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Man kann also doch fort und alles auf einmal hinter sich lassen, das ganze bunte Einerlei dieser sogenannten großen Welt. Leb wohl, du Schloß und gib deinen Insassen ihren täglichen Amüsierkuchen! Lebt wohl, ihr Straßen mit euren Kaufläden und Kanzleien, Schenken und Kirchen, Theatern, Konzertsälen und Kasernen! Sei euch die Mode hold, und gebe euch viel Kunden, Klienten, Stammgäste, Applaus und Beförderungsordonnanzen! Versinke, du bunter Trödel der Welt! Mir ist wie einem Vogel, der von dem Dachfirst abfliegt in die weite Welt hinein. Wie man so albern sich selbst im Käfig hält, und die Thüre ist doch immer offen. Du großer Weltbüttel, der du uns einspundest, dein Name ist Gewohnheit ...
So dachte und sprach halblaut Irma vor sich hin, als sie im Wagen saß und hinausfuhr in die offene Welt.
Sie dachte noch einmal zurück, wie es jetzt in dem großen Hause ist, das sie verlassen. Man geht zur Tafel, man wartet, die Königin erscheint. Schade, daß der Oberhofmarschall nicht bei der Weltschöpfung zugegen war, da hat jedes seinen festen Platz und die Bedienung ist auf das gemessenste eingeübt. Die Königin spricht ihr Bedauern aus über die Abreise der guten Gräfin Irma. Alles lobt sie.
»Ach, sie ist doch gar so gut!«
»Und so lustig!«
»Ein wenig unbändig, aber gar aimable!«
Was gibt's denn aber sonst Neues? Bei einem Gegenstand bleiben, ist langweilig. Hilf, Samiel Schnabelsdorf!
»Fort mit allem!« rief Irma plötzlich. »Nicht mehr zurückdenken, vorwärts, zum Vater hin!«
Die Pferde griffen tapfer aus, als wüßten sie, daß sie das Kind zum Vater bringen. Irma war so ungeduldig, daß sie dem Diener auf dem Bock zurief, er möge doppeltes Trinkgeld geben, damit rascher gefahren werde.
Sie wollte zum Vater. Sie konnte es nicht erwarten, bis sie ihr schweres Haupt an seine Brust legte.
Was wollte sie? Ihrem Vater klagen? Womit sollte er ihr helfen? Sie wußte nichts. Nur das wußte sie, daß es bei ihm Frieden geben muß, sie wollte geschützt, geborgen, nicht mehr allein sein. Dem Vater gehorchen, ihm willfahren, höchstes Glück. Von seinem eigenen Selbst entlastet zu werden, nichts mehr zu wollen, als was einem andern Freude macht. O, wie wohl! Die ganze Erdenschwere ist abgelöst, so ist es den seligen Geistern, so mußten sich die Menschen Engel ausdenken, sie wollen nichts, sie bedürfen nichts, sie verändern sich nicht, sie wachsen nicht, sind nicht jung und nicht alt, sie sind ewig und wirken ewig für andre durch einen andern, und was sie wirken ist Wonne für die Welt und Wonne für sie, sie sind Strahlen aus der ewigen Sonne und sterben nicht und leuchten ewig.
In alles Unfaßliche hinein träumte Irma auf dem Wege, und die ganze Welt rief ihr immer nur das eine Wort: »Vater – Tochter!«
Sie beruhigte sich. So aufgeregt darf sie nicht in dem Schlosse ankommen.
Aufgeregtheit ist Schwäche, und er hat stets Stärke und ruhige Fassung in dir zu pflegen gesucht.
Irma zwang sich, für die Welt um sie her ein Auge zu haben.
Die Abenddämmerung brach ein, als man an der ersten Station ankam. Irma glaubte bereits den Atem ihrer Heimatsberge zu empfinden, und doch waren sie noch weit entfernt.
In raschem Lauf ging es weiter. Die Abendglocken läuteten, die Luft tönt für die Menschen da draußen, der Klang im weiten Aether kündet ihnen Zeit und Ewigkeit. Was wäre die Welt ohne Glockenton? Diese klingende Harmonie ist Ersatz für alle Schönheitsgebilde des Altertums.
Auch dieses Denken war Irma nicht recht. Es setzte sie immer über die Welt hinaus, und sie wollte sich ganz ansaugen an alles Gegenwärtige, Feste.
In den Dörfern, durch die man fuhr, und draußen auf den Feldern hörte man Gesang; er ward durchschnitten von dem Wagengerassel, und Irma dachte: wir machen zu viel Lärm in der Welt mit uns selbst und haben darum die Welt nicht.
Kein Denken war ihr recht, kein Ausschauen begnügte sie.
Die Sterne gingen auf am Himmel, aber was sind sie dem Menschen? Wer frei ist, wer nichts sucht auf der Erde, dem mögen sie glänzen; sie aber suchte, und sie sah im weiten Kreis der Welt nichts als zwei Augensterne auf sie gerichtet, und die waren ihres Vaters.
Weiter ging's und an den Stationen wurden lässig sich hinschleppende Pferde und verschlafene Postillone herausgerufen.
Mitternacht war längst vorüber, als man auf Wildenort ankam.
Vor dem Herrenhause stieg Irma aus und ging mit dem Diener allein und klopfte.
Der Vater hatte nicht erwartet, daß sie schon heute komme. Das große Haus mit den weitläufigen Wirtschaftsgebäuden war lichtlos. Die Hunde bellten, es kommen Fremde, kein Tier kennt hier die Tochter des Hauses, sie ist fremd.
Zwei Ackerknechte kamen herbei, sie staunten über das schöne Fräulein in der Nacht, sie mußte erst sagen, daß sie die Tochter des Hauses sei.
Sie ließ ihre Zimmer öffnen. Nicht weit davon schlief ihr Vater. Sie hatte Verlangen, ihn zu sehen, aber sie bezwang sich: er sollte ruhig schlafen und nicht wissen, daß sie neben ihm atmet. Auch sie schlief bald ein und erwachte erst am hellen Morgen.
Der alte Eberhard kam mit leisem Schritt in das Vorzimmer, wo bereits die Kammerjungfer saß.
»Die gnädige Gräfin schlafen noch; es war drei Uhr und begann zu dämmern, als wir hier ankamen,« sagte sie.
»Warum habt ihr so geeilt und euch nicht Ruhe gegönnt?«
»Ich weiß nicht, aber die gnädige Gräfin waren unterwegs so aufgeregt; es ging ihnen nicht rasch genug. Wenn die gnädige Gräfin etwas wollen, soll alles rasch geschehen, plötzlich.«
»Wer sind Sie, liebes Kind?«
»Die Kammerjungfer der gnädigen Gräfin.«
»Nein, wer sind Ihre Eltern? Wie kamen Sie zu Hofe?«
»Mein Vater war Bereiter beim Prinzen Adolar, und die Prinzessin königliche Hoheit ließen mich im Stift erziehen.«
Eine Kette von Abhängigkeiten von Geschlecht zu Geschlecht – dachte der Alte vor sich hin.
Die Kammerjungfer betrachtete ihn mit seltsamem Blicke.
Es war eine große breitschulterige Gestalt. Er trug die Gebirgstracht, und an einer Schnur um den Hals hing eine weiße Hornpfeife. Der breite, auf mächtigem Nacken sitzende Kopf, mit vollem, kurzgehaltenem grauen Barte und kurzgehaltenem grauen Haupthaar, etwas vorgebeugt, das braune Auge glänzte noch jugendlich frisch. Das ausdrucksvolle Antlitz war wie aus getriebener Arbeit, und die Gestalt wie die eines Ritters, der eben erst die Rüstung abgelegt und sich's bequem gemacht hat.
»Ich will meine Tochter sehen,« sagte der Alte und ging in das Nebengemach. Es war dunkel. Eberhard schlich auf den Zehen heran und zog den gründamastenen Fenstervorhang leise zurück, ein breiter Lichtstrahl fiel herein; er stand vor dem Bette und betrachtete, leise atmend, die Schlafende.
Schön war Irma anzuschauen. Das Haupt umwallt von dem langen aufgelösten, goldschimmernden braunen Haar, die klar gewölbte Stirn, die feine wie mutwillig ausgebogene Nase, der Mund mit seiner bogenförmig geschnittenen Oberlippe, das rote Kinn, die vollen Wangen von Pfirsichrot durchhaucht – es lag ein stiller Friede auf dem ganzen Angesicht. Die feinen schmalen weißen Hände hatte sie auf der Brust ineinander gefaltet.
Irma atmete schwer, und jetzt zuckten ihre Lippen wie von einem schmerzlichen Lächeln. Es ist ein schweres Schlafen mit gefalteten Händen auf der Brust. Die Hände lösten sich, aber die Linke blieb auf dem Herzen liegen; der Vater faßte sie behutsam und legte sie zur Seite. Irma schlief ruhig weiter. Unhörbar nahm sich der Vater einen Stuhl und setzte sich an das Bett seines Kindes. Zwei Tauben flogen auf das breite Fenstergesims und gurrten miteinander; der Alte hätte sie gern verscheucht, aber er durfte sich nicht bewegen. Irma schlief weiter und hörte nichts. Plötzlich, als die Tauben vom Fenstersimse aufflogen, schlug Irma die Augen auf.
»Mein Vater!« rief sie und schlang ihre weißen Arme um seinen Hals und küßte ihn. »Daheim! O, wie wohl, wie wohl! O, bitte, öffne noch den andern Vorhang, damit ich dich ganz sehe! O, bitte, öffne das Fenster, daß ich die Luft meiner Heimat einsauge! O, mein Vater! Ich bin fort gewesen und bin wieder bei dir, und du läßt mich nicht von dir. Du trägst mich auf deinen starken Armen. Ach, jetzt fällt mir ein, was du im Traume zu mir sagtest. Ich stand mit dir da oben auf dem Gamsbühel und da nahmst du mich auf den Arm und trugst mich und sagtest: Sieh, mein Kind, solange noch eines der Eltern lebt, ist man wie auf Armen getragen in der Welt. O, mein Vater, wo war ich? Wo bin ich denn?«
»Sei ruhig, mein Kind! Du warst am Hofe und bist wieder daheim. Du bist aufgeregt, beruhige dich. Ich will die Dienerin rufen. Ich habe mit dem Frühstück auf dich gewartet. In der Laube ist für uns beide alles bereit.« Der Vater küßte die Tochter auf die Stirn und sagte:
»Ich küsse alle deine guten und reinen Gedanken und jetzt laß uns als einfache verständige Menschen wieder beisammen sein.«
»O, deine Stimme, o, dies alles! Ach, in Vaters Haus daheim! Alles Leben draußen ist nur wie Schlafen in den Kleidern, daheim erst liegt man im Bett, da drückt kein Band mehr.«
Der Vater wollte gehen, aber Irma hielt ihn zurück.
»Es thut mir so wohl,« sagte sie, »hier zu liegen und zu dir aufzuschauen, mit dem Blicke, mit allen Gedanken dich zu haben.«
Der Vater strich ihr mit der Hand über die Stirne und sie sagte:
»Laß deine Hand hier liegen! Ich glaube jetzt an heilende Handauflegungen, ich erfahre sie an mir.«
Der Vater stand geraume Weile am Bett seiner Tochter und hielt seine Hand auf ihrer Stirne.
Endlich sagte er:
»Nun steh auf mein Kind, ich erwarte dich beim Frühstück.«
»Es freut mich, daß mir jemand befehlen kann: Steh auf!« sagte Irma.
»Ich befehle dir's nicht, ich rate dir's nur. Aber Kind! Mit dir muß Seltsames vorgehen, daß du nichts im wörtlichen Sinne nimmst.«
»Ja, Vater, Seltsames! Aber jetzt nicht mehr ...«
»So komme bald nach, ich erwarte dich.«
Der Vater ging hinaus und wartete in der Laube. Er stellte die beiden Tassen und die schöne Vase mit dem Blumenstrauß noch mehrmals hin und her und zupfte an dem weißen Linnen auf dem Tisch – da kam Irma im weißen Morgengewand.
»Du bist ... du bist größer, als ich gewußt habe,« sagte der Vater, eine hohe Röte durchflog sein ganzes Gesicht.
Er streichelte seiner Tochter die Wange und sprach dabei:
»Diese weiße Bucht an der Wangenröte, hier vom Kiefer bis zum Backenknochen, die hast du ganz wie deine Mutter.«
Irma lächelte, dann faßte sie wieder beide Hände des Vaters und sah ihm in die Augen, und das war ein Blick, so glückselig, daß dem Alten, der jederzeit einen stetigen Gleichmut beobachtete, doch die Augen übergingen. Er suchte es zu verbergen, Irma aber sagte:
»Das thut deiner Heldenkraft keinen Eintrag. O Vater, warum sind wir Sklaven unsrer selbst? Warum sollen wir Scheu tragen, uns zu geben wie wir sind? Dein großer Grundsatz ist ja: unsrer Natur folgen! Warum folgen wir nicht immer unsrer inneren Natur? O Vater, laß mich hinausjubeln in meine Heimatberge, in die Wälder und die Seen: Ihr ewigen Freunde, ich bin da, ich bin bei euch und wir wollen miteinander leben; haltet mich fest und ich will treu sein wie ihr! Und du, Sonne, laß dich grüßen, und da drüben, du Hügel, darunter meine Mutter ruht – –«
Sie konnte nicht weiter reden. Nach geraumer Weile sagte der Alte:
»Wohl, mein Kind, sollten wir uns ganz ausleben, rein als Natur; aber es ist nicht Scheu vor uns selbst, nicht selbstauferlegte Sklaverei, weshalb wir solche Scenen, solche gewaltsame Aufregungen vermeiden und umbiegen; es ist, weil wir tief in uns fühlen, daß der nächste Moment, die Stunde, die darauf folgen muß, kahl, leer erscheinen müßte; es wäre ein Sprung von dem aufgeregten Empfindungsleben in die alltägliche Welt. Darum halten wir uns zurück und sollen es thun, denn diese Empfindungen sollen sich nicht in einem sogenannten andächtigen Aufschwung erschöpfen, sie sollen hindurchgehen durch all unser Leben und Denken, durch alles Kleine und Unscheinbare, was wir thun: da ist die Heimat unsrer höchsten Gedanken. Ja, mein Kind, es kommt dahin, daß gerade diejenigen, die das Leben so spalten und die eine Seite entweihen, es zu einem lasterhaften machen und sich dabei heimlich damit schmeicheln! ach, wie schön, wie groß haben wir doch empfunden, und wir sind dessen immer fähig.«
Die alte Wirtschafterin brachte den Kaffee, Irma schenkte ein und berichtete, daß sie auch Emmy mit ihrem Bräutigam erwarte. Eberhard sagte: »Vor Jahren, als Emmy hier war, streiftest du an eine ähnliche Gedankenreihe, wie ich jetzt. Wir waren droben beim Gamsbühel, wo man den Anblick auf den großen See hat, und erwarteten den Sonnenaufgang. Emmy, in ihrer nüchternen Geradheit, sagte: ›Ich finde, daß es nicht der Mühe wert ist, sich deshalb den Schlaf zu brechen und so viel Mühe zu machen; ich finde den Sonnenuntergang ebenso schön und man hat nicht diese Mühe um ihn.‹ – Was sagtest du da?«
»Ach, guter Vater, ich weiß es nicht mehr.«
»Aber ich weiß es noch; du sagtest: Der Sonnenaufgang ist viel erhebender, aber ich weiß nicht, was ich nach solchem Erhobensein den Tag über thun soll, das dessen würdig wäre und sich ihm anschließe. Darum ist der Sonnenuntergang besser für uns, weil sich dann die Welt verhüllt und uns schlafen läßt. Nach dem Höchsten kann man nur schlafen oder Musik machen.«
»Ach, Vater, ich denke nicht mehr so. Gestern während der ganzen Fahrt verfolgte mich immer der einzige Gedanke: Was thun wir denn eigentlich auf der Welt? Die Bäume würden wachsen ohne uns, die Tiere auf dem Feld und in der Luft und im Wasser würden leben ohne uns. Alles hat von selbst etwas zu thun auf der Welt, der Mensch nur muß sich etwas zu thun machen. Und da malen sie und bauen sie und ackern und studieren und exerzieren sich zum gegenseitigen Totschlagen, und der einzige Unterschied zwischen Mensch und Tier ist doch nur, daß die Menschen ihre Toten begraben.«
»O mein Kind, so weit hast du dich hinausgewagt? Ich bin froh, daß du wieder bei mir bist. Du mußt viel durchgekämpft haben. Ich hoffe, du sollst wieder lernen, daß einfach naturgemäß, das heißt vernunftgemäß leben unsre Bestimmung ist. Schau einmal die Welt an!« fuhr er lächelnd fort. »Ein einundzwanzigjähriges Mädchen und eine Gräfin dazu fragt: wozu bin ich auf der Welt? Ei, mein Kind, schön sein, gut sein, so schön als möglich sein, in der äußeren Gestalt und im inneren Wesen. Halte dich so in der Welt, daß du wünschen kannst, jeder möge dich von Grund aus kennen ... Doch jetzt genug davon.«
Es war eine Stunde voll Glückseligkeit, wie Vater und Tochter zusammen in der Laube saßen, und Irma sprach wiederholt den Wunsch aus, daß sie so fortleben könnten.
Die ganze Welt war für die beiden nicht da und sie nur selbander auf der Welt.
»Du bist mein großes Mädchen geworden,« sagte der Vater. Er hatte eigentlich sagen wollen: »Du mußt viel erlebt haben, da du, heimgekehrt zu deinem Vater, nichts Kleines, nichts Persönliches zu erzählen hast,« – er wollte das sagen, aber er wiederholte nur: »Du bist mein großes Mädchen geworden.«
»Und Vater,« sagte Irma, »du befiehlst mir nun, daß ich bei dir bleibe?«
»Du weißt es, seitdem du zum Bewußtsein gelangt, ich befehle dir nichts,« erwiderte der Vater, »du sollst nach deiner Ueberzeugung leben. Ich verlange das Opfer deines Willens und deiner Vernunft nicht.«
Irma war still. Es war ihr nicht geworden, was sie gehofft hatte, sie sah sich wieder auf sich zurückgewiesen, selbst vollbringen mußte sie alles: und sie will es.
Ein Forstknecht kam und fragte Eberhard nach Anordnungen im Walde. Eberhard erwiderte, daß er selbst hinausreite. Irma bat, ihn begleiten zu dürfen, und bald erschien sie wieder im Jagdgewande und ritt mit ihrem Vater über die Wiesen in den Wald.
Die Mienen Irmas wurden wieder kühner, als sie, vom mutigen Pferde getragen, durch den schattigen, tauigen Wald dahinritt.
Während der Vater die Waldarbeit anordnete, lag Irma an einer kleinen Anhöhe auf dem Moose unter einem breiten Tannenbaum. Sie erwachte plötzlich, denn der Hund des Vaters, der sich schnell an sie gewöhnte, hatte ihr die Hand geleckt; sie stand auf, ging nach dem Felde am Waldrand, und das erste, was ihr Auge traf, war ein vierblätteriges Kleeblatt. Sie bückte sich rasch, brach es ab und steckte es zu sich. Der Vater kam; er sah ihr strahlendes Gesicht, und sie sagte:
»Wie wohl hat mir dies Ruhen an der Erde gethan!«
Der Vater antwortete nichts. Es schien ihm nicht nötig, daß man alle innerste Empfindung müde spricht. Irma schaute betroffen auf; in der Welt der Konversation wird auf jede Bemerkung kleine Münze herausgegeben.
Sie kehrten bald wieder heim.
Am Mittag saßen sie beisammen im kühlen Bibliothekzimmer. Ueber der Thüre stand in goldenen Buchstaben der Spruch Ciceros in deutscher Uebertragung:
»Wenn ich allein, bin ich am wenigsten allein.«
Der Vater schrieb. Nur manchmal warf er einen Blick auf sein Kind, das dort im Shakespeare las. Das liest jetzt die höchsten Gedanken, nimmt sie in sich auf, und sie werden zu seiner Seele. Eberhard empfand das Glück, seinen eigenen Blick zu sehen in einem fremden Auge, seine eigenen Gedanken zu hören aus fremdem Munde, und das ist Auge und Mund des Kindes; es hegt deine Seele in sich, und doch wird das alles wieder selbständig, neu, verbindet sich mit der angeborenen Natur und mit eigentümlichen Eindrücken. Das Ideal, das er sich in blühenden Jugendtagen geträumt, es stellte sich taghell und leibhaftig ihm dar.
Eberhard schloß bald sein Forstbuch und lächelte vor sich hin: er war nicht so stark, als er geglaubt hatte, er konnte doch nicht fortarbeiten heute wie gestern, nun sein Kind da war.
Er setzte sich zu Irma, und auf die Werke Spinozas und Shakespeares deutend, die stets auf seinem Arbeitstische lagen, sagte er:
»Vor diesen beiden ist die ganze Welt offenbar. Ich habe die, die vor Jahrhunderten gelebt, auf meinen stillen Bergen immerdar bei mir. Ich werde dahingehen und keine Spur meines Denkens hinterlassen, aber ich habe das ewige Leben gelebt mit den höchsten Geistern. Der Baum, das Tier, sie leben nur für sich und nur die Spanne Zeit, bis sie sterben. Wir empfangen mit dem Leben den Geist von Jahrtausenden, und wer in sich in Wahrheit ein Mensch geworden, in dem ist die ganze Menschheit. So lebst auch du mit deinem Vater fort, und mit allem, was echt und schön ist in der Geschichte des Menschengeschlechtes.«
Es war lange Zeit still im Bibliothekzimmer. Da fragte der Vater:
»Ist der Wagen, in dem du gekommen, nicht ein Hofwagen?«
»Allerdings.«
»So willst du also wieder an den Hof zurückkehren?«
»Vater, laß uns das jetzt nicht besprechen. Ich bin nicht so stark wie du, sofort vom Höchsten wieder in das Alltägliche zurückzukehren.«
»Mein Kind, das Alltägliche ist das Allerhöchste.«
»Aber ich möcht' jetzt gar nicht wissen, daß es einen Hof gibt, daß ich je etwas andres gewesen bin oder werden soll, als ein Stück deines Herzens und deiner Seele.«
»Nein, du sollst für dich leben. Aber du kannst, wenn du bei mir bleiben willst, den Wagen ja einfach wieder zurückschicken.«
»Ich werde, wenn auch nur auf einige Zeit, doch wieder zurückkehren müssen. Ich habe nur Urlaub, nicht Abschied genommen. Mein Vater, das beste wäre, du würdest mich begleiten und gleich wieder mitnehmen.«
»Ich kann nicht an den Hof kommen, das weißt du, und ich traue dir Kraft genug zu, daß du dich selbst mitnimmst. Ich habe dich heute betrachtet, wie du im Schlafe lagst. In dir ist kein Falsch, über dieses Antlitz stürmte noch keine schlimme Leidenschaft. Ich weiß, dein Bruder will dich verheiraten; auch ich wünsche, daß du eine brave Gattin und Mutter würdest. Ich fürchte nur, du bist schon zu sehr dein eigen geworden, um noch eines andern zu werden. Nun, wie es auch sei. Mein Kind, sieh hinaus ins Weite. Da blühen Millionen Blumen, und sie blühen still; kommt ein Wanderer, der seinen Blick an ihnen ergötzt oder gar eine bricht, nun gut, so hat sie für ihn gelebt; verblüht sie ungesehen im stillen Grunde, so hat sie für sich gelebt. Doch, mein Kind, laß dich durch meinen Wunsch nicht irren. Wie lange hast du Urlaub?«
»Vierzehn Tage.«
»So laß uns treu und froh zusammen sein und dann thue, was deiner Vernunft angemessen ist,«