören. Aber wenn sie doch wach und laut wird – –
Komm bald, du Guter. Sieh', der Schnee schmilzt, und der Fluß rast wie ein wildes Tier. Mir graut, wenn ich ihn ansehe, daß es mich fassen könnte. Ich möchte so gern noch ein wenig glücklich sein. Und vielleicht ist dies auch die Heilung für meinen kranken Gedanken: ein wenig Glück. Ich habe noch keines genossen, und Glück, wenn es auch kurz wäre, ist nötig in ein Menschenleben wie das Unglück. Ohne diesen einen Tropfen verdirbt es.
Komm. Sei du dies rettende Tröpflein.
Den Empfänglichen wird London vertiefen, wie stärker vielleicht nur noch eine große Liebe vertieft. Von allen Regungen der Seele aber entwickelt es am vollsten das Leiden an der Welt. Geschichte, Kunst, selbst der gewaltige Handel, mir scheint, alles dieses tritt in London zurück vor dem rein Menschlichen. Die Wirkung Londons ist Schmerz, jener Schmerz, der Trost in der Steigerung der Güte sucht, solches ernste Erziehungswerk aber vollbringt es, indem es immer und immer wieder seinen Ernst vorführt. London ist imponierend; es besitzt unermeßliche Reichtümer; es ist vornehm an vielen Stellen; es bietet in seinem äußeren Bilde sogar zuweilen Stimmungen von einem artistischen Reize, wie man ihn hier kaum vermutet. Aber es ist nie und nirgendwo heiter. Stets ist etwas Verhaltenes in seinen Lebensäußerungen und etwas Temperiertes in der Art seiner Bewohner. Nichts aber vermöchte dieser eigentümlichen Schwere einen treffenderen Ausdruck zu geben als die leichten Nebel seiner Winter. Wie zu Paris die lachende Frühlingssonne, so stimmen zu London die dünnen Nebel. Sie sind sein künstlerischer Stil. Es ist, als sei das Wesen der Stadt aus ihnen geboren, und sie wird in diesem Zusammenklang von Wesen und Stimmung unsagbar schön.
Wenn an den Wintertagen die Dämmerung schon um drei Uhr hereinbricht und es auch um Mittag nicht Tag wird. Wenn der bläuliche Dunst sich auf den leise zitternden, matt bleifarbenen Glanz der Themse herabsenkt, Möwen mit schwerem Schlag darüber streichen und Scharen von Möwen auf den verankerten Lastkähnen sitzen. Wenn das Wasser bei der Flut schwillt – wie eine Brust, die ein Seufzer hebt – und gegen die Terrasse des Parlamentsgebäudes schlägt: das ist, als ob die ernste Stadt der Tat sich einhülle und zurückziehe zu noch ernsterer Betrachtung. Alle Türme und Kuppeln verdämmern. Alles Unharmonische löst sich in zarte Stille. Die Waterloo-Brücke steht mit den Wölbungen ihrer steingrauen Bogen dunkel verschwimmend in der perlfarben sich verdichtenden Feuchtigkeit; über die Brücke gleitet das Leben wie ein bewegliches Schattenspiel auf einem Hintergrund aus mattgrauer Seide. Das Parlamentsgebäude, sonst so straff dastehend mit seinen vielen senkrecht eng nebeneinander aufstrebenden Linien, im Aeußern wie im Innern die strenge Würde seiner Bestimmung zeichnend, und – obwohl nicht alt – wie erfüllt von einer furchtbar düsteren Geschichte – selbst dieser starre Bau erhält Weichheit im Nebel. Fahl blinkt hinter einem seiner zahllosen Fenster ein gelbes Licht.
Oder ein Bild von weiter unten am Flusse, in Greenwich. Auf dem grünen Hügel ragen die gelben und roten Kuppeln der Sternwarte in der Lautlosigkeit des menschenleeren Gartens in dem weißlichen Dunst wie eine Gralsburg oder wie sonst ein fremdländisches Heiligtum; wie die gaukelnde Erscheinung einer morgenländischen Stadt. Die blätterlosen Bäume des Parks stehen im Nebel wie losgelöst in trauernder Einsamkeit, wie weit entrückt dem brausenden Lärm, der doch hart an die Parkgitter schlägt.
Auch in der Stadt ist es sehr schön alsdann, besonders am Abend. Aus der Ferne scheint es, als wüte die prächtigste Feuersbrunst in den Straßen: die unendlich vielen Lichter durchleuchten den Nebel, daß er über den Häusern rötlich glüht wie der Widerstrahl eines gewaltigen Brandes. Aber immer nur in der Weite winkt dieser Schein. Ueber dir ist Dunkel.
Die Lichter strahlen nicht; sie scheinen nur helle Flecken ohne Wirkung – seltsam körperlich in ihrem verschleierten Glanz. Sie stecken wie große, bläuliche Monde auf hohen Pfählen. Sie bewegen sich mit den Fuhrwerken. Sie umrahmen, Flämmchen bei Flämmchen, die Eingänge der Restaurants, bilden Schriftzeichen, wechselnd in der Farbe, bald rot, bald grün. Alle sie erhellen die Straße nur bis zu einer geringen Höhe über dem Boden. Darüber ist Dämmerung, im Uebergang zu undurchdringlicher Finsternis. Die schwärzlichen Paläste, heller an den Stellen, wo der Regen das verrußte Gestein gewaschen hat, lösen ihre schweren Mauern und Säulen in gestaltlose Dunkelheit auf. Die Straße scheint wie ein Schacht, der in gräuliche, starrende Nacht gebaut ist; auf seiner Sohle, die von Leben wimmelt, suchen Tausende die tröstende Nähe der Menschen und des Lichtes. London ist so grotesk, daß dem verwirrten Sinn alle Wirklichkeit zu grotesken Phantasien wird. Man sollte denken, daß dies zu erleben in London kaum möglich ist:
Ueber Rasen, durch einen stark, unter alten, knorrigen Bäumen her, bin ich zum Fluß hinabgegangen. Einst lag dieser Ort weit draußen, ein Dorf, und seine Kirche, Chelsea Old Church, wölbt sich über den Gräbern großer Männer, die vor Jahrhunderten hier die Einsamkeit suchten. Später ward er der Sammelplatz der glänzenden Welt, der Vornehmen und der Leichtfertigen und der Betrachtenden, Dichter und Maler, die in dem bunten Schauspiel sinnend den Abglanz des Gebens sahen. Einst lag hier Ranelagh, der berühmte Lustgarten mit seiner Rotunde, wo das üppige England Georgs II. die Sitten von Paris nachahmte. Dann wieder ist Chelsea in Stille gesunken, obwohl die Stadt herangekrochen ist und es umschlungen hat mit ihren steinernen Armen. Viele Gelehrte und Künstler haben hier Wohnung genommen. In einer stummen Straße steht das Haus, in dem Carlyle schuf und Emerson sein Gast war.
Zwischen der Kaimauer und dem Fahrdamm, an dem die roten Backsteinhäuser liegen – ihr einziger Schmuck sind die schmiedeeisernen Gitter der Vorgärtchen – ist eine Gartenanlage. Auf den gewundenen Wegen gehen keine Leute, und die Bänke stehen leer. Ich setze mich neben einen Brunnen, über dem ein Bildwerk, ein feierlicher Männerkopf sich neigt, und betrachte das Haus vor mir, das, wenig breiter als seine Nachbarn, mit geschlossenen Augenlidern, weißen, geschlossenen Fensterläden, hinter blanken Fensteraugen, dasteht. Ich weiß nicht, ob das Haus niemandes Wohnstätte ist, oder ob die Bewohner es für kurze Zeit verlassen haben. Aber ich danke dem Zufall, daß er mir keine fremden Gesichter hinter den Scheiben zeigt. Daß er mir den Traum läßt, das leere Haus mit denen zu beseelen, die einst über seine Schwelle gingen. Mit Menschen, hoch begnadeten, deren Leben ein Lied der Schönheit war. In diesem Hause blühte die edelste Freundschaft zwischen feinen, zarten Geistern. Hier wohnte das Andenken an die süßeste Liebe. Hier verklärte sich die zehrendste Sehnsucht nach einer Gestorbenen – jener kranken Frau mit dem verzückten Lächeln – zu einem Frauenbilde, das wie das Symbol aller schmerzlichen Wollust auf Erden ist: Denn in diesem Hause wohnte Dante Gabriel Rossetti.
Mich erhebend, den Brunnen mit dem Rossetti-Bildnis verlassend, gehe ich in feierlichem Sinnen hinüber an den Fluß. Die Sonne ist mit braunrotem Glanz in die Themse gesunken. Die dicke, kohlenstaubdurchsetzte Luft von London machte aus dem ätherischen Licht eine schwere, materielle Substanz. Und wieder ist ein fahles, wässeriges Grau zurückgeblieben und verwandelt mir das Wasser in den stillen Strom des Todes, der in das Reich der Schatten führt. Aber es scheint mir, daß ich dieses Bild, das ich hier zum ersten Male betrachte, längst kenne: das dünne Gestänge der Hängebrücke, der schmale, eiserne Pfeiler im Wasser, schwimmend im Nebelgrau. Bis ich mich besinne: Whistler hat das gemalt; seine Battersea-Brücke hängt in der Tate-Galerie.
Erfüllt von dem Reichtum dieser Stunde, glücklich in der gefühlten Nähe verehrter Großer, die vor mir hier das gleiche empfanden, wende ich mich heimwärts, bewegt wie nach dem herrlichsten Erlebnis.