Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Erster Band
Berthold Auerbach

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Sechstes Kapitel.

Als sich Walpurga hinausgeflüchtet und ihr Kind geherzt hatte, gab sie es schnell wieder dem Gespiel auf den Arm.

»Nimm du es, ich darf ihm jetzt nichts geben. O du armes Kind, sie wollen mich dir wegnehmen. Was hast du denn verschuldet, daß dir das angethan wird? Und was hab' ich denn gethan? Aber man kann mich ja nicht zwingen! Wer will mich zwingen? Aber warum kommen sie? Warum gerade zu mir? Komm Kind, ich bin ruhig, ich bin bei dir, wir lassen nicht voneinander. Ich bin jetzt ganz ruhig.«

Sie legte das Kind an die Brust und küßte ihm das Händchen.

So traf sie Hansei und er sagte: »Wenn ihr miteinander fertig seid, dann komm herein.«

Die Mutter winkte ihrem Manne, still zu sein und das Kind nicht zu stören. Er stand eine Weile stumm und man hörte nichts, keinen Laut vom Vater, von der Mutter, vom Kind – nur die Stare im Kirschbaum hörte man, wie sie ihre Jungen ätzten und schnell wie der Wind dahinflogen und wiederkamen. Endlich sank das Kind vollgesättigt wieder in die Kissen zurück, es bewegte nur noch still die Lippen.

»Komm herein in die Stube,« sagte Hansei so leise und lind, wie man gar nicht hätte denken können, daß der starkknochige Mann sprechen könne. »Komm herein, Walpurga, unhöflich brauchen wir just nicht zu sein, und Böses ist's ja nicht, was die Leute wollen, und zwingen können sie uns nicht und danken können wir ihnen doch. Du kannst sonst immer so gut mit fremden Leuten reden; jetzt sprich du, und was du sagst und thust, ist mir recht.«

Die Frau übergab das Kind der Großmutter und ging mit ihrem Manne nach dem Hause, sie schaute aber mehrmals um und stolperte noch an der Thürschwelle.

In der Stube ging ihr der Hofarzt entgegen und sagte in zutraulichem Tone:

»Liebe Frau! Ich würde mir's als Sünde anrechnen, Euch zu verleiten, wogegen Euer Herz Einsprache erhebt; aber ich halte es für Pflicht, Euch zu ermahnen, die Sache genau und klar zu überlegen.«

»Ich danke. Nehmt mir's ja recht nicht übel, ich darf das meinem Kind nicht anthun.« Sie sah auf ihren Mann und setzte schnell hinzu: »Und meinem Mann auch nicht. Ich kann mein Kind nicht allein lassen und meinen Mann auch nicht.«

»Dein Mann und dein Kind sind nicht allein, deine Mutter bleibt ja da,« schaltete der Gemswirt ein. Der Hofarzt aber trat dazwischen:

»Ich bitte, unterbrechen Sie die Frau nicht, lassen Sie sie allein reden und ihr ganzes Herz aussprechen. Reden Sie nur weiter, liebe Frau.«

»Ich hab' nichts weiter zu reden, ich weiß nichts mehr. Oder doch, das auch noch: ich hab' mein Leben lang nicht gedient, außer so im Taglohn; in diesem Häuschen bin ich geboren und da hab' ich gelebt bis jetzt und da ist mein Mann zu mir kommen. Ich hab' nie gedacht, daß ich je da hinaus sollte. Und ich kann's auch nicht. Ich habe nie in meinem Leben in einem fremden Bett geschlafen. Ich sterbe vor Heimweh, wenn ich fort muß, nach der Stadt und so lange, und wovon soll mein Kind leben, und wie soll mein Mann leben? Das kann der König doch nicht wollen, daß wir alle vor Kummer sterben.«

»Ich möchte doch auch etwas sagen,« begann Doktor Kumpan mit einem Blick auf den Hofarzt. »Wegen deines Kindes? Daran haben wir wohl gedacht. Du möchtest ja schon lang eine Kuh im Stall haben; wir schaffen dir eine frischmelkige.«

»Die hab' ich!« fiel der Gemswirt ein und rief einem Knaben zum Fenster hinaus: »Geh hinauf und sag meinem Knecht, er soll die neumelkige Kalbin gleich herunter bringen. Mach! Lauf! Hurtig! Ich hab' sie eigentlich nicht hergeben wollen,« sagte er zum Hofarzt und wendete sich von Hansei weg, denn dieser wußte ja, daß der Gemswirt das ganze Jahr mit Vieh handelt, mit Kühen und Schweinen, nichts ist fest in seinem Stall, und jetzt thut er, als ob die Kalbin ein Familienglied wäre. »Es ist mein bestes Stück,« fuhr er fort, »aber für den König muß man alles hergeben und für vierzig Kronenthaler ist sie unter Brüdern im Preis,« zu Hansei gewendet sagte er schmunzelnd: »Du bekommst ein schönes rundes Kühle, keine leere Haut.«

»Wir sind noch nicht so weit, aber wenn die Kalbin dem Hansei gefällt, kaufe ich sie Euch ab,« sagte der Hofarzt.

»Die Mutter hinaus und eine Kuh herein!« murmelte Walpurga dreinstarrend.

»Ich hätt's nicht geglaubt, daß du so zimpfer bist. Was ist das für ein Gethue? Hell aufjubeln und auf die Kniee fallen und Gott danken solltest du!« polterte der Gemswirt.

Der Hofarzt begütigte ihn und der Landarzt schaltete ein: »Glück und Gesang dulden keinen Zwang! Wenn die Walpurga nicht mit gutem und entschlossenem Herzen gehen mag, schauen wir um ein Haus weiter; es finden sich schon noch andre.«

Er stand auf und nahm seinen Hut. Auch der Hofarzt erhob sich.

»Bis wann müßte ich denn fort? Und wie lange müßte ich denn fort bleiben?« fragte die junge Frau.

Der Hofarzt setzte sich wieder und entgegnete:

»Bis wann? Das läßt sich noch nicht bestimmen, aber Ihr müßtet jeden Tag bereit sein.«

»Also nicht gleich? nicht jetzt schon? Und wie lange müßte ich fort bleiben?«

»Beiläufig ein Jahr.«

»Nein, nein! Ich thu's nicht! Gott verzeih' mir's, daß ich nur einen Augenblick daran gedacht hab'.«

»So sagen wir Euch lebewohl und möge es Euch und Eurem Kind wohlergehen!« schloß der Hofarzt, die Hand darbietend. Mit bewegter Stimme fügte er hinzu: »Liebe Frau, das Königskind könnte nicht gedeihen, wenn Ihr mit Jammer davongeht und im Herzen immer Kummer habt. Daß es Euch weh thut, ist in der Ordnung; Ihr wäret keine brave Frau und keine getreue Mutter, wenn Ihr gleich eingewilligt hättet, und wer weiß, ob ich Euch dann angenommen. Die Königin will nur eine Frau, die ein rechtschaffenes Herz hat und einen ehrbaren Mann und eine sorgliche Großmutter, aber Kränkung und Kummer will sie Euch nicht anthun. Wenn Ihr also nicht fröhlich sein könnt in der Fremde, wenn Ihr Euch im Herzen nicht daran erquicket, daß Ihr dem Königskind und der König Euch etwas Gutes thut, dann ist's besser, Ihr bleibt daheim und laßt Euch nicht verführen von dem Geld; das Geld darf Euch nicht verführen! Nein, es ist besser, Ihr thut's nicht!«

Er wollte gehen. Aber der Gemswirt hielt ihn auf und sagte:

»Ich bitte noch um ein Wort. Hör mich getreu an, Walpurga, und du auch, Hansei. Gut, du sagst also: Nein, ich geh' nicht! Ist rechtschaffen, ist schön von dir; aller Ehren wert. Aber fraget euch: wie werdet ihr weiter aushalten, wenn ihr's ausgeschlagen? Heute, morgen, vielleicht auch übermorgen werdet ihr zufrieden sein, euch die Hand geben, euer Kind küssen und sagen: Gottlob, wir haben der Versuchung widerstanden, sind bei einander geblieben in unsrer Armutei und ernähren uns redlich; wir plagen uns lieber, ehe wir voneinander gehen. Aber übermorgen und über acht Tage – wie dann? Wenn Sorgen kommen und Mangel, oder auch – wir sind ja Menschen – ein Unglück, und ihr wißt euch nicht zu helfen? Besinnt euch! Werdet ihr nicht sagen: hätten wir's doch gethan! Werdet ihr nicht eins dem andern still oder laut vorwerfen: warum hast du mir nicht zugeredet? warum hast du dich nicht entschlossen? – Ich will euch nicht überreden, nur vorhalten will ich euch, was ihr alles bedenken und ins Herz fassen müßt.«

Es trat eine Pause ein, der Mann betrachtete die Frau und senkte den Blick, die Frau betrachtete den Mann und hielt sich rasch die Hand vor die Augen.

Da knallte eine Peitsche vor dem Hause, und eine schöne schwarzscheckige junge Kuh schrie laut und tief wie aus einer Höhle heraus. Alles schrak zusammen; es war inmitten der Stille wie ein Gespensterruf am hellen Mittag.

Der Gemswirt fluchte und schalt zum Fenster hinaus den Knecht, weil er das Kalb nicht mitgebracht, obgleich es schon an den Metzger verkauft war.

Der Knecht band schnell die Kuh an den Gartenzaun und eilte heim, um das Kalb zu holen. Die Kuh zerrte an dem Seil und schien sich fast erwürgen zu wollen, sie ächzte und brummte, daß ihr der Schaum vor dem Maul stand.

»Das ist doch nur ein Tier und seht wie sie's treibt!« rief Walpurga.

Die ganze eindringliche Rede des Gemswirts schien durch den Zwischenfall mit der Kuh verloren. Aber wunderbar faßte sich Walpurga. Sie sagte jetzt schnell, ohne dabei jemand anzuschauen, als antwortete sie einem Unsichtbaren:

»Ein Mensch kann mehr als ein Tier!« Dann fuhr sie zu ihrem Manne gewendet fort: »Hansei, komm her, gib mir deine Hand! Sag, ist dir's von ganzem Herzen recht, was ich thu' und was ich sag'?«

»Du meinst, wenn du nein sagst?« erwiderte Hansei mit schwankender Betonung.

»Ich mein's, ob ich nein oder ob ich ja sage.«

Hansei konnte nicht reden, aber wenn er hätte reden können, es wären sehr gescheite, gründliche Gedanken – er schaute immer in seinen Hut, als könnte er da draus die Gedanken ablesen, die ihm durch den Kopf gingen. Dann nahm er sein blaues Tuch heraus und drehte es so fest zusammen, als wolle er einen Ballen daraus machen.

Da Hansei nichts sagte, fuhr Walpurga fort: »Ich kann dir's nicht auflegen, daß du entscheidest. Das kann nur ich allein: ich bin die Mutter von meinem Kind, und ich bin die Frau und ... wenn ich geh' – ich muß es können und ich weiß, ich kann's, ich muß alles niederdrücken, daß ich dem Kind keinen Schaden thu', dem andern – und ... und ... hier meine Hand, Herr, – ich sag' ja!«

Alle im Zimmer atmeten auf. Hansei spürte, daß ihm etwas in den Augen bitzelte und im Halse drückte. Er führte sich, um dem abzuhelfen, ein frisches Glas Wein und ein mächtig Stück Kuchen zu Gemüte. – Das ist heute ein seltsamer Tag! Wenn nur die Fremden endlich fort wären, daß man was Warmes in den Leib bekäme; der Morgen dauert ewig lang!

Die beiden Aerzte sprachen eifrig mit der jungen Frau, und Walpurga gelobte, sich frei und heiter zu erhalten; was sie einmal übernommen, das führe sie auch durch, Gott werde helfen, ihr Kind zu erhalten, und was sie für des Königs Kind thun könne, das würde sie thun; »was ich einmal übernommen, das führe ich auch getreulich aus, darauf kann man sich verlassen,« wiederholte sie oft.

Nun sie sich einmal entschlossen hatte, war eine eigentümliche Kraft in der Frau. Sie rief ihre Mutter mit dem Kinde herein und berichtete alles. Das Kind schlief ruhig fort, es wurde in die Wiege in der Kammer gelegt. Die Großmutter nahm den ganzen Vorgang wie eine unabänderliche Bestimmung auf, sie war seit Jahren gewöhnt, daß Walpurga über alles Entschluß faßte, und hier kam gar noch der Wunsch des Königs dazu.

»Dein Kind wird nicht mutterlos aufgezogen,« sagte sie, »ich versteh' es besser als du. Wir haben eine Kuh und wir wollen's schon pflegen.«

Der Gemswirt eilte schnell hinaus und brachte die Kuh in den Stall. Damit war der Kauf abgeschlossen und ein guter Verdienst im trocknen. Er ärgerte sich heimlich nur, daß er nicht zehn Kronenthaler mehr als Preis genannt hatte. Zwei Kronenthaler Trinkgeld für den Knecht, die schlug er schon noch heraus, und einen davon kann er füglich einstecken.

Hansei, der sich vorläufig gestärkt hatte, mußte sich nun auch als Mann zeigen. Er fragte nach dem Lohn, und er wollte eben seine früher gedachte große Summe nennen, als glücklicherweise der Gevatter Gemswirt wieder eintrat und ihm darlegte, je weniger man ausmache, um so mehr kriege man; er wolle ihm die Taufgeschenke allein für fünfhundert Gulden abkaufen, man dürfe mit einem König nichts ausdingen, um so mehr könne er schenken.

Walpurga fragte nun, was sie in die Stadt mitzunehmen habe. Der Hofarzt sagte, sie solle bloß ihren Sonntagsanzug mitnehmen, weiter nichts.

Vor dem Fenster hatten sich viele aus dem Dorfe gesammelt, die von dem Vorfall vernommen hatten, und die Leute, die zur Mittagskirche gehen wollten, blieben auch stehen, so daß die ganze Straße voll Menschen war. Es gab viel Lachen, denn jeder wollte gern seine Frau auf ein Jahr dem König borgen.

Drin in der Stube versprach das Gespiel, der Großmutter beizustehen, und sie berühmte sich nicht ohne Stolz, daß sie gut schreiben könne, sie wolle jeden Sonntag der Walpurga Nachricht geben von Kind, Mann und Mutter.

Das Gespiel brachte die Teller, denn es war höchste Zeit, endlich das Mittagessen einzunehmen. Walpurga sagte, daß sie in den nächsten Tagen alles noch gut ordnen wolle.

»Was ich meinem Kinde jetzt entziehe,« sagte sie, »das kann ich ihm für sein ganzes Leben viel mehr geben.«

Als sie des Kindes erwähnte, schrie es in der Kammer laut und sie eilte zu ihm.

Eben wollten sich die beiden Aerzte mit dem Gemswirt entfernen, da tönte ein Posthorn die Straße am See herauf. Eine Extrapost kam, im offenen Wagen saß der Lakai, den der Hofarzt an der nächsten Telegraphenstation zurückgelassen; er hob einen blauen Brief in der Hand hoch empor. An der Gstadelhütte hielt er an und rief zu den Versammelten laut:

»Schreit alle vivat hoch! Vor einer Stunde ist euch ein Kronprinz geboren worden!«

Alles schrie hoch! und abermals hoch!

Eine alte Frau, die gebückt ging, sah dem Lakai mit einer scharfen Wendung ins Gesicht, und ihre noch munteren braunen Augen funkelten und blitzten.

»Was ist das für eine Stimme?« sagte die Alte vor sich hin.

Auch in den Mienen des Lakaien zuckte es, aber kaum merklich, als er die Alte sah. »Geht aus dem Weg, Leute, daß ich absteigen kann!« rief er.

»Zenza (Vinzenza), geh aus dem Weg! Die alte Zenza ist doch überall vorn dran!« riefen die Leute.

Die Alte aber stand starr, wie im Traum versunken, man stieß sie beiseite und sie verlor ihren Stock, auf den sie sich gestützt hielt. Der Lakai stolperte über den Stock, aber er ging, ohne umzuschauen, in die Gstadelhütte.

Der Hofarzt eilte ihm entgegen, empfing die Depesche und kehrte in die Stube zurück. Walpurga war wieder eingetreten, und er sagte ihr:

»Es ist schneller gekommen, als wir's dachten. Hier erhalte ich die Depesche: Heute um zehn Uhr ist ein Kronprinz geboren worden. Ich soll sogleich mit der Amme nach der Residenz eilen. Jetzt, Walpurga, beweist Eure Stärke. In einer Stunde reisen wir ab.«

»Ich bin bereit!« sagte Walpurga mit entschiedenem Tone. Sie fühlte sich aber doch so schwach, daß sie schnell niedersitzen mußte.


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