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Im offenen Hofwagen fuhr Irma über die Berge und durch die Thäler. Sie lag tief zurückgelehnt in die Kissen; die Kammerjungfer und der Diener saßen auf dem Hintersitz.
Sie war von der plötzlichen Unglücksbotschaft Emmys wie zerschlagen in allen Gliedern, jetzt im Wagen erhob sich wieder das Kraftgefühl in ihr. Reisen, Wechsel der landschaftlichen Ausblicke, das übte immer eine Zaubermacht auf sie.
Die Erzählung ihres Vaters begleitete sie eine große Strecke Weges mit ihrem Nachklang. Sie hatte ihm mit großer Teilnahme zugehört, aber was er erzählt, hatte doch nur wenig Eindruck auf sie gemacht. Das ist ja alles nicht so schwer und wichtig, wie er es nimmt, sprach es in ihr; es liegt in seiner Individualität, das zum Lebensschicksal werden zu lassen; aber keinem andern wird es dazu. Es war schon genug, daß sie seiner Besonderheit gerecht wurde; eine bestimmte Wirkung auf sie konnte er nicht verlangen. Emmys Schicksal ist ein entsetzliches, hirnverwüstendes, das des Vaters nicht; in seinem großen Lebensschmerz war viel Selbstqual. Der Vater sprach von Ruhe und hatte sie nicht.
Und so fremd stand Irma bei allem kindlichen Willen dem Vater gegenüber, daß der Schmerzensausdruck an seinem Munde, den er bei der Erzählung gehabt, ihr jetzt als Aehnlichkeit mit dem Schmerzensausdruck am Munde Laokoons einfiel.
Irma schüttelte unwillig den Kopf.
Welch ein Chaos ist die Welt!
Ein toller Hund zerstört ein ganzes Leben, und da und dort sitzen vereinsamte Menschen und quälen sich ab, jeder fühlt Mangel, Beschränkung, jeder will etwas und kann es nicht erreichen, und über ewigem Versuchen, Probieren, Messen und Wägen geht das Leben hin. Mitten im Chaos erhebt sich eine einzige Gestalt, frei, schön und groß, lebenssicher und das Leben wahrhaft beherrschend ... Irma wendete sich zurück, als wollte sie sagen: Du bist es leider nicht, mein Vater; du solltest, du könntest es sein; er allein, er, der freie Mensch auf der Höhe des Lebens, der König ist's.
Und wie sie sein gedachte, schwebte ein Lächeln auf ihrem Antlitz; sie schaute frei hinein in den blauen Himmel und wußte nicht mehr, wohin sie fuhr; sie fühlte sich nur wie von weichen Armen fortgetragen über Berg und Thal.
Dort stiegt ein Adler hoch über dem Bergesgipfel, für ihn gibt's keine Grenze. Irma schaute lange dem Fluge des Adlers in der Höhe zu, sie ließ halten. Alles stand still, die Pferde, der Wagen. Der Diener war abgestiegen, um zu fragen, was die Herrin begehre; sie winkte ihm, er möge nur wieder aufsteigen, und so hielt sie still, mitten in der freien Natur, ausgerüstet mit aller Bequemlichkeit des reichen Lebens. Sie schaute lange dem Fluge des Adlers zu, wie er in den Lüften schwamm und schwebte, bis er in den Wolken verschwand.
»Wenn's einmal gestorben sein muß, so möcht' ich sterben! in den Himmel hineinfliegen und dann nicht mehr sein,« sprach es in ihr.
Man fuhr weiter; Irma stieg nicht aus, sie redete auf dem ganzen Wege kein Wort.
»Wir sind am Ziele,« sagte gegen Abend der Lakai.
Es ging bergab nach dem See. Der Wagen hielt am Ufer. Mitten auf einer Insel im See lag das Kloster. Eben läutete das Abendglöcklein über den See; die Sonne stand noch über den Bergen, aber sie warf bereits fast wagrechte Strahlen, die im See wie hin und her schwimmende Lichter flimmerten; der Spiegel des Sees begann sich hellgolden zu färben.
Der Lakai und der Postillon zogen beim Abendläuten den Hut ab und die Kammerjungfer faltete die Hände; auch Irma legte die Hände ineinander, aber sie betete nicht, sie dachte in sich hinein: »Dies Läuten ist schön und anmutig, wenn man's draußen hört und dann wieder heimkehrt in die frohe weite Welt; wem aber dies Glöcklein im Kloster selbst läutet, dem läutet es jeden Tag als einen Todestag zu Grabe, denn dies Leben ist nichts als tägliches Sterben.«
Irma brachte eine fremde Stimmung zur Freundin in das Kloster; sie wollte sich zwingen, eine entsprechende in sich zu erwecken.
Während der Kahn gerüstet wurde, hörte sie den Lakai mit einem schnell hinzugekommenen andern, dessen Gesicht sie vom Hofe her kannte, sprechen.
Sie hörte den Hofbedienten sagen:
»Der gnädige Herr sind schon seit mehreren Tagen hier und warten auf etwas, ich weiß nicht auf was.«
Irma hätte gern gefragt, mit wem der Hofbediente gekommen, aber sie konnte das Wort nicht hervorbringen, ein plötzlicher Schreck durchbebte sie.
Sie stieg mit der Kammerjungfer in den Kahn. Ein alter Schiffer mit seiner Tochter ruderte das steuerlose Fahrzeug. Der See war tief und dunkel. Die Sonne war bereits im Niedersinken und die Schatten der Berge gegen Abend lagen auf den Uferbergen jenseits scharf abgebildet; auf den Firnen lag frischgefallener Schnee und die weißen Häupter setzten sich scharf ab von den bewaldeten Vorbergen und dem klarblauen Himmel. Hier unten war's so still und dämmerig, als schiffte man in die Schattenwelt hinein.
»Ist das Eure Tochter?« fragte Irma den alten Schiffer.
Er nickte froh, da sie den Landesdialekt so gut sprach; sie war in Uebung geblieben durch Walpurga.
»Ja,« erwiderte der Schiffer, »und sie möchte gern zu einer guten Herrschaft in Dienst; sie kann auch gut nähen und –«
»Bleib du bei deinem Vater, das ist das beste,« sagte Irma zu dem Mädchen.
Man fuhr wieder still dahin.
»Wie tief ist hier der See?« fragte Irma.
»Gewiß sechzig Klafter tief.«
Irma streichelte die Wellen, es freute sie, daß die Menschen so leicht und kühn stündlich über den drohenden Tod wegfahren; sie beugte sich etwas über Bord und der Schiffer rief:
»Fräulein, gib acht.«
»Ich kann schwimmen,« entgegnete Irma und wühlte in den Wellen.
»Ja schwimmen,« lachte der Alte, »die meisten Menschen können's, bis es darauf ankommt, dann ist's vorbei, und wenn sie Kleider an sich hängen haben, dann können's gar wenige.«
»Da hast du recht, der bunte Trödel zieht uns hinab.«
Der Alte verstand Irma nicht und schwieg; sie war voll Unruhe und fragte wieder: »Sind schon oft Menschen auf dem See verunglückt?«
»Selten, aber da, wo wir eben fahren, da drunten liegt ein junger Mensch von einundzwanzig Jahren.«
»Wie ist er verunglückt?«
»Sie sagen, er habe einen Rausch gehabt; ich glaub' aber, er hat einen Schatz da drüben im Kloster. Es ist nur gut, daß sie nichts davon erfährt.«
Irma schaute in die Wellen, während der Alte fortfuhr:
»Und drüben am Felsen hat vor fünf Jahren ein Stamm einen Holzknecht gerade von der Wand herunter in den See geschlagen, und da oben bei der Klause ist eine fünfzehnjährige Sennerin unversehens in die Flut gekommen beim Holzsturz, und das Holz hat ihr alle Kleider vom Leibe gerissen gehabt, wie die Leiche unten am See angekommen ist.«
»Erzählt nicht so Schreckliches!« bat die Kammerjungfer den Alten. Irma schaute an den schroffen Bergen hinan und fragte:
»Kann man da hinaufsteigen?«
»Jawohl, beschwerlich; aber überall, wo Bäume sind, können auch Menschen hinsteigen.«
Irma sah in den See, sah in die Berge. Man kann sich verlieren in der Welt, wie wär's, wenn man sich verlöre? sprach es in ihr.
Sie stellte sich aufrecht im Kahn. Der Alte rief:
»Setz dich! Es ist gefährlich, wenn du schwankst.«
»Ich schwanke nicht,« sagte Irma, und sie stand in der That fest auf dem schwankenden Kahn.
Dem Alten ward dies Wesen unheimlich und er fragte:
»Mit Verlaub, das schöne Fräulein will doch nicht auch ins Kloster?«
»Warum? Warum fragt Ihr?«
»Weil's mich dauern möcht'.«
»Warum dauern? Leben die Nonnen nicht schön und friedlich?«
»Freilich wohl, aber das ist ein Leben, in dem nichts vorgeht.«
Wie angerufen setzte sich Irma nieder und stand wieder auf, daß der Kahn schwankte.
Ein Leben, in dem nichts vorgeht – das ist das Wort, ihr wie aus dem innersten Herzen genommen. Ihre volle Jugendkraft sträubte sich gegen dies Wegwerfen des Daseins. Ob man's wie der Vater, mit einsamem Denken, oder, wie die Nonnen, mit gemeinsamen Andachten überwindet: es ist ein Leben, in dem nichts vorgeht. Ist man nicht hier auf die weite Erde gesetzt, um alles sein zu nennen? Komm' Freude, komm' Schmerz, komm' Jubel, komm' Trauer – ich will kein Leben, in dem nichts vorgeht.
Mit diesen Worten im Gemüte sprang sie ans Land, hörte sie den Schiffer den Kahn an die Kette legen und ging dann die alte Lindenallee nach dem Kloster.
Sie fragte nach der Schwester Euphrosine. Alle Nonnen waren in der Kirche zur Abendmette. Irma ging auch in die Kirche. Hier brannte nur das ewige Licht; der Gottesdienst war beendet, aber noch lagen die Schwestern alle knieend am Boden; endlich richteten sie sich auf, gespenstische Gestalten aus chaotischem Dunkel.
Irma ging in das Sprechzimmer zurück, aber die Pförtnerin sagte ihr, daß sie Emmy heute nicht mehr sprechen könne, es sei nicht gestattet, daß eine der Schwestern nach dem Abendgottesdienst noch eine Nachricht vernehme und mit irgend jemand ein Wort rede. Irma erhielt indes Herberge im Kloster.
Es war eine milde Septembernacht, Irma saß noch lange tief in ihren Plaid gehüllt, draußen an der Fähre. Sie wußte nicht mehr, was sie dachte, so ins Schrankenlose hinein schweifte ihre Seele; nur manchmal klang es ihr wie aus den Lüften: »Ein Leben, in dem nichts vorgeht.«
Der Morgen kam. Nach der Frühmette war es Irma gestattet, ihre Freundin zu besuchen. Sie erschrak, als sie Emmy sah, und es war doch noch das schöne milde Antlitz, nur grausam entstellt durch die enganliegende Kapuze, die das Haar ganz verdeckte und das Antlitz wie gewaltsam herauspreßte.
Nach den ersten Ausbrüchen des Schmerzes und Mitgefühls, nach dem näheren Bericht von dem grausamen Geschick Emmys sagte diese endlich, da Irma sie immer wieder aufs neue ans Herz drückte:
»Deine Umarmungen sind so stürmisch! Ich weiß, du wirst nie Demut lernen, du kannst das nicht, du bist von andrer Art; aber Gleichmut solltest du lernen. Du, Irma könntest nie ins Kloster gehen und du sollst nicht, du würdest dich hinaussehnen in die Welt. Du mußt die Gattin eines braven Mannes werden. Glaube aber nie, daß dein Ideal sich verwirklicht. Unser Dasein ist Stückwerk und voll Elend, es soll kein schönes und volles werden hienieden. Aber, Irma, hüte dich, an einer Schranke zu rütteln oder gar sie zu überschreiten! Weiche zurück, da du noch diesseits stehst.«
Emmy nannte den Namen des Königs nicht. Die Freundinnen saßen lange still.
Irma war's, als müßte sie ersticken in dieser Umgebung.
Emmy sprach von dem, was erst seit Wochen geschehen, als wären schon Jahrzehnte darüber hingeflossen; sie erklärte der Freundin, welch eine Kraft in andauernden Andachten liege; wie sie die Stunden ausspannen und zu Jahren werden voll beseligender Weltüberwindung.
Sie pries das Glück, daß es schon auf Erden möglich sei, den eigenen Namen und alle Erinnerung abzuthun und ein Dasein zu gewinnen, das ohne einen jähen Schritt gleichmäßig hinüberleite in die ewige Seligkeit. Nur klagte Emmy der Freundin, welch eine Tyrannei es sei, daß ihr nicht gestattet sein solle, Profeß zu thun; sie dürfe nur als dienende Schwester ohne Gelübde sich hier aufhalten.
»Das ist ja das Rechte, daß du es nicht sollst!« rief Irma. »Ich vermute, Bronnen liebt dich, aber er ist ein Mann, der die gegebenen Thatsachen respektiert; seine sittliche Strenge duldet nicht, einer verlobten Braut ein wärmeres Gefühl zu widmen oder nur in sich aufkommen zu lassen. Er ist deiner würdig. Ich bin weit entfernt, dir zu sagen, daß du jetzt, sofort – wie könntest du das? wie würde er es wagen? Aber du solltest dir das Leben offen erhalten und nach einem Jahr oder später, so lange kannst du ja im Kloster bleiben, mit dem im eigentlichen Sinn des Wortes rechtschaffenen Mann, wenn auch kein schwärmerisches doch ein schönes und gutes Leben führen. Ich will dir jetzt nur sagen: du sollst deine zukünftige Stimmung, dein späteres Thun und Wollen nicht enterben! Kein Mensch soll ein Gelübde ablegen, das ihn auf lebenslang bindet, und ihn morgen mundtot, zum Sklaven, zum Lügner, zum Heuchler und Betrüger vor sich selbst macht!«
»Irma!« rief Emmy, »was redest du für böse Worte! Ist das die Hofsprache? O verzeih, daß ich so spreche; es ist die alte Emmy, die das that, nicht ich; verzeih, ich bitte dich, verzeih mir!«
Sie warf sich vor Irma auf die Kniee.
»Steh doch auf,« bat Irma, »ich habe dir nichts zu verzeihen; ich will ruhiger sprechen. Sieh, liebe Emmy, es ist ein Glück für dich, daß du kein Gelübde ablegen darfst. Ein furchtbarer Schlag hat dich getroffen, du liegst am Boden; aber wenn du frei bleibst, der dumpfe Druck sich löst und du dich in der Stille ausheilst, dann sollst du ins Leben zurückkehren können, wenn es dich ruft; eine Zufluchtsstätte, keinen Kerker sollst du hier haben.«
»Ja,« lächelte Emmy, »du mußt so denken, du; aber ich – ich will die Welt nicht mehr sehen, aus der mein Leben geschwunden. Du kannst nicht verstehen, was das heißt: auf Erden nur Braut sein und erst im Himmel die ewige Hochzeit feiern. Ich habe Gott gebeten, mir mein eigenes Herz zu nehmen, jedes Gelüste für mich – er hat mich erhört. Es ist Tyrannei, wenn Menschen den andern ihre Sinnesweise aufdrängen wollen; ich weiß, das willst du nicht. Denkst du noch, Irma, als wir zum erstenmal die Geschichte des Odysseus lasen, wie er sich an den Mast binden ließ, um den Gesang der Sirenen zu hören und ihm doch nicht folgen zu können – weißt du noch, was du damals sagtest?«
»Der vielgepriesene Odysseus,« sagtest du, »ist ein Schwächling und kein Held. Ein Held muß sich nicht äußerlich binden lassen, er muß durch innere Kraft allem widerstehen.« Damals schon fühlte ich, wie gewaltig du bist. Und Odysseus war ein Heide und hatte kein ewiges Gesetz. Ich freue mich des ewigen Gesetzes. Ich klammere mich an diesen Fels; ich will die Fessel, die göttliche, die ewige Fessel; sie soll mich halten, wenn ich sinke, ich will nicht mehr in die Welt zurückkehren können. Ich will mich binden. Und darf es Menschen geben, die sich die Freien nennen, und andern Menschen verbieten, ihren Weg der Vollendung, des wahren ewigen Lebens zu wandeln? Ist das nicht tyrannisch, traurig und gottlos?«
»Ja, das ist's. Aber wer verbietet dir's denn?«
»Das Staatsgesetz. Es befiehlt, daß das Kloster aussterbe, es darf keine jungen Nonnen mehr aufnehmen.«
»Das befiehlt das Staatsgesetz?«
»Ja.«
»Das darf der König nicht dulden.«
Irma rief das so laut, daß es von der Wölbung der Zelle wiederhallte.
Emmy sah mit gespanntem Blick in das Antlitz Irmas. Wenn Irma das bewirken könnte!
Die beiden Jungfrauen hatten nicht Zeit, ein Wort hierüber zu wechseln. Sie wurden zur Aebtissin gerufen.
Als hätte die Aebtissin die letzten Worte Irmas gehört, fing sie sofort in mildem Tone, aber mit scharfer Entschiedenheit zu sprechen an, sie beklage die Tyrannei der Freigeister – sie verdamme die Urheber nicht, sie bete für sie – aber es sei doch himmelschreiend, daß uralte heilige Institute vernichtet und auf den Aussterbeetat gesetzt werden sollten.
Irmas Antlitz flammte. Sie sagte wieder, daß das Gesetz aufgehoben werden müsse; sie wolle ihren Einfluß verwenden, daß es geschehe. Sie erbot sich sofort an den König zu schreiben; die Aebtissin nahm es willfährig an, und Irma schrieb:
»Majestät!
Ich schreibe Ihnen aus dem Kloster. Ich bin aber keine Nonne. Ich glaube, ich habe kein Talent dazu. Aber was sind das für Staatsgesetze, die einer Jungfrau verwehren, das ewige Gelübde abzulegen? Ist das Freiheit? Ist das Gerechtigkeit? Oder was ist es denn? Entschuldigen Majestät meine Aufregung! Ich schreibe mit Klostertinte auf Klosterpapier und es ist nicht zum erstenmal, daß mit solcher Tinte und auf solches Papier für die Freiheit geschrieben wird, für die echte, große.
Ist es möglich? Dürfen die einen den andern verbieten, ihr Leben in gemeinsamer Einsamkeit zu verbringen?
Die Quacksalber aller Art können kein Leben, kein positives Glück schaffen, aber dürfen sie wehren, daß sich das Unglück heile?
Der große Sinn Eurer Majestät darf solche Barbarei nicht dulden. Es ist Barbarei, wenn auch mit Kulturschminke übertüncht.
Majestät, ich sehe, daß ich noch immer nicht deutlich spreche. Ich will mich zwingen, daß ich's thue.
Ich bin hier im Kloster.
Meine Freundin Emmy, meine einzige geliebte Freundin – ich glaube, ich habe Euer Majestät von ihr gesprochen – will den Schleier nehmen, Sie hat in ihrer Weise recht. Die Hunde werden ja doch toll, wenn man auch Hundesteuer für sie zahlt. Ein toller Hund hat ihren Bräutigam getötet, und sie will dem Leben entsagen. Wer darf das verhindern? Und doch soll dieses Kloster, wie das Staatsgesetz befiehlt, aussterben, keine neuen Nonnen mehr aufnehmen.
Majestät! Das dürfen Sie nicht dulden! Sie haben den großen historischen Blick, Ihr Leben ist Nationalgeschichte. Sie müssen die Tagdiener lehren, größer zu sein. Sie müssen das Gesetz aufheben. Sie müssen!
Verzeihen Euer Majestät diese Sprache, aber ich kann nicht anders. Ich fühle mich als Ihr Anwalt. Ich fühle Ihren hohen Sinn beleidigt durch diese Kleinlichkeit.
Ich hoffe, Euer Majestät bald wieder zu sehen, und grüße
Ehrerbietigst
Irma von Wildenort.«
Irma schloß den Brief und legte ungesehen den vierblätterigen Klee, den sie noch bei sich trug, in den Brief.
Mit einem stolzen Gefühl fuhr Irma im Kahne zurück nach dem jenseitigen Ufer. Sie glaubte, eine schöne höhere Freiheitsthat vollbracht und wenn auch noch nicht vollbracht, doch angeregt zu haben, und sie muß zu Ende geführt werden.
Der alte Fährmann war glücklich, als er sie sah. Er sprach nichts, er griff nur tapfer die Ruder an; er lächelte vor sich hin, als hätte er das Glück, eine junge Seele aus dem Schattenreich zu entführen.
In der Ferne fuhr ein Kahn, ein Mann stand darin in grünem Jagdkleide; er schwang den Hut und winkte.
Die Kammerjungfer machte Irma, die in sich versunken in den See schaute, aufmerksam.
Irma erschrak.
Ist das nicht der König?
Der Jäger, der sich noch nicht bemerkt glaubte, schoß seine Flinte ab; der Schuß tönte in vielfältigem Echo von den Bergen zurück. Jetzt schwang der Jäger wiederum den Hut. In zitternder Hand hielt Irma das weiße Tuch und winkte zum Zeichen, daß sie ihn gesehen.
Der Kahn mit dem Jäger kam näher. Ein schnell wechselnder Ausdruck von Freude und Enttäuschung flog über das Antlitz Irmas.
Es war nicht der König. Der Baron Schöning grüßte sie.
Er sprang zu ihr in den Kahn, küßte ihre zitternde Hand und sagte, wie er sich freue, sie hier zu treffen.
Man stieg ans Land. Der Baron bot Irma den Arm und sie gingen miteinander dem Ufer entlang; die Kammerjungfer ging voraus. In der Ferne sah Irma den Lakai stehen, der gestern mit dem ihrigen gesprochen. Hatte der Diener nicht gesagt, daß sein Herr schon lange auf etwas warte? Hatte nicht Baron Schöning ihr schon früher offenbar Aufmerksamkeit erwiesen? Es klärte sich bald auf; der Baron begann:
»Hier sind wir allein, nur im Angesicht der Berge, des Sees und des Himmels. Teure Gräfin, darf ich ein Wort sprechen, das ich Ihnen schon lange aus treuester Seele zu sagen habe?«
Sie nickte still.
»Nun denn, so lassen Sie mich Ihnen sagen, daß Sie am Hofe nicht an der rechten Stelle sind,«
»Ich bin auch noch nicht entschieden, ob ich wieder dahin zurückkehre. Aber warum glauben Sie mich dort an der unrechten Stelle?«
»Weil etwas in Ihnen ist, das Sie nie am Hofe heimisch werden läßt. Es wundert Sie, daß ich das sage, ich, der Lustigmacher des Hofes, der Salontiroler? Ich weiß, daß ich den Titel habe. Und doch, Gräfin, man glaubt dort mit mir zu spielen und ich spiele mit ihnen. Sie, Gräfin, werden nie am Hofe heimisch. Sie nehmen die Bräuche und das ganze Leben nicht als feststehend und gegeben, Sie übersetzen sich's in Ihre Eigentümlichkeit. Ihr Gemüt ist nicht zu uniformieren, Ihre Seele spricht im tiefsten Innern einen Dialekt, den Dialekt Ihrer seelischen Heimat, und wenn etwas davon in der Livreewelt kund wird, findet man es – ich weiß das ja am besten – überaus originell, aber fremd, sehr fremd sind und bleiben Sie sich und den übrigen dort ewig.«
»Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so in meiner Seele forschen. Aber ich danke Ihnen.«
»Ich forsche nicht in Ihrer Seele, ich lebe in ihr. O Gräfin, o du kindliches und weltumfassendes Herz, zittre nicht, laß mich – lassen Sie mich diese Hand fassen und Ihnen sagen: Auch ich bin ein Fremdling dort und bin entschlossen, mich zurückzuziehen, und da drüben auf meinem bescheidenen väterlichen Besitztum mein Leben für mich zu leben. Irma, willst du mich millionenfach himmlisch leben lassen? Willst du mein Weib sein?«
Irma konnte lange nicht zu Worte kommen, endlich sagte sie:
»Mein Freund, ja mein Freund. Da drüben auf der Insel lebt mir eine Freundin und ist für sich und für mich tot; das Schicksal meint es gut und gibt mir einen Freund dafür. Mein Freund, ich danke Ihnen – aber ... ich bin verwirrt im Augenblick, vielleicht tiefer ... Sehen Sie, lieber Baron, sehen Sie dort oben auf halber Höhe des Berges die kleine Hütte? Dort könnte ich leben, meinen Kohl begießen, meine Ziege melken, Hanf pflanzen und meine Kleider spinnen, und könnte glücklich sein, nichts wollend, von der Welt vergessen, und die Welt vergessend.«
»Sie scherzen, liebe Gräfin. Sie phantasieren sich eine Idylle. Das schillert eine Weile und verblaßt dann.«
»Ich scherze nicht. Einsam, für mein täglich Brot arbeitend, könnte ich leben; aber auf einem Schlosse als Herrin mit all den Siebensachen, mit all dem Trödel der Bildungswelt – da nicht! Sich ankleiden, bloß um sich selbst im Spiegel zu sehen, das will ich nicht. Da droben in der Hütte wollte ich ohne Spiegel leben, ich brauche mich nicht zu sehen, und niemand braucht es. Soll ich aber in der Welt leben, muß ich ganz in der Welt leben, im herrschenden Mittelpunkt, in der großen Stadt, auf Reisen; ich muß alles haben oder alles entbehren, nur das eine oder das andre kann mich glücklich machen, kein Mittelding, keine Halbheit!«
Irma sprach so entschieden, daß der Baron sah, wie ernst es ihr war, das war mehr als Laune und Spiel.
»Entweder,« fuhr sie fort, »ich unterwerfe mich der Welt, oder ich unterwerfe sie mir, indem ich sie verachte. Entweder ich frage nichts danach, wie die Menschen mich ansehen, oder ich will gar keinem Blicke begegnen, auch meinem eigenen nicht.«
Der Baron war still, er suchte offenbar nach Worten. Endlich sagte er:
»Ich wäre gern in das Haus Ihres Herrn Vaters gekommen, aber ich weiß, er liebt Menschen meines Standes nicht. Ich wartete hier auf Sie, ich wußte, daß Sie zu Ihrer Freundin kommen würden; sagen Sie mir nur noch: Wollen Sie wieder an den Hof zurückkehren?«
»Ja,« sagte Irma, und in diesem Augenblicke stand zum erstenmal ihr Entschluß fest. »Ich wäre undankbar, wenn ich es nicht thäte. Ich wäre undankbar gegen die Königin und gegen – den König und die Freunde alle. O, mein Freund, ich bin noch nicht reif dazu, ein Leben zu führen, in dem nichts vorgeht. Ich fühle es!«
Die beiden langten bei einer Bank am erhöhten Ufer an.
»Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?« fragte Irma den Baron. Sie setzten sich.
»Wann sind Sie aus der Residenz abgereist?«
»Vor fünf Tagen.«
»Und ist alles noch im alten Stande?«
»Leider nicht alles. Der Leibarzt hat einen harten Verlust erlitten, sein Schwiegersohn, der Universitätsprofessor Korn, ist plötzlich an Leichengift gestorben.«
»An Leichengift?« nahm Irma auf, »wir sterben alle an Leichengift, nur nicht so plötzlich. Die da drüben auf der Insel und wir – alle, alle.«
»Sie sind sehr bitter.«
»Durchaus nicht. Mir geht nur das Seltsamste durch den Kopf. Ich habe da drüben ein großes Gesetz kennen gelernt.«
»Das Gesetz der Entsagung?«
»O nein, die Berechtigung der Mode.«
»Sie spotten.«
»Keineswegs. Sehen Sie, die Mode ist das Dokument der menschlichen Freiheit, das Modejournal der höchste Vorzug des Menschen.«
»Das ist barock.«
»Durchaus nicht, sondern simple Wahrheit. Sehen Sie, der Mensch ist ein um so höherer Kulturmensch, je öfter er die Kleider wechselt in Stoff, Schnitt und Farbe. Nur die Menschen kleiden sich immer neu, immer anders. Der Baum behält seine Rinde, das Tier seine Haut, und die Volkstracht wie die geistliche Tracht, weil sie stereotyp sind, sind untermenschlich, sind eine Borniertheit.«
Der Baron sah mit einem seltsamen Blicke auf Irma. Er war innerlich froh, daß sie ihm offenherzig einen Korb gegeben; das wäre doch ein Wesen, dem er nicht genügen könnte, eine unsäglich anstrengende Frau, die eine ewige Feuerwerkerei des Geistes heischt. Und sie gefällt sich in ihrer Bizarrerie. Plötzlich sah er alle Schattenseiten Irmas, während er noch vor einer Stunde nicht nur ihre Lichtseiten allein, sondern lauter Licht in ihr gesehen hatte. Wie ist es nur möglich, nach dem Besuch einer Freundin, die den Schleier nehmen will, und nach einem Heiratsantrag gleich darauf in solche Bizarrerien zu verfallen?
Baron Schöning erzählte noch, daß er Walpurga und den Prinzen habe photographieren lassen.
»Ach, Walpurga« – sagte Irma, es ging ihr etwas durch den Kopf.
Der Baron verabschiedete sich sehr freundlich und fuhr über den See zurück.
Irma schlug den Weg heimwärts ein. Sie fragte nach dem Weg über das Gebirge zum jenseitigen See; sie wollte die Angehörigen der Walpurga besuchen. Man sagte ihr, daß eine Kutsche da nicht fortkäme, man könne dahin nur zu Pferde gelangen.
Irma fuhr geradeswegs zurück zu ihrem Vater.