Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Erster Band
Berthold Auerbach

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Zehntes Kapitel.

Die Tage flossen gleichmäßig dahin.

Eberhard hatte keinerlei Beziehung zu Nachbarn, nur mit dem Bürgermeister des Dorfes, der zugleich Landtagsabgeordneter war, verkehrte er gern und ordnete mit ihm die Verhältnisse der Gemeinde.

Irma war viel allein. Sie las, stickte, malte und sang. Schon nach wenigen Tagen trat eine Ernüchterung ein. Was ist dies Leben? fragte es in ihr. Wozu? Ich arbeite für meinen Putz, Putz für meine Seele, meinen Körper. Wozu? Der Spiegel sieht mich, die Wände hören mich, und mein Vater eine Stunde am Mittag und eine Stunde am Abend.

Sie suchte ihre hinaufstrebende Natur zu bezwingen und es gelang ihr. Nur das konnte sie nicht bezwingen, daß sie an einen Entfernten dachte, und sie schaute sich um, als hörte sie seine Tritte, und es war, als atmete etwas neben ihr. Und dieser Mann war ... der König.

Sie mußte denken, wie er auf einen Brief von ihr wartet, und was erhält er statt dessen? Die Nachricht, daß sie abgereist. Warum beleidigt und kränkt sie ihn?

Sie war mehrmals nahe daran, ihm vom Hause des Vaters aus zu schreiben; sie wollte ihm bekennen, daß sie vor ihm, nein, nicht vor ihm, vor sich selbst geflohen sei. In Gedanken die Briefworte fassend, sagte sie vor sich hin: Flucht ist nicht Feigheit, nur ein äußerstes Zusammenfassen der Kraft, ein Losreißen, Erlösen seiner selbst. Das wollte sie ihm erklären. Er sollte nicht gering von den Menschen, vor allen nicht von ihr denken; seine große weitwirkende Thatkraft sollte nicht angekränkelt, nicht gestört werden von dem Bewußtsein, daß die Menschen das Hohe nicht fassen. Sie war ihm und war sich selbst schuldig, ihm das zu erklären. Aber im Schreiben läßt sich das nicht so kundgeben. Sie wird zurückkehren und ihm alles sagen. Und dann werden sie fern voneinander im Höchsten zueinander denken, und es lohnt sich, ein Leben einsam zu verbringen, wenn man nur eine Minute die höchste Gemeinsamkeit empfunden und Reinheit und Treue bewahrt vor sich und vor andern.

Irma war glücklich in dieser Selbstbefreiung.

Sie hielt sich zurück, vor ihrem Vater vom Hofe zu sprechen. Dennoch entfiel ihr manchmal unwillkürlich die Bemerkung, wie der König und die Königin dies und jenes gelobt, dies und jenes gesagt, und es ließ sich dabei nicht verkennen, daß sie darauf einen besonderen Wert legte.

»So sind die Menschen,« sagte Eberhard lächelnd, »sie wissen selbst, was sie sind, sollten es wissen, und sie geben dem Fürsten das Prägrecht. Er hat zu bestimmen: Du bist so und so viel wert, du ein Dukaten, du ein Thaler, du eine Spielmarke, du geheimer Rat, du Oberst! Die Schöpfungsgeschichte erneuert sich immer. Da heißt es, daß der Schöpfer dem Menschen die Tiere vorführte, daß er ihnen Namen gebe; jetzt kommt das Menschengetier zum Fürsten und sagt: Gib mir einen Namen, bekleide mich mit einem Titel, sonst bin ich nackt und bloß und schäme mich.«

Irma zuckte bei diesen scharfen Worten. So weit hat die Einsamkeit den Vater gebracht. Sie konnte sich doch nicht enthalten hinzuzusetzen:

»Du thust dem König vor allem Unrecht. Er ist eine tiefe Natur, voll Edelsinn und Geist –«

»Voll Geist! Ich kenne das!« erwiderte Eberhard. »Nicht wahr, er kann viel fragen, viel Aufgaben stellen, will zum Dessert einen Ueberblick der Kirchengeschichte, der Physiologie und überhaupt sonst eine beliebige Wissenswürdigkeit haben, aber natürlich nie selbst und unausgesetzt arbeiten, nie ein Werk ganz lesen, immer Extrakte, immer Essenzen! Ich kenne das! Und die höfischen Koloratursänger geben dann ihre Gedanken preis. Glaube nicht, mein Kind, daß ich das Bestreben des Königs unterschätze. Man hat ihm stets gesagt: Du bist ein Genie – man redet den Königen immer ein, sie seien Genies, militärische, staatsmännische, kunstkennerische, alles – man hat ihm die Phrase unterschoben. Was sich einem Fürsten naht, muß sich auch geistig in die Hoftracht kleiden; er sieht Menschen und Dinge nicht wie sie sind, es kostümiert sich ihm alles in gefälliger Form. Ich glaube, der König hat trotzdem das ehrenhafte Bestreben, die Wirklichkeit zu sehen; das ist viel, aber er kann nicht heraus aus dem Zauberbann der Phrase.«

Die Lippen Irmas bebten. Sie glaubte nicht, daß ihr Vater die Absicht habe, ihr das Interesse für den König zu töten, er konnte nicht wissen, daß es vorhanden war; aber dieser Widerspruch reizte sie, und sie erkannte mit Schrecken, daß hier keine Hilfe sei. Sie konnte mit ihrem Vater allein leben, wenn er, wie sie, den hohen Mann ehrte. Es durfte seinem republikanischen Geiste nicht widersprechen, und vor allem seiner Gerechtigkeit nicht, den hohen Geist zu ehren, auch wenn er im Fürsten erscheint. Nun aber zertrümmerte er jede Brücke des Verständnisses und der Gerechtigkeit. Hätte ein andrer so vom König gesprochen, sie hätte ihn ihren Zorn fühlen lassen; jetzt war es Beherrschung und Unterwerfung genug, daß sie schwieg.

In ihrer Seele zog sich etwas zusammen und bildete einen Verschluß, den niemand mehr öffnen konnte.

Sie war fremd im väterlichen Hause und fühlte es jetzt doppelt, da sie hier nie daheim gewesen. Sie zwang sich zu Heiterkeit und Gleichmut.

Eberhard sah, daß sie sich zu etwas zwinge; aber er glaubte, das sei nur noch der Kampf zwischen Hofleben und Einsamkeit. Er half ihr nicht, sie sollte diesen Kampf allein austragen, dann ist wirklicher Friede.

Am Sonntagmorgen – Eberhard ging nie in die Kirche – sagte er:

»Hast du Ruhe, eine längere Erzählung anzuhören?«

»Wohl, gewiß.«

»So will ich dir mein Testament in gesunden Tagen übergeben.«

»Bitte, Vater, thue das nicht. Willst du es mir erlassen?«

»Ich meine nicht ein Testament über mein Besitztum, nur über das, was ich selbst bin. Wir haben kein Bild deiner guten Mutter, ihr Kinder habt keine Anschauung von ihrer Erscheinung, die so rein, so hold, so sonnengeboren war. Ich möchte dir dafür ein Bild meines Lebens geben. Bewahre es. Wer weiß, wann ich wieder dazu komme. Frage mich, wenn du etwas nicht verstehst, oder wenn es dir der Mißdeutung ausgesetzt erscheint. Mich unterbricht kein fremder Einwurf, ich setze mein Leben fort, mich stört nichts, ich habe mich gewöhnt, mein Gut zu bebauen, den Knechten Anordnungen und Antworten zu geben und gleich darauf unabgebrochen mich wieder in die Konsequenz des Denkens zu versetzen. So unterbrich auch du mich, wenn du magst ... Mein Vater, als reichsfreier Graf, behielt den Stolz auf seine Reichsunmittelbarkeit; bis an sein Lebensende erkannte er die Einheit des Königreiches nicht an, und fragte stets: Wie geht es drüben? Er betrachtete sein Gebiet noch als abgeschlossen und seine Familie allen fürstlichen Häusern ebenbürtig.«

»Und warum, lieber Vater,« fragte Irma, »willst du diese ehrenschöne, sich fortsetzende Erinnerung zerstören?«

»Weil die Geschichte sie zerstört hat, und mit Recht. Es müssen immer neue Geschlechter an die Spitze der Menschheit treten, das allein erhält die Menschheit am Leben. Doch, ich wollte dir nicht von meinem Vater erzählen. Ich hatte eine glückliche Jugend in diesem Hause. Mein Lehrer war zwar Geistlicher, aber dabei ein freier Mensch. Das Jahr, bevor mein Vater starb, trat ich ins Militär. Ich darf sagen, daß ich eine Figur von guter Haltung war. Ich hatte die äußeren Mittel dazu, und einen eisernen Körper. Ich stand bei meinem Regiment in der Bundesfestung. Bei einem tollen Ritte stürzte ich, und verrenkte mir die Hüfte, so daß ich lange liegen mußte. Hier lernte ich unsern Regimentsarzt Gunther näher kennen. Hat dir der Leibarzt nie von unserm Zusammensein erzählt?«

»Wohl, aber nur kurz, nur in Andeutungen. Der König sagte mir noch in den letzten Tagen, ich hätte recht: der Leibarzt verschreibe auch gesprochene Rezepte nur dann, wenn sie verlangt werden und nötig sind.«

»So? Also der König hat dir gesagt, du hättest recht? Sie haben recht – das ist ein glücklichmachender Orden auf einen Tag, vielleicht auf länger, nicht wahr?«

»Vater – wolltest du nicht weiter erzählen von dem gemeinsamen Leben mit Gunther?«

»Ach, Kind, das war eine wunderbare Zeit. Ich versenkte mich mit ihm, soweit ich konnte, in das Studium der Philosophie. Ich weiß noch, als war's eben erst, die Stelle am Festungswall und die Stunde zu bezeichnen – es war ein trüber Herbstabend, ich sehe noch die Blätter, die von den Bäumen fielen – als mir Gunther auf dem Spaziergang zum erstenmal das große Wort des Weltweisen darlegte: Im Grundwesen eines jeden Dinges liegt es, sein Dasein zu bewahren. Ich stand still. In jenem Augenblick kam es über mich, wie eine Offenbarung und verließ mich nie mehr. Es ward verdeckt von Lebensereignissen, aber immer lebte es in mir fort: Bewahre dein Sein! Ich habe diesem großen Satze treu gelebt, leider – wie ich jetzt sehe – nur zu sehr und selbstisch. Ein Mensch lebt nicht voll, wenn er nur für sich lebt und sein Dasein bewahrt. Doch das werde ich dir ohne Scheu beichten, gerade dir. Das große Souveränitätsrecht jedes Menschen – ich habe es erst später ganz und recht erkennen gelernt. Ich hatte mancherlei gedacht, aber nie in geschlossenem Zusammenhange. Du kannst dir nicht vorstellen, was das ist für einen beliebten und angesehenen Offizier, sich an die Philosophie zu wagen, wie das dem militärischen Dienste widerspricht, vor den Vorgesetzten ungehörig, vor den Kameraden lächerlich erscheint. Der Soldatendienst müdet in täglichen, größtenteils überflüssigen Exerzitien den Körper ab, da ist es schwer, sich in eine geistige Disziplin einzuarbeiten. Ich meldete mich oft krank, verbannte mich beim schönsten Wetter in die Stube, nur um meinen Studien obliegen zu können. Unser Regiment wurde wieder nach der Residenz zurückverlegt, Gunther nahm mein Anerbieten an, ihn frei zu machen. Er wurde akademischer Lehrer, und ich besuchte Vorlesungen. Aber ich sah die Lücken meines Wissens und sehnte mich danach, nur der Vollendung meiner Bildung zu leben. Ein unerwartetes Ereignis brachte mich dahin. Ich war Kammerjunker geworden und lebte viel am Hofe. Schon damals sah ich, daß ein unausrottbarer Knechtsinn in den Menschen lebt; jeder freut sich, daß andre unter ihm stehen, und läßt sich um diesen Preis gern gefallen, daß wieder andre über ihm stehen. Die Fürsten sind unschuldig an dieser Stufenleiter des Unsinns. Ich war eines Tages auf der Sommerburg, der König war zur Jagd gefahren, die Stunde der Tafel schon längst da, vom König aber sah man nichts. Da liefen nun die Kammerherren und Hofdamen und wie die Titel alle heißen, im Parke umher, saßen bald da bald dort auf einer Bank, schauten aus mit Ferngläsern, plauderten und hielten doch bei keinem Gespräche fest, denn die geputzten Herren und Damen, jung und alt, hatten ganz gemeinen Hunger, und doch kam ihr Hirte nicht, der ihnen Futter in die Raufe steckte. Dein Ohm Willibald beschwichtigte einstweilen seinen knurrenden Magen mit kleinem Backwerk, das den Appetit nicht verdarb. Es verging Stunde um Stunde, man spazierte umher, wie die Juden am langen Tag. Aber man lachte und scherzte, man wollte wenigstens lachen und scherzen, und der Magen knurrte. Und dein Ohm hatte daheim dreißig Pferde im Stalle und Ochsen und Kühe genug, und ringsum weite Felder, und hier diente er und wartete auf, denn er setzte einen Stolz darein, Oberstkämmerer zu sein. Damals, mein Kind, ich war so alt wie du jetzt, damals schwur ich mir im Herzen: ich werde nie und nimmer dienen, keinem Menschen. Endlich rollte der Jagdwagen des Königs daher, alles grüßte, alles machte glückselige Gesichter, und doch war der Herr übel gelaunt, der General Kont, der mit ihm zur Jagd gewesen, hatte einen Zwölfender geschossen, während es in der Ordnung gewesen wäre, da die Majestät nichts getroffen, auch nichts zu schießen. Der General war unendlich unglücklich über sein Jagdglück, und als das schöne Tier ankam und im Schloßhof abgeladen wurde, hing sein Kopf so traurig wie der des toten Tieres. Er entschuldigte sich nochmals und bedauerte, daß nicht Majestät das Wild geschossen: der Fürst indes wünschte ihm Glück, freilich mit sehr süßsaurer Miene. Der König sah mich und fragte: ›Wie geht's?‹ – ›Sehr hungrig, Majestät,‹ erwiderte ich. Der König lächelte und der ganze Hofstaat entsetzte sich über meine Ungehörigkeit.

»Wir mußten nun noch eine halbe Stunde warten, bis der König sich umgekleidet, dann ging's zur Tafel.

»Mein Kind, wenn du einem Hofmanne diese Geschichte erzählst, wird er mich entsetzlich einfältig finden. Aber an jenem Abend aß ich zum letztenmal an einer Fürstentafel.

»Ich sehe, ich bin geschwätzig, ich bin ein alter Mann. Ich wollte dir nur sagen: Sieh dich um, sieh, wieviel Menschen verbraucht werden und verbraucht werden müssen.

»Der Gedanke der Fürstenhoheit ist groß und schön. Der Fürst soll die Staatseinheit in sich darstellen. Aber so schön der Gedanke in seinem Ursprung – daß zu seiner Vollführung eine Pyramide von abgenützten, ihrer vollen Menschenwürde entkleideten Menschen nötig ist, das macht mich unversöhnlich damit. »Irma, es ist mir, als müßte ich das Testament meiner Seele in deine Seele legen. Von dem Augenblicke, wo du fühlst, daß ein Stück aus der Krone deiner Menschenwürde genommen wird, von diesem Augenblicke an fliehe, ohne Haß und Verachtung, denn wer Haß und Verachtung in der Seele trägt, ist schwer belastet und kann nie frei aus sich atmen. Ich hasse und verachte diese Welt nicht, ich sehe in ihr nur eine fremde, vergangene, weit entfernte, und kann niemand um seines Glaubens willen, weil er nicht der meine, hassen und verachten.

»Doch – ich wollte dich nicht lehren, ich will erzählen. Ich nahm meinen Abschied und bezog nun als wirklicher Student die Universität, verließ aber auch diese bald wieder, um mich auf einer landwirtschaftlichen Schule auszubilden. Ich ging dann auf Reisen. In Amerika war ich, wie du weißt, ein ganzes Jahr. Ich hatte das Verlangen, jene Neubildung der Geschichte kennen zu lernen, wo die Menschen, auf den eingeborenen freien Geist gestellt, nicht immer rückwärts schauen nach Palästina, nach Griechenland, nach Rom. Ich fand die Zukunftswelt in Amerika nicht. Noch gärt dort alles, wie in einem urweltlichen Prozesse. Ob eine wirklich neue Menschheit daraus geboren wird, ich weiß es nicht. So viel aber weiß ich, daß die ganze Menschheit einer neuen sittlichen Bindung entgegenharrt. Ich werde wegsterben, ohne sie erlebt zu haben.

»Ob die Welt der Zukunft sich im reinen Gedanken fassen wird, oder aufs neue an einer beispielgebenden Persönlichkeit? Ich hoffe das erste, aber ich sehe die Verwirklichung noch nicht.

»Nun weiter in meinem Leben:

»Ich kehrte heim. Ich hatte das unerschöpfliche Glück, deine Mutter zu finden. Sie stand einsam in der Welt. Ich habe das höchste Glück empfunden, es gibt kein zweites mehr. Deine Mutter starb drei Jahre nach deiner Geburt. Ich kann dir nicht einzelnes von ihr erzählen, ihre ganze Erscheinung war Reinheit und Kraft. Die Welt nannte sie kalt und verschlossen, und sie war heiß und offen, schön bis ins Herz hinein, aber nur für mich. Ich weiß, daß ein nur im Besten und Mildesten lebender Mensch aus mir geworden wäre, wenn sie mir geblieben. Ich darf nicht daran denken.

»Es sollte nicht sein.

»Aber ich bin in mir geheiligt durch sie; kein niederer Gedanke lebt in meiner Seele und keine That vollzog ich seitdem, die ich nicht dir, meine Tochter, bekennen dürfte.

»Sie starb, und ich stand mit meiner heftigen Natur wieder dem Rätsel des Lebens gegenüber.«

»Ich konnte euch Kinder keine Stiefmutter geben und ward ein Stiefvater. Ja, laß mich's sagen, ich bin unbarmherzig ehrlich gegen mich. Ich weiß, wer mich hörte, würde das Wort für übertrieben halten, die Mode ist ja allgütig, aber ich kann mich nicht freisprechen: ich habe meine Kinder ausgesetzt! Dich gab ich der Tante, bis du ins Kloster kamst, Bruno blieb bei mir, bis er in ein Erziehungsinstitut gebracht wurde. Ihr wart in vornehmen Instituten mit hohen Honoraren, aber ihr wart dennoch ausgesetzt. Ihr kanntet euren Vater nicht, ihr wußtet, daß er lebt, aber ihr habt nicht mit ihm gelebt, ihr seid als ausgesetzte Kinder aufgewachsen.«

»Es sind erst zwei Jahre, seit ich mir das Wort bekannt habe. Es hat mir wochenlang den Schlaf, es hat mir Denken und Empfinden geraubt, aber ich halte es dennoch fest. Der Dämon, der Sophistik heißt, hat mir immer gesagt: Du hättest deinen Kindern nichts sein können, du hattest noch zu viel an dir selbst zu arbeiten, und es ist besser, sie werden aus sich selbst zu freien Menschen, als durch dich – es mag eine Wahrheit darin sein, aber trotzdem: ich habe meine Kinder ausgesetzt.«

Der Alte hielt eine Weile inne. Irma legte ihre Hand auf die seine und streichelte sie leise.

»Genug! Es ist heraus.«

»Ich lebte hier einsam und doch nicht allein, ich verkehrte mit den besten Geistern und bewirtschaftete mit Leichtigkeit unser Gut.«

»Ich widmete mich den vaterländischen Dingen, zog mich aber bald zurück. Ich kann keiner Partei angehören, auch der nicht, die sich zur Freiheit bekennt. Es gehören viele hochherzige Männer zu ihr, die ich verehre, aber sie dulden auch Frivole unter sich, die es wagen, von Gleichheit und von allem Höchsten zu sprechen und sich nicht scheuen, Wesen ihrer Art zu ihren Opfern zu machen. Frivole Junker sind nur lasterhaft, frivole Demokraten sind Ideenschänder. Wer nicht wünschen kann: das ganze Volk möge so denken und handeln wie ich – der hat nicht das Recht, sich einen braven und freien Menschen zu nennen.«

»Wenn die Freiheit nicht Sittlichkeit gründet – was unterscheidet sie dann vom Wesen der Tyrannei? Was ist Tyrannei? Der egoistische Verbrauch uns gleichberechtigter Wesen. Ein Tyrann ist ein Gottesleugner, ein frivoler Freiheitsmann ist Gotteslästerer – ich nenne den Inbegriff alles sittlichen Weltgesetzes Gott. Ich war ein Einsiedler mitten unter den Menschen und bin es nun lieber und folgerichtiger fern von ihnen.

»Ich lebe nun hier ein einsames Leben.«

»Ist das nicht traurig, so allein?« fragte Irma.

»Es würde sehr traurig sein, wenn ich mich allein fühlte,« erwiderte Eberhard! »aber der Mensch muß sich nicht allein fühlen, auch wenn er allein ist. Hier herauf kommt keine Langeweile und keine Vereinsamung. Die Menschen, die nicht in sich sind, sind allein, wo sie auch seien. Doch laß mich weiter berichten.

»Am meisten schmerzte mich der Abfall Gunthers. Aber ich that ihm Unrecht. Er war immer ein Freund des Hoflebens; er sah darin eine Kulmination der Bildung. Er war stets zu ästhetisch: Das schöne Leben, der Luxus, der Komfort, an alles das hab' ich ein Recht und es muß mir werden, sagte er oft schon früher; das führte ihn an den Hof und ließ ihn von der freien Wissenschaft abfallen, sich und mich verlieren.

»Man wird dir gesagt haben und vielleicht hast du es auch selbst gedacht, ich sei ein Menschenfeind. Wer die Menschen haßt, ist ein eitler, eingebildeter Narr. Was ist er denn mehr? Was ist er denn andres als sie? Ich hasse die Menschen nicht. Ich weiß nur, daß die meisten falsch aufgeputzt sind, sich zu etwas machen oder von andern zu etwas gemacht werden, was sie eigentlich nicht sind. Sie geben sich den Schein – sie wissen es nicht, daß es meist nur Schein ist – an Dingen Teilnahme zu haben, die sie eigentlich nichts angehen. Ich bin viel getäuscht und betrogen worden, aber wenn ich mir's ehrlich sage, so ist es, weil ich mich selbst getäuscht habe. Ich habe mein Bestes hergegeben und habe geglaubt, die andern seien mit mir, und es war doch nur Höflichkeit, was sie zur Beistimmung in Wort und Miene brachte. Sie heuchelten nicht, ich war es, der mich täuschte. Ich glaubte in einer Welt voll Zustimmung und Einklang zu sein, und im Grunde war ich allein, ganz allein. Jeder ist allein, der eine Natur für sich ist; es gibt keine volle Zustimmung. Sich selbst ausleben, das ist alles. Die meisten Menschen wollen aber kein Selbst sein, und die es nicht sein wollen, sind besser daran. Sie leben, wie's der Brauch ist, die Sitte erfordert, ihnen geht nichts Gegenwärtiges nahe, nichts Vergangenes nach; das hüpft, das springt, das tändelt von Stimmung zu Stimmung, von Genuß zu Genuß, und sie sind glücklich dabei und froh, wenn sie im Spiegel ihr altes Gesicht sehen; das verändert sich nicht, das bleibt sich gleich. Hätten die Menschen immer leibhaftig den Ausdruck dessen, was jetzt ihre Seele bildet, du würdest niemand erkennen, niemand von gestern, niemand von der letzten Stunde. Mein Kind, ich weiß nicht, wohin ich dich eigentlich führe: ich wollte dir nur sagen, daß ich kein Menschenfeind bin. Ich liebe alle Menschen. Ich weiß, daß sie im Grunde nichts andres sein können, und unter all der krausen und überladenen und fütternden Maskerade steckt doch in jedem schließlich eine ehrliche Natur; sie können sie nur nicht herausholen, und was sie Falsches, Hinterlistiges, Böses thun, da bleibt doch zuletzt der Spruch des großen Weisen: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun. Und nun laß mich das noch sagen: Ich verzeihe auch deinem Bruder. Er hat mich schwer gekränkt, denn die tiefste Kränkung, die ein Mensch erfahren kann, ist die von seinem Kinde.

»Ich kann Bruno zu nichts zwingen und will es nicht. Es ist eine seltsame Welt! Durch alle Zeiten zieht sich der Kampf zwischen Vater und Sohn. Nun ist es so geworden mit uns: mein Sohn vertritt die alte Zeit und ich die neue. Ich muß es tragen.

»Ich weiß, daß die Freiheit allein das Natur- und Vernunftgemäße ist, aber man kann auch zur Freiheit niemand zwingen. Ich will auch dich zu nichts zwingen. Gewöhnliche Frauennaturen lassen sich lieber befehlen als überzeugen; ich halte dich für keine gewöhnliche, du sollst es nicht sein, du sollst –«

Eberhard hatte im voraus gesagt, daß er sich nicht unterbrechen lasse, und nun kam doch etwas, was ihn unterbrach.

Ein Bote brachte einen Brief an Irma. Sie erkannte die Schrift ihrer Freundin Emmy. Sie erbrach den Brief hastig und las:

»Irma! Ich kann nicht zu Dir kommen, ich bin aus der Welt geschieden. Heute sind es drei Wochen, daß mein Albrecht durch den Biß eines tollen Hundes sein Leben aufgeben mußte. Auch mein Leben ist aufgegeben für das Diesseits. Ich füge mich in Demut dem unerforschlichen Willen des Höchsten. Ich habe gelobt, den Schleier zu nehmen: ich bin nun hier und verlasse diesen Ort nicht mehr. Komm, sobald Du kannst, zu Deiner

Schwester Euphrosine
im Kloster Frauenwörth.«

Irma gab ihrem Vater den Brief, er las.

»Durch den Biß eines tollen Hundes zwei Menschenleben vernichtet. – Wer will das erklären?« rief Irma.

»Die Religion kann es so wenig wie wir. Sie befiehlt, wie unsre Vernunft, sich dem Naturgesetz zu fügen.«

Der Bote wartete. Irma ging, um eine Antwort zu schreiben. Sie versprach zu kommen.

Eberhard saß unterdessen allein. Er hatte seinem Kinde, seinem gereiften Kinde sein Leben aufgeschlossen – was wird es nützen? Wie oft hat er es selbst erkannt: Keine Lehre, keine noch so hohe, ändert der Menschen Sinn. Nur das Leben, Anschauen, die Erfahrung der Thatsachen an sich und andern, nur das bekehrt. Das ist ja das Elend der Dogmatik, daß sie lehren will, was nur das Leben gibt. Seine Kinder haben sein Leben nicht mit ihm gelebt, und es nützt nichts, ihnen das nun in allen Einzelheiten zu berichten, in seinen Motiven zu erklären; es bleibt fremd, es ist nicht mitgelebt. Es ist schon widersprechend genug, daß der Vater seinem Kinde von sich selbst erzählen muß.

Eberhard gestand sich die Folgen seines Thuns. Er hatte kein Recht auf Kindestreue, wenigstens nicht, wie er sie heischte, denn er hatte sich für sich allein ausgelebt.

Als Irma kam und um Erlaubnis fragte, ihre Freundin Emmy im Kloster aufsuchen zu dürfen, nickte er beistimmend. Er hatte sich gerühmt, daß nichts ihn unterbreche; das konnte er für sich festhalten, für andre nicht. Er hatte dem Kinde seinen ganzen Lebensgang dargelegt – wer weiß, ob nicht diese einzige fremde Thatsache alles aus ihrem Gedächtnisse wegwischt.


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