Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Erster Band
Berthold Auerbach

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Siebentes Kapitel.

»Ich werde dir morgen die Tochter meines alten Freundes zuführen, die Gräfin Wildenort, von der ich dir manchmal erzählte,« sagte der Leibarzt am Abend zu seiner Frau.

»Die Gräfin hat eine Erscheinung und eine Stimme voll Majestät, aber sie singt noch nicht praktisch.«

»So wirst du sie es lehren; sie wird gern von dir lernen.«

»Wenn sie will, ich bin bereit dazu.«

Der Leibarzt war froh, daß diese Anknüpfung sich so leicht und natürlich fügte; er wußte zwar, daß seine Frau ihm in jedem Wunsche willfahrte, aber es sollte hier alles doppelt behutsam von statten gehen.

Schon seit geraumer Zeit hatte er eine fieberhafte Aufregung im Wesen Irmas bemerkt, die sich in den letzten Tagen gesteigert hatte; aber er war auch in seelischer Beziehung ein Arzt, der nicht erst den Ausbruch der Krankheit abwartete, sondern ihm möglichst durch entsprechende Lebensweise vorbeugte. Er kannte den Grund von der Aufgeregtheit Irmas nicht; er glaubte, daß ein Einblick, ja vielleicht ein Eingewöhnen in eine gediegene Häuslichkeit das mit Gewaltsamkeiten spielende Wesen Irmas in ruhiges Geleis überlenken könnte. Er war erfahren genug, um zu wissen, daß sich Sympathie und Freundschaft nicht vermitteln lassen; aber die Erkenntnis einer in Charakter und Bildung gesättigten Bürgersfrau wird eine Wirkung auf Irma nicht verfehlen. Sie hat bisher doch nur Kloster- und Hofleben kennen gelernt.

Gunther hatte nicht nötig, seiner Frau Verhaltungsregeln zu geben, oder auch nur eine Andeutung, wie sie Einfluß auf Irma zu gewinnen suchen solle; er war des Wesens und Wirkens seiner Frau so sicher, als wäre sie eine Naturkraft; je unbefangener und reiner er sie aus sich wirken ließ, um so gewisser war der Erfolg.

Sonst hielt Gunther seine Häuslichkeit streng abgeschieden von aller Hofbeziehung. Hier aber war die Tochter seines Freundes, wenn auch seines erzürnten; ihr öffnete er den Burgfrieden seines Hauses.

Irma hatte vor Wochen nur leichthin ihre Begegnung mit der Frau des Leibarztes und dessen jüngster Tochter beim Tedeum zur Geburt des Kronprinzen erwähnt. Der Arzt war mit einer wie zufälligen Bemerkung wieder darauf zurückgekommen und Irma hatte, fast ohne daß sie es wußte, den Wunsch ausgesprochen, diese flüchtige Bekanntschaft zu pflegen und weiterführen zu dürfen. Das war's, was er gewollt hatte, und am andern Mittag führte er Irma in sein Haus ein. Es war ein schönes, wohlerfülltes Haus.

Die Frau Geheimrätin Gunther war eine geborene Schweizerin aus einer wohlhabenden und gebildeten Bürgerfamilie. Sie sprach das Hochdeutsch noch mit starker alemannischer Betonung, sie zwang sich weder den Dialekt beizubehalten, noch eine gewählte Schriftsprache sich anzueignen; ihr ganzes Wesen war ebenso natürlich frei, wie von Bildung gepflegt, aber weder von der Natürlichkeit noch von der Bildung wurde viel Aufhebens gemacht. Es versteht sich von selbst, daß man im Hause thätig ist, die Dinge des Lebens nach eigenem Sinn und Geschmack beurteilt, und an allem Schönen und Gemeinnützigen teilnimmt.

Vordem war die Frau Geheimrätin eine beliebte Sängerin in Gesellschaftskreisen, besonders aber bei großen Gesangsaufführungen; sie sang einen vollen ausgiebigen Sopran, und wenn sie auch jetzt keine Soli mehr sang, so nahm sie doch mit ihren Töchtern teil an den großen Musikaufführungen; sie war, als frischere Stimmen die Soli übernahmen, ohne Ueberwindung, ja ohne nur ein Wort davon zu reden, in den Chor zurückgetreten. Und so war ihr Leben. Selbständig und thätig im Hause und teilnehmend an allen den Frauen zugänglichen öffentlichen Institutionen. Sie behielt ihr Leben lang ein gutes Erbteil ihrer Heimat: sie hatte keine Nervosität mitgebracht und Gemeinsinn war ihr Pflicht.

Sie erzog ihre Kinder, ordnete ihr Haus, war eine freundliche aufmerksame Wirtin bei den Gesellschaften im Hause, und alles das vollzog sie wie eine selbstverständliche Naturnotwendigkeit.

Sie ehrte ihren Mann, ein Ausspruch von ihm war ihr stets von besonderer Bedeutung, aber sie hielt auch ihr eigenes Urteil fest.

Sie war nun bald zwei Jahrzehnte in der Residenz, aber der ganze Krimskrams des Rangklassenwesens und der Begnadigungen durch die Gunst dieses und jenes blieb ihr vollkommen fremd; sie stand nicht in Opposition dagegen, sie ließ das gewähren für diejenigen, denen es von Geltung ist, ihr aber waren und blieben es völlig gleichgültige Erscheinungen. Daß ihr Mann so hoch in Ehren stand, that ihr wohl, verstand sich ihr aber von selbst; er war ja ein Mann von hoher Bedeutung, und wenn ihm auch die Ehre vor der Welt gefehlt hätte, ihr blieb er der Erste und Würdigste. Das drückte sie in ihrem ganzen Thun und Lassen aus. Nach Hofe zu kommen, hatte sie nie entfernt ein Verlangen gehabt, und daß ihr Mann so oft am Tage und in der Nacht, ja wochenlang außerhalb des Hauses war, nahm sie als Notwendigkeit seines Berufes hin und erschwerte ihm diese Notwendigkeit nicht durch Klagen und Wünsche.

Wenn der Leibarzt heimkam, trat er stets in eine wohlgefügte Häuslichkeit ein, und dadurch gestärkt, wie von einem sicheren Heimatsgrunde aus, ging er dann wieder auf den glatten und unsichern Boden des Hoflebens.

In dieses Haus wurde nun Irma eingeführt. Ihre Erscheinung war voll Pracht und Schönheit und niemand ahnte, wie bettelarm und heimatlos es in ihrer Seele war. Sie hielt den schönen Strauß in der Hand, den der König heute wie immer in ihr Zimmer hatte stellen lassen. Gunther hatte ihr gesagt, daß der Geburtstag seiner Tochter Paula sei, und sie brachte ihr diese Blumen; sie sind so schön, so wohlgeordnet wie die Trägerin, und doch, was haftet daran? Es ist fast Sünde, sie zum Gruße zu verwenden, denn Irma fühlte sich durch diese Blumen gekränkt, aber auch sie sind Münzen, sie können weiter gegeben werden. Als Irma in das Haus eintrat, war es ihr, als ob sie aus dem Marktgewühl, aus unruhigem Treiben und Lärmen der Straße in einen Tempel der Häuslichkeit käme.

Das Haus lag in einer kleinen engen Straße mitten in einem Garten voll schöner hoher Bäume. In einem abgegrenzten Gehege des Hofes war viel munteres Geflügel. Hausflur und Zimmer waren mit Statuetten und Bildern geschmückt, der Hausrat einfach, gediegen; im obern Stock befanden sich Bibliothek-, Empfangs- und Arbeitszimmer des Leibarztes.

Es waren keinerlei Vorbereitungen zum Empfange Irmas getroffen, die Mutter hatte sogar den Töchtern ausdrücklich gesagt, daß sie wegen des Besuches der Gräfin keine besondere Toilette machen sollten. Man ging Irma nicht entgegen, sie wurde durch den Gartensaal geführt, wo auf einem Tische die Blumen und Geschenke für Paula standen, und dort auf der Freitreppe saß Frau Gunther mit ihren Töchtern, sie arbeiteten an einer Weißnäherei; die ältere Tochter, die Frau des Universitätsprofessors Korn, war mit ihrem Kinde da, und die jüngere, Paula, die nun auch in das einundzwanzigste Jahr eingetreten, wie Irma, sah frisch und munter aus, nicht eben schön, aber heiter und wohlgebildet.

Irma wurde freundlich bewillkommt. Gunther zog sich, da seine Sprechstunde war, bald zurück und ließ Irma mit den Frauen allein. Anfangs befremdete es sie, daß sie wiederholt als Tochter des Freundes begrüßt wurde; sie erschien hier nicht, oder doch zunächst nicht in ihrem eigenen, abgesonderten Werte oder gar als beliebteste Hofdame, sie war die Tochter des Grafen Eberhard, die aus einer Gemütsverpflichtung in das Haus aufgenommen wurde. Als man nach dem Befinden ihres Vaters fragte, dankte sie; es war ihr schwer im Herzen, daß sie selbst so wenig davon wußte. Wie ganz anders lebten die Kinder hier!

Die Musik bildete bald einen sich bequem darbietenden Uebergang. Auf dem Klavier lag eine geschriebene Komposition von einem Schwestersohn der Geheimrätin, der in Norddeutschland lebte. Frau Gunther erzählte, daß der junge Mann eigentlich von Fach ein Sprachgelehrter sei, da er aber wahrscheinlich sein Augenlicht verlieren werde und entschiedene musikalische Begabung besitze, sich nunmehr zum Künstler ausbilde.

Irma bat, daß Frau Gunther das Lied singe; diese erwiderte, daß ihre Stimme nicht mehr voll ausreiche, aber für die Stimme der Gräfin sei es wie geschrieben. Sie gab ihr das Blatt, Irma las es durch, die Geheimrätin setzte sich ans Klavier, um zu begleiten, und Irma sang mit klangreicher Stimme. Die Komposition war anmutig, die Anklänge an bekannte Meister aber unverkennbar.

Frau Gunther zeigte nun, was sie gestern ihrem Manne als praktisches Singen bezeichnet hatte; Irma wende ihre Mittel nicht ausgiebig und nachhaltig genug an, und da, wo ein Mangel sei, gab sie ihn zu sehr preis. Die Frau gab ihre Lehren in einfacher, von aller Anmaßlichkeit entfernter Weise, und Irma pries die Töchter glücklich, daß sie ihre Mutter noch singen hören.

»Und hier mein Sohn ist noch mein dankbarstes Publikum,« sagte die Frau, und stellte einen schönen jungen Mann mit vollem braunen Barte vor. Der junge Mann, er war technischer Direktor in einer chemischen Fabrik, brachte noch einen Studenten mit; Freundinnen aus der Nachbarschaft kamen dazu, und es war ein heiteres Leben auf der Terrasse und im Garten.

Irma bemerkte die auf sie gerichteten aufmerksamen Blicke. Es war ihr, als müßten die Menschen wissen, welche Wirrnisse in ihrer Seele lebten; sie vergaß ganz, wie schön sie war.

»Verzeihen Sie, Frau Geheimrätin, wenn ich Sie so ansehe,« sagte Irma plötzlich, »aber ich stümpere etwas in der bildenden Kunst, und wenn ich Form und Schnitt und Farbe Ihres Kopfes ansehe, ist mir's, als hätte ich lebendig das Bild der Holbeinschen Madonna in der Dresdener Galerie vor mir.«

»Das bemerken Sie noch jetzt?« erwiderte die Frau leicht errötend. »Ehedem wurde es mehrmals bemerkt, und es war auch fast das erste, was mein Mann vor nun bald sechsundzwanzig Jahren in Zürich zu mir sagte. Ich stamme allerdings mütterlicherseits aus der Familie des Bürgermeisters Maier, von dem das Bild gestiftet wurde.«

Irma war erfreut von diesen Wahrnehmungen und Rückerinnerungen. Sie sah Frau Gunther immer mit großem Blicke an, und während sie von ihren Kunstbestrebungen sprach und nur wünschte, daß sie schon ein Porträt modellieren könnte – die Frau Geheimrätin müßte ihr sitzen – ging der Gedanke nebenher durch ihre Seele, wie eine altererbte Bildungsgeschichte, eine ganz andre, als die des Adels, durch die Zeiten dahinfließt, und das Beste, was die Menschen hervorgebracht, nicht der Adel, sondern das freie Bürgertum bewirkt hat.

Frau Gunther fragte Irma, ob sie kein Bild ihrer Mutter besitze. Sie verneinte. Irma erzählte, daß ihr Vater ein Bild der Mutter in ihrer schönsten Blütezeit habe malen lassen. Das Bild war mißlungen, es stellte fast eine fremde Person dar, und der Vater ließ das Bild vernichten; er wollte lieber einstweilen gar kein Bild der Mutter haben, als ein falsches.

»Den Mann verehre ich schon um dieser einen That der Wahrhaftigkeit willen,« sagte die Geheimrätin. »Die meisten Menschen begnügen sich mit dem Falschen und sagen: dies und das ist doch zu erkennen, und dann reden sie sich allmählich ein, es sei doch einmal das Wahre gewesen.«

Das Gespräch wendete sich nun darauf, daß Irma ihre Mutter nicht gekannt. Der Blick Irmas schweifte oft auf die beiden Töchter, die so neben ihrer Mutter sitzen konnten.

Die Frau Geheimrätin sagte:

»Ich hoffe, daß ich Sie nicht schmerzlich aufrege durch diese Erinnerung, aber ich halte es für Pflicht, daß man oft und in ruhigem Bedacht seiner Verstorbenen gedenkt; so halte ich es mit meiner seligen Mutter, und so wünsche ich, daß meine Kinder es einst mit mir auch halten.«

Irma faßte die Hand der Frau und drückte sie. Es lag in allem, was sie sprach, etwas gediegen Sättigendes.

Frau Gunther erzählte, wie sie lange Zeit keinen Sinn für bildende Kunst gehabt, und sich doch nichts habe anlügen können; allmählich sei ihr ein Verständnis aufgegangen, aber sie habe es weit mehr für alles, was menschliche Figur ist, als für Landschaften. Das Gespräch nahm fortan leichte und freie Wendungen. Die halbe Stunde, die Irma hatte bleiben wollen – der Wagen war schon lange gemeldet – dehnte sich mehr als um das Doppelte aus. Endlich schied sie, mit aufrichtigen Worten zum Wiederkommen eingeladen.


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